Dagmar
Als er aus dem Bus stieg, war es dunkel geworden. Er hoerte seine
Schritte auf dem Asphalt und wunderte sich, warum nicht mehr Menschen
den schoenen Abend fuer einen Spaziergang nutzten.
In vielen Wohnungen brannte noch Licht, in anderen lief nur der
Fernseher und verbreitete graeuliches Leuchten, einige lagen im
Schatten. In der Elbgasse war die einzige Laterne ausgefallen.
Das stoerte aber nicht weiter, er kannte den Weg, er war gleich
hier zuhause. Zuerst links die Wand, riesig, fensterlos, rechts
der eingezaeunte Kundenparkplatz des Elektroladens, dahinter der
Studienrat, auch bei denen kein Licht, und dann links das Buschwerk,
das schon zum Uferpark gehoerte und im Sommer weit in die schmale
Gasse hineinwucherte. Im Moment sah man nichts davon, nur
finsterdunkle Schwaerze, aus welcher Stimmen vorquollen.
"Komm, zier dich nich so", sagte die eine. "Wir haben uns eben
so nett unterhalten."
"Und jetzt wollen wir uns noch netter unterhalten", setzte eine
andere froehlich hinzu. "Komm her, ich zeig dir, wie's geht."
"Bitte lass mich", sagte eine weibliche Stimme leise. "Fass mich
nicht an."
"Ach komm, lass mich nur machen, du kennst mich doch, hab ich dir je
was boeses getan? Du hast so schoen grosse Moepse, da kann ich nich
widerstehen."
"Nein, lass das, hoer auf damit. Oh bitte lasst mich doch zufrieden.
Henning, ich will nicht, dass du mir den Rock runterziehst." Die
Maenner kicherten, der Protest schien sie nicht zu beeindrucken.
Die Stimmen kamen definitiv aus dem Dickicht, dachte er,
wahrscheinlich hatten sie die Frau da rein gedraengt.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er sich einmischte, riskierte
er, von irgendzwei Kerlen verdroschen zu werden. Er konnte hoechstens
so tun, als ob er nicht wuesste, was gespielt wurde, sich einfach bloed
stellen, und den Naiv-Neugierigen vorkehren, falls er angegriffen
wurde. Erst mal laut raeuspern, vielleicht half das ja schon.
Natuerlich half es nicht, ihre Aktivitaeten waren zu
weit fortgeschritten, um von zaghaften Hoeflichkeiten sich
stoeren lassen. Fast haette seine Feigheit den Ausschlag
gegeben, vielleicht war das Maedchen gar nicht so abgeneigt, wie
es den Anschein hatte und beschwerte sich hinnterher ueber die
Stoerung. Ploetzlich aber meinte er ein ersticktes Wimmern
wahrzunehmen, wahrscheinlich hielten sie ihr
den Mund zu oder drueckten ihr gar die Kehle ab.
"Hallo wer ist da?" fragte er in die Dunkelheit hinein; und
noch einmal: "Ist da jemand?" Dann klapperte er vernehmlich mit
dem Schuhwerk auf den Steinen und liess nicht eher nach bis ...
"Ach Mensch verdammt", kam es endlich aus dem Gebuesch, "hier wird
einem auch jeder Spass verdorben. Komm Karl, lass die Alte, die hat
sowieso keinen Bock", und eh er sichs versah, wurde er zielsicher zur
Seite gestossen und zwei dunkle Gestalten hasteten an ihm vorueber.
Er wartete einen Moment. "Hallo, sind Sie noch da", fragte er dann
behutsam. Verschiedene undefinierbare Geraeusche gaben ihm sogleich
Antwort, ein Scharren, ein Rascheln, Aechzen und Seufzen, ein Klopfen
und Kleiderstreichen, dass er sie schon fuer verletzt hielt.
Da hoerte er atmen, sie stand direkt vor ihm, er vermutete
jedenfalls, dass sie es war, und keiner von den Aufdringlingen, denn
er roch billiges Parfum, und eine wehleidige Stimme sagte: "Bitte
entschuldigen Sie ... ich weiss auch nicht, warum mir dauernd sowas
passiert."
"Sind Sie verletzt", fragte er, "nein, nein, mir gehts gut",
beruhigte sie ihn, und er wusste nicht, was er sagen sollte, ausser
ihr anzubieten, mit reinzukommen, aber dessen enthielt er sich
wohlweisslich, das waere kein guter Vorschlag nach einer
solchen Begebenheit.
Sie merkte, wie nah sie beianderanderstanden. Sie wich zurueck,
bedankte sich noch einmal und floh auf die lachsfarben
beleuchtete Elbchaussee zu; Richard lief hinterher, er wollte
doch wissen, wen er gerettet hatte.
Sie blieb an der Ecke stehen und klopfte Staub und Erde aus den
Kleidern. Sie war ganz bleich im Gesicht.
"Fehlt Ihnen wirklich nichts?" wiederholte er, und da erkannte er sie,
man sah sie oefter durch die Strassen hinken, sie musste hier auch
irgendwo wohnen.
Sie war ihm aufgefallen, wie einem manche Frauen eben auffallen, die
Tischnachbarin in der Mensa, die mit paar Popperfreunden schaekerte,
die junge Tuerkin, die mit ihren Eltern ein Stockwerk ueber Martin
wohnte, und ihm dort im Hausflur oefter ueber den Weg lief und immer
leidenschaftlich zulaechelte, auch wenn die Verwandtschaft
laengst definitiv und unwiderruflich einen Heiratskandidaten
ausgesucht hatte, mit dem sie zufrieden sein wuerde bis ans Ende
der Tage - auch Dagmar war ihm aufgefallen, mehr durch ihre Figur
als durch ihre Behinderung oder das einfaeltig-derbe Dutzendgesicht,
mit dem sie sich unsicher der Wirklichkeit stellte.
"So verdreckt kann ich nicht nach Hause gehen", sagte sie
ueberraschend freimuetig.
"Soll ich Sie heimbringen", fragte er. Sie musste doch Angst haben,
dass die Kerle zurueckkamen, sobald er sie alleinliess; und vielleicht
war das auch so, ausschliessen konnte man es nicht, wahrscheinlich
lungerten sie noch irgendwo hier herum.
Aber "nein, nein", wehrte sie ab, "nicht noetig". Sie wollte ihm auf
keinen Fall zur Last fallen, gerade ihm nicht, daran lag ihr
unsagbar viel, schlimm genug, ihm in so einer Situation zu
begegnen.
Ausserdem brauchte sie Zeit, wieder zu sich zu kommen und zu
ueberlegen, was sie den Eltern erzaehlte, wenn sie so gerupft
nach Haus kam. Vielleicht konnte sie ins Schlafzimmer
entwischen und sich umziehen, bevor sie was spitzkriegten ...
Im Moment fuehlte sie sich zu nichts in der Lage, das Ganze hatte sie
doch ziemlich mitgenommen. Als Henning und sein Freund von ihr
abliessen, war sie zuerst einfach nur froh, aber jetzt kam die
Panik richtig hoch. Gut, niemand hatte sie umbringen wollen, doch
zwei solchen Typen voellig ausgeliefert zu sein, war auch
nicht so toll. Sie brauchte jetzt unbedingt ihre Ruhe.
Zuhause wuerde sie Keine haben, das war mal sicher, die Wohnung war
klein, in Kueche und Schlafzimmer konnte man sich kaum umdrehen, und
in der Stube wurde gegessen und fernsehgeguckt, und wenn der Alte
wieder mal einen Austicker hatte, wusste man ueberhaupt nicht wohin,
da verdrueckte man sich lieber nach draussen.
Er fragte sich, was in ihr vorging. Von der Blaesse abgesehen, schien
sie das Ganze gut ueberstanden zu haben. Er haette gern
nachgeforscht, wer die beiden Kerle waren, wie gut sie sie kannte, und
ob sie oefter so aufdringlich wurden, doch er spuerte, dass sie
darueber auf keinen Fall reden wollte, die Beiden anzuzeigen, zog sie
offenbar nicht in Betracht.
"Ja also dann", sagte er schliesslich, "auf Wiedersehen".
"Tschuess", sagte sie schnell, viel zu sehr mit sich selbst
beschaeftigt, um ihn noch zu beachten.
Als er das Haus erreichte, ging im Flur das Licht an und Birgitta
stuerzte aufgebracht an ihm vorbei. (Zwei Stunden sinnloser Knatsch
mit Doug, und jetzt kam sie auch noch zu spaet.) Als er die Kueche
betrat, sass Doug wie meditierend auf dem
Stuhl bei der Spuele und nur ein wahrhaft genialer Beobachter haette
aus dem Funkeln seiner Augen und dem Ton der Begruessung einen
drohenden Wutanfall herausgelesen. Richard warf seine Jacke
schwungvoll auf den Ofen und dachte "erst mal Abendbrot essen", er
liess sich weder von brenzligen Abenteuern noch von geistesabwesend
vor sich hinstarrenden Schwarzen den Appetit verderben. Trotzdem war
er froh, als der Andere unvermittelt aufstand, er wusste nie, worueber
er sich mit ihm unterhalten sollte, und heute schien er besonders
verschlossen, nachgerade hysterisch.
Er langte ordentlich zu und kam in Gedanken immer wieder auf die Szene
im Dunkeln zurueck. Was, wenn er nicht zur rechten Zeit vorbeigekommen
waere?, ob sie das Maedchen tatsaechlich vergewaltigt haetten?, oder waere
das Schieben und Grapschen an einem bestimmten Punkt zum Halten
gekommen, wenn sie gemerkt haetten, dass sie bei ihr absolut nicht
landen konnten? Im Nachhinein glaubte er, die Beiden waren betrunken,
doch daraus liess sich nichts schliessen, manche wurden erst
richtig gefaehrlich, wenn sie gesoffen hatten.
Etwas spaeter haette Birgitta sowieso Licht gemacht, vielleicht waeren
sie davon vertrieben worden, aber sicher war das nicht, sie hatten die
Kleine ja schon ziemlich ruhig gestellt und brauchten nur
abzuwarten, bis die Lampe wieder ausging.
Eigentlich mussten solche Leute belangt werden. Wenn man sie laufen
liess, wuerden sie bei naechster Gelegenheit mit einer
Anderen weitermachen.
Er hatte Schwierigkeiten sich vorzustellen, wie man mit einer Frau
gegen ihren Willen schlafen konnte (oder wollte), allein schon sie
ueber einen gewissen Punkt hinaus anzubaggern, wo man merkte, die hat
null Interesse, war nicht sein Fall. War wohl n anderer Typ Mann, anders
gepolt als er, schwierig zu sagen, obs an den Genen lag oder soziale
Ursachen hatte, er wusste, er waere niemals so vorgegangen. Trotzdem
erregte ihn die Vorstellung, wie jemand speziell mit dieser Dagmar
bumste ...
Nach dem Essen schlenderte er durchs Haus. In Veras Zimmer brannte
Licht. Gute Gelegenheit sich abzulenken, dachte er.
"Hallo."
"Oh Hallo."
Sie war gerade heimgekommen, und er erwartete halb, von ihr
hinauskomplimentiert zu werden, weil sie wie ueblich irgendwas
vorhatte, und tatsaechlich blickte sie bald auf die Uhr, und er sah
ihr an, sie ueberlegte, sie war unruhig, wie sie den Rest des Abends
verbringen sollte, sie erwog aufs Geratewohl noch einmal loszuziehen,
aber dann wuerde's wieder so spaet werden, sie war keine 20 mehr,
wo man straflos die Naechte durchmachte.
Er schlug vor, Luft schnappen zu gehen, kein schlechter Rat,
ihre Unruhe zu daempfen. Und auch seine; obwohl alles glimpflich
abgegangen war, hatten die Erlebnisse seine Stimmung gedrueckt, und
gehoben zugleich, ein seltsamer Zustand; er wusste, er wuerde schlecht
schlafen, ausser wenn er noch rausging, um von Groesse und Erhabenheit
des Flusses sich troesten zu lassen, selbst in der Dunkelheit war das
Elbufer von schuldloser unvergaenglicher Schoenheit, nicht alles
Schoene in der Natur war schuldlos, ein ruhigfliessender Strom aber
gewiss.
Nachdem sie zuerst zoegerte, und er zweimal nachfragen musste und sie
es sich zwischendurch zweimal fast ueberlegte, stand er mit ihr
vor der Haustuer, und sie schlenderten den Hang hinunter und
wieder hinauf, bis sie sich auf einem Felsvorsprung oder Findling
niederliessen.
Windstill wars, wie sonst in Jahren nicht, kein Lufthauch zu spueren,
eine Ahnung von Sommer lag in der Luft, und weit hinten, ueber dem
Fluss, mischte sich das kuenstliche Licht der Raffinerien und Docks
mit dem letzten Schimmer gleissender Helligkeit im Westen, wo sich
die Elbe unerkannt in die Nordsee verlor.
An sich waren das ideale Voraussetzungen fuer eine trauliche
Annaeherung, und er haette jetzt den Arm um sie legen oder es
wenigstens versuchen koennen, um in den Genuss intimer Zweisamkeit
zu kommen, doch er verzichtete, er war nicht aufgelegt fuer solche
Avancen, und haette sich damit ausserdem nur blamiert, und die
Stimmung waere hinueber.
Schnell taute sie auf und erzaehlte von alten Zeiten, von
ausgedehnten Reisen in laengst
vergangenen Sommern und durch Landschaften, in denen er noch nie
gewesen war.
"Als ich juenger war, bin ich viel herumgekommen", sagte sie
melancholisch. "Mit vierzehn war ich das erste Mal in Italien, dann
in Griechenland, Jugoslawien und Spanien, und fast ein ganzes Jahr
in Indien, aber irgendwann, als ich aelter wurde, hab ich gemerkt,
das ist nichts mehr, das Herumreisen; ich wollte sesshaft werden."
Frueher hat nur der Krieg die Leute so zerstreut, dachte
er; und auch nur die Maenner, die Frauen sind wartend zuhause
geblieben.
"Die erste Fahrt nach Italien, das haettest du erleben sollen! Ich
war mit zwei Freundinnen unterwegs, und wir haben richtig einen
draufgemacht, tagsueber in der Sonne am Strand und nachts in der
Disco, und manchmal die Staedte durchschlendert, wie stinknormale
Touristen. Strassen, Plaetze und Gebaeude sind dort nach lokalen
Beruehmtheiten benannt, deren Namen uns Deutschen
voellig unbekannt sind, und
dadurch kriegt alles so ein fremdartiges Flair, als ob man in einem
ganz anderen, sonnenbeherrschten Kosmos
sich aufhielte", schwaermte
sie und wenn es nicht zu dunkel gewesen waere, haette er sehen
koennen, dass sie laechelte.
"Wenn man jung ist, nimmt man alles viel intensiver wahr! - Und
dann: Ich wollte nur mal verreisen, aber meine Eltern haben das
gleich als Abhauen aufgefasst und mich suchen lassen, Polizei und
so, erst als ich zurueckkam, waren sie bereit, mir mehr Freiheit zu
geben. Ich durfte weggehen sooft und lange ich wollte, waehrend
sie mich vorher bis zum geht nicht mehr gegaengelt haben.
Ich bin dann mit 18 ausgezogen und und richtig lange verreist,
ueberall hin. Fast 5 Jahre war ich nur im Ausland.
Aber dann, mit 24, 25, hatte ich ploetzlich keine Lust mehr, so
ziellos herumtrampen, das hatte sich irgendwie totgelaufen, ich hab
dann die Ausbildung gemacht, Buerokauffrau, und danach richtig zu
arbeiten angefangen. Ich denke aber nicht, dass das bis ans Ende
meiner Tage so weiter geht, sondern irgendwann kommt die Lust aufs
Reisen vielleicht zurueck."
"Ich will im Sommer mit Martin drei Wochen nach Finnland", sagte er.
"Ich weiss, hast du neulich erzaehlt, es wuerde mich unheimlich
reizen, euch zu begleiten", und dann begann sie von Lappland zu
schwaermen. Sie hatte einen Film gesehen ... Rentiere und Eskimos
und die Musik von Sibelius, Waelder, Felder, Karelien und auf
fernen Huegeln Doerfer, die sich in die Landschaft ducken ... es
koenne gut sein, dass sie die alte Reiselust wieder packe.
Sie begann Plaene zu schmieden, fuer die Ueberfahrt, welche Orte und
Himmelsrichtungen man ansteuerm solle, welche Kulturgueter man sich
unbedingt ansehen muesse, und erklaerte ausfuehrlich, nach welchen
Regeln in ihrer Firma der Urlaub verteilt wurde, und als sie fertig
war, sagte er beilaeufig: "Wir koennen mit Interrail billig bis
Helsinki fahren und noch weiter, Zuege und Faehren alles ein Preis",
und da merkte sie endlich, sie gehoerte nicht richtig dazu, sie
wuerde das preiswerte Ticket nicht kriegen, sondern den teuren Tarif
zahlen muessen, weil sie zu alt war, und das isolierte sie von den
beiden Jungen, sie war zu alt, und dies missliche Ungleichgewicht
wuerde waehrend der ganzen Fahrt fortbestehen, und brachte sie auf
ein anderes Thema.
"Ich will ausziehen", sagte sie. "Ich fuehle mich offen gesagt
bei euch nicht besonders wohl. Euer Leben
ist mir zu, zu ... primitiv, entschuldige wenn ich
das sage, ich wuerde es gern etwas bequemer haben, eine eigene
Wohnung mit Zentralheizung zum Beispiel. Fuer Euch ist es
wahrscheinlich genau richtig, entspricht euren Ideen, aber
meine Vorstellungen gehen in eine andere Richtung. Ich bin damals
wegen Karsten eingezogen, den ich frisch kennengelernt hatte,
und weil gerade ein Zimmer frei war, aber nun ist es mit Karsten
mehr oder weniger vorbei, und zu einigen, besonders Birgitta,
habe ich ein schlechtes Verhaeltnis.
Sie und Werner hacken staendig auf mir rum, weil ich so chaotisch und
unordentlich bin. Sogar Ali ist das aufgefallen. Als wir neulich in
der Kueche sassen und Birgitta ging nach oben, hat er einen Witz
daraus gemacht und sich dabei halb totgelacht. Er hat haarscharf
aufgezaehlt, dass ich jedesmal mindestens sechs Fehler mache, wenn
ich abends heimkomme. Ich gehe in die Kueche und lasse die Tuer auf,
ich schmiere mir ein Brot und benutze fuer die Leberwurst das
Brotmesser; dann trinke ich Kaffee und stelle die gebrauchte Tasse
statt auf die Ablage direkt ins Spuelbecken; ich gehe ins Bad, putze
mir die Zaehne und lasse verbotenerweise meinen Kulturbeutel auf der
Waschmaschine stehen; und wenn ich rausgehe, lasse ich das Licht
brennen und mache wieder die Tuer nicht zu."
Dazu fiel ihm wenig ein. Sollte er sagen, wie unpraktisch oder
manchmal auch seltsam er ihre Schlampigkeit fand? Das fuehrte zu
nichts, sie wuerde ihr Verhalten doch nicht aendern, weil es exakt
ihrem Charakter entsprach, und ihrer Vorstellung von Gemuetlichkeit
und Sich-gehen-lassen, und vielleicht war es wirklich besser, wenn sie
allein lebte, da kam ihr keiner in die Quere, und sie konnte
nach eigener Facon selig werden.
"Dann euer komischer Kontrollmechanismus mit dem Putzplan", fuhr sie
atemlos fort, sie redete sich richtig in Rage. "Wer geputzt hat, darf
im Kalender ein Kreuzchen machen. Aber ich kriege das nicht auf die
Reihe. Die Woche vergeht, ploetzlich ist Sonntag, und wo
fehlt das Kreuzchen?
Und dann hat Ali tatsaechlich gesagt - ob das ganz ernst
war, weiss ich nicht - ", und sie versuchte die hohe nasale Stimme
nachzumachen, "'Vielleicht solltest du mal in einer politischen
Organisation arbeiten, um zu lernen, dass eine gewisse Struktur
notwendig ist.' Das ist unglaublich, findest du nicht?"
"Ja, ja", sagte er, "die mit ihren Strukturen und
Organisationen"; und das befriedigte sie seltsamerweise, und sie
kam wieder auf die Finnlandreise zurueck und wollte
ihn auf einen Termin festlegen, obwohl er gehofft hatte, sie
wuerde das Thema fallenlassen.
"Wir werden irgendwann zwischen Mitte Juli und Ende September
fahren", sagte er widerwillig. "Im September sind die Uebernachtungen
billig, aber wahrscheinlich ist Finnland dann schon zu
kalt ..."
"Die Sommer sind dort insgesamt ziemlich kuehl, der Juli ist noch
der waermste Monat, aber der August soll auch sehr empfehlenswert
sein."
"Na gut, fahren wir im August." Er hatte wenig Lust, jetzt solche
Details auszumachen.
"Juli, August, September - ihr Studenten habt wirklich lange
Ferien", sagte sie neidisch, "und dasselbe im Fruehling noch mal!"
"Im Fruehling sind sie nicht ganz so lang, und man kann auch nicht
soviel damit anfangen, weil es meist kalt und regnerisch ist,
das Sommersemester faengt schon Ende April an."
"Trotzdem - so viel Freizeit moechte ich auch mal haben. Darum
beneiden euch alle; und ich kann das voll nachvollziehen, bin
froh, mir mit Anfang 20 n paar Jahre Auszeit gegoennt zu haben; aber
bei euch geht das ueber viele Jahre, die meisten brauchen ziemlich
lang fuer ihr Studium - und hinterher finden sie nichts. Eine Kollegin
von mir ist Diplomsoziologin, und arbeitet jetzt als Sekretaerin,
genau wie ich mit meiner bescheidenen Lehre. - Was willst DU
eigentlich machen, wenn du fertig bist", setzte sie neugierig nach.
Die Frage war ihm schon oft gestellt worden, allzu oft, die gesamte
Erwachsenenwelt schien permanent neugierig, wie sich die Studenten
ihre Zukunft vorstellten.
Am aergsten traf es Leute wie Martin, die Philosophie studierten oder
ein anderes nutzloses Fach, die wurden staendig geloechert, was sie
spaeter damit anfangen wollten, so dass sie ganz zappelig wurden und
ihr Selbstvertrauen verloren und manche fuehlten sich bald ihrem
Fachgebiet nicht mehr gewachsen.
Maschinenbau, das hoerte sich zwar praktisch, nuetzlich und rationell
an; aber die Industrie stellte viel
weniger Ingenieure ein, als momentan ausgebildet wurden, das lag am
Geburtenueberschuss in den 50er Jahren, und es gab angeblich serioese
Berechnungen, nach denen sich diese Situation auf laengere Sicht nicht
aendern wuerde, mindestens 15, 20 Jahre nicht, und solange, wurde
unterstellt, wuerden diese armen Youngster arbeitslos sein, man
konnte das nachgerade als Aufforderung betrachten, sein Studium
hinzuschmeissen, auf jeden Fall demotivierte und verunsicherte es
die Leute, der Wert der Ausbildung sank in ihren Augen auf den
absoluten Nullpunkt, und manche machte es derart depressiv, dass
sie behandelt werden mussten. Alle diejenigen aus der aelteren
Generation aber, die es irgendwie geschafft hatten, in eine halbwegs
gesicherte Position hineinzurutschen, ergoetzten sich an der
Unsicherheit und hackten hartnaeckig in der Wunde herum.
Er hatte sich ein Sammelsurium von Reaktionen zugelegt, welche
er ebenso beharrlich abspulte, ohne dass ihm diese halfen, die
unangenehme Stimmung zu vertreiben, die solche Fragen unweigerlich
verbreiteten.
"Ich weiss nicht genau, vielleicht gehe ich in den
Entwicklungsdienst", erwiderte er gepresst. Das passte zu seiner
sozialen Ader, und liess die Leute normalerweise nicht nachhaken,
oder wenn, dann konnte man sich ueber den Entwicklungsdienst
allgemein unterhalten, und war damit schon halb
aus dem Schneider.
In Wirklichkeit hatte er null Bock auf Entwicklungsdienst; es
kollidierte mit seinen technischen Interessen, irgendwo in der
Wueste alte verstopfte Wasserpumpen zu reparieren, und womoeglich
in eine Stammesfehde zu geraten und en passent von rivalisierenden
Banden niedergemetzelt zu werden!
Und auf einmal war ihm die Schoenheit des Abends verdorben,
der Stein, auf dem sie sassen, kam ihm eiskalt vor, und schmutzig,
die Baeume schwiegen abweisend, und in der Luft hing ein sonderbarer
Chemiegeruch, der seinen Atem zum Stocken brachte.
Abrupt sprang er auf und beendete die Gemeinsamkeit; ging zuhause
gleich auf sein Zimmer, schaltete den Fernseher ein und liess sich
entnervt aufs Bett fallen. 11 Uhr, die Nachrichten.
MONATE SPAETER ...
Es war 6 Uhr abends und Richard auf dem Weg nach Hause.
Eine roetliche Sonne lenkte atemlose Strahlen wie
kleine schnelle UFO's durch die Strassenschluchten
und beschwingte die Schritte der Passanten.
Der Tag war warm gewesen, ungewoehnlich warm fuer Hamburger
Verhaeltnisse, aber jetzt frischte der Wind auf
und kuehlte kochende Koerper und Seelen.
Tage wie heute, an denen er nicht nach Harburg musste, weil
manche Vorlesungen noch immer in der Bundesallee stattfanden,
waren das schoenste. An solch lauen Sommerabenden verschmaehte er
den Bus und wanderte zu Fuss von der Uni nach Hause,
zuerst am Schlump und kleinen Schaeferkamp vorbei,
durch den Schanzenpark zur Sternschanze und dann in die
Susannengasse. Von dort ueber den Lerchenstieg in die
Thadenstrasse und schliesslich durch's Gassengewirr von
Alt-Altona nach Hause.
Mehrmals auf seinem Weg aenderten sich Publikum
und Baustile. Beim Schlump sah man hauptsaechlich
Gruppen schwatzender Studenten, die sich nach
den Seminaren beim Griechen oder Italiener trafen, waehrend ihm
in der Susannengasse Fremdarbeiterkinder und
Deklassierte der Unterschicht begegneten, und ein paar ausgeflippte
Jugendliche. Die Welt zerfiel. Die distinguierte und schweigende
Mehrheit lebte zurueckgezogen in vorstaedtischen
Neubausiedlungen, sie wusste und wollte nichts von diesem
Milieu wissen, es gab keinen Ausgleich.
Der Umschwung setzte schon bei der Sternschanze ein.
Einer der aeltesten Hamburger Bahnhoefe, Jugendstil, ueber und
ueber mit wertvollen dunkelgruenen, ockerfarbenen und ehemals
weissen Fliesen und Marmor bedeckt,
erinnerte seine Form an eine Moschee aus dem Morgenland.
Jetzt war er nur noch ein Schatten einstiger Pracht,
eingeklemmt zwischen in den 50er Jahren eilig hochgezogenen
Mietshaeusern, staubig und schmutzig, an vielen Stellen fast
schwarz, wie von Kot besudelt; und wirklich hatten
Generationen von Hunden und Betrunkenen seine glatten Waende
als Abtritt missbraucht.
Vor dem Bahnhof waren Absperrstangen gezogen, die
Fussweg und Strasse trennten und Autos am Parken hindern sollten.
Ein Trupp junger Afrikaner mit Windjacken in schillernden Farben
und amerikanischen Baseballmuetzen luemmelte darauf herum, die
Ruecken zur Strasse, lachend und sich scheinbar gut unterhaltend.
"Wenn nur keiner nach hinten faellt!" schoss Richard durch den
Kopf. Er waere von den auf dem Kopfsteinpflaster wie besinnungslos
vorbeirasenden Autos unweigerlich ueberfahren worden.
Er musterte die Gruppe im Voruebergehen.
In einem der Ruecken meinte er Doug zu erkennen und
wurde von einem sonderbaren Gefuehl der Fremdheit
erfasst, nicht das einer einfachen Nicht-Zugehoerigkeit,
das kannte er ... wenn andere was machten und ihn nicht
mitmachen liessen, wenn sie ihre Vereine gruendeten und
Insidergeschaeftchen betrieben, und man selbst war der
Aussenstehende - nein, einer tieferliegenden Fremdheit ... und
wahrscheinlich war es Doug in der Elbgasse aehnlich gegangen.
Er ueberquerte die Schanzenstrasse, ohne sich weiter
um Douglas zu kuemmern. Ein paar Schritte Umweg und
er befand sich in einer ruhigeren, fast stillen Umgebung.
Die Susannengasse war eine lange schmale
auf eine kleine Kirche zulaufende Einbahnstrasse
mit den ueblichen weinroten Ziegelbauten - Ziegelbauten, so
weit das Auge reichte, und Richard fragte sich, wann die
Hamburger Zeit gehabt hatten, so viele dieser Haeusern zu bauen.
Indem er weiterging, kam ein uraltes, wenigstens 200 Meter langes
Reihenhaus ins Blickfeld. Die Beschaffenheit der Anlage war so
primitiv, dass normale Hamburger darin nicht wohnen mochten und
die Stadt es schon laengst abgerissen haette, waere es nicht vor
langer Zeit von fehlgeleiteten Inspektoren der Denkmalbehoerde
unter Schutz gestellt worden.
Doch an wen es zu vermieten sei, liess sich das Liegenschaftsamt
von der Denkmalbehoerde nicht vorschreiben; und in der Hoffnung,
derweise die Substanz schnell zu verschleissen, hatte es ein
cleverer Beamter hernach dem Studentenwerk angedient.
So wurde es mittlerweile von einer unueberschaulichen Schar
von Studenten und alternativen Jugendlichen bevoelkert und zu
einer Art Happening Center umfunktioniert. Im Garten fanden
abwechselnd bierselige Rockfeten und dilettierende
Kunstausstellungen statt, und all diese Veranstaltungen
hinterliessen einen Bodensatz an Rueckstaenden, und wiederholte
naechtliche Farborgien anonymer Sprayer taten ein uebriges und
verwandelten das dezent-weinrote Gartenlauben-Ambiente in ein
grellbuntes Panorama. Die Buerokratie hatte es laengst aufgegeben
und auch gar kein Interesse daran, genau zu erfahren, wer sich in
den alten Gemaeuern herumtrieb und was darin vorging.
Richard kannte mehrere der Bewohner, hatte schon bei ihnen
mitgefeiert und auf der Wiese gelagert, und so wurden seine Schritte
automatisch langsamer, als er an dem halben Dutzend Muessiggaenger
vorbeikam, die sich hingestreckt auf Stuehlen und
Liegestuehlen der Sonne ergaben.
Doch niemand rief ihn an und im Weitergehen schweiften seine Gedanken
in andere Richtungen. Ihm fiel Dagmars Brief ein, den er morgens
bekommen hatte, liebevoll und derart unbeholfen, dass die meisten
ihrer Formulierungen seltsam harmonisch geglaettet waren, als sie
ihm jetzt durch den Kopf gingen:
"Mein Lieber, unser letzter Kuss liegt jetzt schon Stunden
zurueck und bis zum naechsten ist es noch arg lange hin. -
Obwohl wir uns vorhin noch gesehen haben, spuere ich
eine grosse Sehnsucht nach dir, und
ueberlege die ganze Zeit, wie ich an die Telefonnummer
deiner Eltern kommen koennte, um deine Stimme
zu hoeren." - Sie hatte den Brief am Samstag
geschrieben, als er uebers Wochenende nach Tengern
gefahren war. - "Dann waere ich dir schon viel naeher.
Oh, bitte mach dein Versprechen wahr und ruf mich an,
sobald du zurueck bist. Bis dahin muss ich mich
mit meinen Erinnerungen zufrieden geben,
und mit dem Photo, das du mir neulich geschenkt hast.
Gestern, als du mir gegenueber gesessen hast, in deinem
schoenen buntkarierten Hemd, das dir so gut steht,
mit dem feinen, zaertlichen Laecheln im Gesicht,
schoss es mir ploetzlich durch den Kopf:
Wie habe ich den Mann lieb!
Und heute beim Aufwachen, als du im Bad warst, konnte ich dich
riechen, indem ich mein Gesicht ganz tief in deine Kissen drueckte.
Wenn ich mich jetzt darauf besinne, fuehle ich dich ganz nah und
bin gluecklich. Und wenn ich dann noch an deine warme Stimme denke,
die mich so lieb umfaengt, und mir vorstelle, wie du mich
beruehrst, wie du mein Haar und meine Wangen streichelst, gerate
ich ganz aus dem Haeuschen.
Am schoensten aber ist das Gefuehl, wenn ich bei dir einschlafen,
mich vertrauensvoll an dich kuscheln und die Nacht mit dir
verbringen kann - auch wenn ich mir am naechsten Tag das Gemecker
meiner Mutter anhoeren muss, wo ich mich wieder herumgetrieben habe.
Natuerlich habe ich Angst, dass es eines Tages vorbei sein koennte,
dass du mich fallen laesst, wie mein erster Freund, von dem ich
dir erzaehlt habe; doch da ist ein sonderbar starkes Vertrauen, weil
unsere Liebesgeschichte erinnert mich an die von Steve Dinkey
(du weisst doch, von den Ramones) und seiner Freundin. Ich habe
den Artikel aus der 'Neuen Revue' ausgeschnitten und fuer dich
aufbewahrt.
Diese Geborgenheit habe ich eigentlich schon bei unserem ersten
Spaziergang empfunden, sonst haette ich es bestimmt nicht gleich
so weit kommen lassen, das kannst du mir glauben.
Immer wenn wir uns verabschieden, du mit deinem ironischen oder
traurigen Laecheln und ich mit ewig demselben Herzklopfen,
moechte ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe und mir
wuensche, dass es noch lange so bleibt ...",
und in dem Stil ging es weiter.
Dreimal hatte er bis jetzt mit ihr geschlafen und anscheinend einen
kolossalen Eindruck hinterlassen, jedenfalls nach ihren
Briefen zu urteilen. Das war ganz ungewoehnlich, normalerweise
war er es, der den Frauen hinterher lief.
Er war sich nicht sicher, ob ihm diese Fuegung besonders
gefiel, und bei diesem Gedanken begann ihn sein Gewissen zu
maltraetieren. Eigentlich hatte er laengst mit ihr sprechen
wollen; um Stress und Aerger zu vermeiden, hielt er sie
stattdessen in dem Glauben, alles sei in bester Ordnung.
Konfliktscheu nannte man das.
Andererseits, dachte er, war es ihr Problem, wenn sie so auf ihn
abfuhr, und keine Vorsicht walten liess, obwohl sie mit ihren
negativen Erfahrungen realistischer sein muesste. Wer solche Briefe
schrieb, durfte sich nicht wundern, wenn allzu hohe Erwartungen
enttaeuscht wurden, besondere Versprechungen ewiger Liebe und Treue
hatte er schliesslich nie abgegeben. Wenn es um die Zukunft ging,
drueckte er sich absichtlich vage aus, und ueber die Gegenwart
konnte man ehrlicherweise nur das Beste sagen. War es nicht immer
schoen, mit einer Frau zu schlafen? (Ausser wenn sie ganz verkrampft
waren, das war ihm frueher mal bei einer passiert, sowas konnte man
sich schenken; mit Dagmar war es wirklich nicht schlecht,
sie war bereit und offen und sie fasste sich gut an,
er fand ihren Koerper unwiderstehlich.)
Das Problem war, sie passte nicht zu ihm. Er haette sich mit
allen arrangieren koennen, mit der Lehrerin Ursula,
der Friseuse Laura, Vera, der Sekretaerin. Aber Dagmar war
einfach zu ... zu maessig. Wenn er mit ihr irgendwo aufkreuzte,
erntete er zuerst mitleidige Blicke, wegen ihrer Behinderung,
und dann abschaetzige. Ihr Haarschnitt, ihre Kleidung,
nichts passte in die Szene, in der er verkehrte.
Und selbst wenn es mal anders lief und seine Bekannten ueber
Dagmar hinwegsahen: er genierte sich trotzdem.
Sie war einfaeltig und unheimlich langsam im Denken, und schlimmer
noch: das sah man ihr an. Bis eine Idee zu ihr vorgedrungen
war, hatte Richard sie schon wieder verworfen.
Und womit sie ihre Zeit vertat! Sie loeste Kreuzwortraetsel
und las regelmaessig die 'Bravo', so dass sie sich
mit T.Rex und Eros Ramazotti bestens auskannte.
Wer sie aber nach dem Namen der franzoesischen
Hauptstadt gefragt haette, waere leer ausgegangen.
Und vollends schaltete sie ab, wenn man ihr - wie er
neulich - beizubringen versuchte, dass der neue
Kultusminister ein elender Buerokrat und sein Vorgaenger - nur
einige Monate im Amt und ein Freund der Verleger - sich
hauptsaechlich und erfolgreich um den Erhalt der
Buchpreisbindung gekuemmert und anschliessend ein lukratives
Angebot aus der Privatwirtschaft angenommen hatte,
was Richard masslos erboste, da in seinen Augen zwar
die Kultur eine Lobby verdiente, nicht aber
diejenigen, die das grosse Geld mit ihr machten.
Das seltsame war, dass er trotzdem ganz gern mit ihr
zusammen war. Mit ihr zu schlafen war wahnsinnig entspannend,
kein Stress dabei, man konnte sie ein- oder zweimal
hernehmen, wobei sie voll mitging, und danach entspannt mit
ihr einschlafen, oder wenn man noch nicht muede war,
herumbloedeln und irgendwelchen Quatsch erzaehlen.
"Wo ich herkomme, gibt es 2 Doerfer", war ihm neulich
eingefallen, "Adelshausen und Odelshausen, die nah
beieinander liegen. Wohl logisch, dass die Adelshausener
auf die Odelshausener herabsehen und die Odelshausener
sich wegen ihres Namens ein bisschen schaemen. - So ist
das, hui und pfui liegen oft nah zusammen", und zum Beweis griff er
nach ihrem Hintern, fuhr mit den Fingerkuppen ueber den
Darmausgang, und dann weiter von hinten ueber die vom
Samen noch feuchte Oeffnung der Scheide.
Er wusste nicht, warum er ihr solche Sachen erzaehlte,
es war wohl einfach, dass er sich allzu sicher fuehlte,
und deshalb fiel ihm, mangels anderer Themen, solcher
Schweinkram ein. - Dagmar war es zufrieden, nach ihrer
Ansicht bewies das, wie gut ihm die Liebe mit
ihr gefiel, sie schloss die Augen und seufzte
sinn- und hilflos gluecklich.
Angefangen hatte das Ganze vor 2 Wochen, als sie ihm zufaellig
wieder ueber den Weg gelaufen war, praktisch an derselben Stelle,
wo er sie von den Sittenstrolchen 'befreit' hatte, nur dass jetzt
Sommer war und Taghelle und das Buschwerk zum Elbufer
undurchdringlich gruen. Er hatte seitdem eine Ahnung
entwickelt, wer sie gewesen sein konnten, die Kandidaten
hingen meist bei der Frittenbude am Klopstockplatz herum, oder
beim Kiosk, wo man auf dem Weg zur U-Bahn vorbeikam und
manchmal auch einkaufte, aber was solls, dachte er,
es war ohnehin zu spaet, etwas gegen sie zu unternehmen.
Er hatte sie schon von weitem erkannt, als sie um die Ecke
bog (und sie ihn), und ihre Blicke liefen zwischen den Enden der
Strasse wie Lichtstrahlen zwischen 2 Spiegeln. Er sah, wie sie sich
ein wenig aufrichtete, ihre Schritte beschleunigte, wie von einem
unsichtbaren langsamen Marsch oder Tanzrhythmus getrieben,
so dass ihr Hinken kaum noch wahrzunehmen war, nur in seinem
Kopf war es vorhanden, als Hindernis, sie attraktiv zu finden (denn
es war kein anmutiges oder elegantes Hinken und weckte nur massvoll
Beschuetzerinstinkte). Und als sie naeherkam, fiel ihm der weisse
Reissverschluss ihrer billigen Regenjacke auf und die Bluse und der
Schlag ihrer Hose, und das verkrampfte, gezwungene Laecheln auf dem
breiten bleichen Gesicht.
Er gruesste und wollte vorbeigehen, sie aber blieb stehen,
nahm all ihren Mut zusammen
und zwang mit einer Geste auch ihn zum Halten und sagte, wobei
ihre Stimme stolperte wie die einer unsicheren Schuelerin
beim Abfragen, so dass er zuerst nicht verstand und nachfragen
musste, "was essen?", und das verunsicherte sie noch mehr, aber
sie riss sich zusammen, auch wenn ihr Gesicht noch
bleicher wurde, schliesslich musste sie die Situation irgendwie
meistern, ja-doch, sie wolle sich nochmals bedanken und ihn deshalb
zum Essen einladen, zum Italiener in der Arnoldstrasse.
Seit Wochen hoffte sie auf den Zufall, ihm zu begegnen
und ueberlegte dabei immerzu, was sie ihm vorschlagen koennte.
Zuerst hatte sie mit der Idee gespielt, mittwoch abends, wenn
die Eltern weg waren, fuer ihn zu kochen, eine verlockende
Vorstellung, und billiger waere es auch gewesen, aber viel zu
persoenlich fuer das erste Mal, und es fragte sich, ob man damit
die gewuenschte Wirkung ueberhaupt erreichen konnte.
Wie das Geld fuer den Italiener aufzubringen sei, musste noch
ueberlegt werden, von den paar Mark, die sie fuer die Aushilfe
bekam, gab sie zuhause das meiste ab ...
So oder aehnlich hatte sie sich das Hirn zermartet und genau
zurechtgelegt, was sie ihm sagen wuerde, doch eigentlich war sie
unfaehig, seine Reaktion abzuwarten, sie hatte genug mit den
eigenen Reaktionen zu tun, ihr Blick wurde
finster von Unsicherheit, das Laecheln verschwand endgueltig
aus ihrem Gesicht und eine sonderbare Kaelte ergriff sie.
Wenn er jetzt nein sagte, wuerde sie vergehen vor Peinlichkeit,
wie stuende sie da, als dicke aufdringliche Nudel,
deren unerwuenschte Avancen man wie laestige Fliegen abwehrte.
Im Prinzip konnte er sich nichts schoeneres vorstellen
als von einer wildfremden jungen Frau eingeladen zu werden,
man musste selber gar nichts machen, keine Hemmschwelle
ueberwinden und so weiter, und das Maedchen gefiel ihm auch,
einerseits, ein bisschen jedenfalls und nach dem, was er unter
Hose und Regenjacke wahrnahm. Es war nicht so, dass sie ihn
voellig kaltliess oder gar abgestossen haette, wer das
glaubt, hat die bisherigen Ausfuehrungen missverstanden.
Natuerlich blieben die Vorbehalte. Die lebten auf einer
anderen Ebene und gediehen auf dem Naehrboden seiner Einbildung,
was wuerden die Freunde sagen, wenn er mit dieser unbeholfenen
Wachtel auftauchte (so, meinte er, wuerde jedermann denken).
"Du, ich habe bald Pruefungen", sagte er also entschuldigend
und bewusst naiv, "ich muss abends meist lernen." Das war nicht
mal gelogen, das bevorstehende Examen setzte ihn gehoerig unter
Druck, er musste unbedingt mit den Vorbereitungen anfangen, sonst
konnte es eng werden, mit schlechten Noten wuerde er nie Arbeit
finden.
Er spuerte ihre Verzweiflung, und darin lag
ein so ueberwaeltigender Zug Weiblichkeit, das haute ihn um,
es war wie wenn der Duft einer Blume oder eines Fruehlingsmorgens
oder der Hauch eines besonderen Parfums ein muedes Gemuet beleben.
Und natuerlich ging auch der Eindruck ihrer Figur weiter in seinem
Trieb hausieren, er hatte ja keine Alternative, war einsam
und fraulos, ach was, dachte er, sich ueber alle inneren Einwaende
hinwegsetzend, warum sollen wir's nicht mal versuchen, wenn ich
sie jetzt abweise, bereu ich es hinterher, und vielleicht versaeume
ich wirklich was.
Und kurz entschlossen warf er ihr nach, als sie sich, halb erstarrt
vor Enttaeuschung, schon abgewandt hatte, "aber ich will jetzt
gerade im Jenischpark spazieren gehen, wenn du magst, kannst du
mitkommen."
Sie war nahe daran, ihn nun ihrerseits zurueckzuweisen,
der Selbstachtung wegen, und weil sie fuehlte, dass seine
spontane erste Ablehnung tiefere Ursachen hatte.
Doch dann siegten lange aufgestaute Liebessehnsuechte,
sie schluckte ihre Verwirrung ueber sein paradoxes
Benehmen herunter und fragte unglaeubig:
"Ist das wirklich dein Ernst, ich meine,
du brauchst mich nicht mitzunehmen, nur weil du jetzt
etwas Zeit hast. Auf dem Spaziergang moechtest du
wahrscheinlich lieber allein sein."
"Nein, nein, im Gegenteil, komm ruhig mit, das heisst,
wenn du magst", sagte er nachdruecklich,
wobei er aufdringlich ihren Pullover fixierte, "vielleicht
macht es sie sicherer", dachte er duemmlich, "wenn sie
spuert, dass ich sie nicht voellig uebersehe". Weibliche
Schuechternheit war ja ganz angenehm, sogar liebenswert,
aber mit einer Frau, die sich staendig fuer ihre Anwesenheit
entschuldigte, konnte man nicht viel anfangen.
Sie mochte; und Zeit war auch kein Problem, weil sie gerade
von der Arbeit in der Rathauskantine kam, wo sie
die Speisen ausgab.
"Ich heisse uebrigens Richard", sagte er freundlich.
"... und ich Dagmar", erwiderte sie. Sie schluckte und
dachte, dass seine Brillenglaeser die schoensten und
ausdrucksvollsten Augen umrahmten, die sie je gesehen hatte.
Er war wie ein Held, wie ein millionenfach geliebter Fernsehstar,
und sie hielt sich fuer vermessen, zu hoffen, dass er sich je
ernsthaft fuer sie interessieren koennte.
Mit so verteilten Rollen brachen sie auf, und nach ein paar Stationen
mit dem Bus die Elbschaussee hinunter, denn sein Auto stand seit
Wochen kaputt in der Elbgasse, und ihr leuchtendes Gesicht
gegen die Scheibe gedrueckt, weil sie ihn nicht staendig ansehen
wollte, standen sie unweit des hohen Gatters auf dem weiten
Vorplatz des Parks, von wo man alle Richtungen einschlagen
konnte, zur Elbe hin oder mehr zu den alten Eichen oder
zu den botanischen Anlagen.
Er entschied sich fuer die Eichen, nicht ohne Hintergedanken,
und zum Warmwerden vorher ein Schlenker ueber den kuenstlichen
Huegel, wo Wasser hochgepumpt wurde und in Kaskaden
herunterstroemte, an einigen Stellen fuehrten geschwungene
Bruecken ueber den Bach, und einmal blieben sie stehen,
um auffliegenden Enten nachzublicken, worauf Stille
einkehrte, bis ein einsamer Frosch zu quaken begann.
Er erzaehlte von seinem Studium, seinen Freunden - und vom
Auto ... dass die Lichtanlage unbedingt ausgewechselt werden
musste, doch er komme zu nichts, die Pruefungen!, und sie
hoerte die ganze Zeit aufmerksam-andaechtig zu.
Neben den Wegen wechselte wild wachsender Wald mit Beeten, wo
Planten und Bloomen in Reih und Glied gesetzt waren, dann wieder
freie Flaechen, einzelne Straeucher mit Stecktaefelchen,
auf denen ihre botanischen Namen verzeichnet waren, meist
Begriffe, mit denen niemand was anfangen konnte
und die Dagmar mit wachsendem Vergnuegen, Richard aber mit einer
geheimen Unruhe las, beide wussten, dass er jetzt am Zug war.
Die Anlage war so eingerichtet, dass man von jedem Standort
das etwas erhoeht stehende weissgetuenchte Herrenhaus wahrnehmen
konnte, dessen fruehere Besitzer ihr den Namen gegeben hatte.
"Der Kasten sieht dem Altonaer Rathaus so aehnlich ... das muss
ein und derselbe Architekt verbrochen haben", sagte Richard
fachmaennisch, und weit und breit gab es niemand, der sein
Urteil korrigierte, Dagmar nickte nur zustimmend, sie
haette allem zugestimmt, was er sagte.
Und wenn er uebergangslos auf ein anderes Thema kam, stoerte
sie das auch nicht, im Gegenteil, sie liess ihn reden,
sie war zufrieden, wenn sie selbst nichts zu sagen brauchte; und
er begann von seinem HP41C zu schwatzen, dem ultimativen
Modell eines Taschenrechners, der ihn seine letzten Ersparnisse
gekostet und Hewlitt und Packard reichlich Gewinn gebracht
hatte. Denn der HP41C war ein Must-Have in den Praktika der
Ingenieure, wer auf sich hielt, hatte ihn staendig in einer
Spezialtasche am Guertel haengen; und wieder lauschte sie
atemlos mit offenem Mund, so dass er ihre Zaehne sehen
konnte, was ihn sonderbar sexuell stimulierte, aber nicht
aus dem Takt seiner Rede brachte.
Als sie den hinteren Teil des Parks erreichten, wo man sich
hinter den Eichen unbeobachtet fuehlt, legte er den Arm von
hinten auf ihre Taille, sie spuerte wohlig und aengstlich das
Draengen, welches dahinterstand, und jaehes Glueck durchfuhr ihre
Seele, dass ihr schwindlig wurde, nur gut dass sie sich an
ihm festhalten konnte.
So bewegten sie sich eine Zeitlang voran, langsamer werdend
(und keiner wagte, seine Relativposition zu veraendern,
allzu berauschend und gefaehrdet schien dieser Zustand),
und unwillkuerlich nach abseits auf die schmalen mit
Blattwerk verhangenen und vom gestrigen Regen noch
klammfeuchten Wege, und ungeschickt wichen sie bald einem
Trupp neugieriger Gartenarbeiter, bald einem aeltlichen
Ehepaar aus, das solch heimliche Plaetze sicher
nicht noetig hatte.
Endlich wagte er, sie frontal an sich zu ziehen. Dagmar wusste
zuerst nicht, wie sie sich drehen und stellen sollte, wie er es
haben wollte, nur unbedingt rechtmachen wollte sie es ihm, und
liess sich dann einfach fassen und halten, und irgendwie trafen
sich ihre Gesichter, sie schlossen die Augen und und verschmolzen,
versanken ineinander, schoben Sorgen und ueberfluessigen Tiefsinn
beiseite, und auch alle ueber den Augenblick hinausweisenden
Empfindungen.
Er konzentrierte sich auf die Weichheit ihrer Lippen und Wangen
und ihres an ihn sich pressenden Leibes, er vergass ihre
Unzulaenglichkeiten und begann, verschiedene besonders
empfindliche Koerperstellen zu streicheln, immer gieriger werdend,
wobei wiederholtes Aechzen ihm ihre Uebereinstimmung anzeigte,
und verging fast ueber ihre seidene weibliche Fuelle und
Ueppigkeit.
Und sie, sie verlor vollends die Fassung, als sie ploetzlich
unten seine Haerte spuerte, erstarrte fuer einen Moment
und liess ihre Arme willenlos haengen.
"So", dachte er, "das ist also
der Weg, auf dem man sich gut mit ihr unterhalten kann",
und es machte gar nichts, dass sie vorhin wenig zum Gespraech
beigetragen hatte, nur stockendes, unsicheres Stottern und Lachen,
so dass keine zusammenhaengende oder gar fluessige Konversation
zustandegekommen war, nur ein frustrierendes semantisches
Abtasten geringer Moeglichkeiten, nicht zu vergleichen mit dem
realen Abtasten, welches er gerade an ihr vornahm und sie beide
zu hoechsten Graden gegenseitigen Verstaendnisses
aufsteigen liess.
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