Dagmar


Als er aus dem Bus stieg, war es dunkel geworden. Er hoerte seine Schritte auf dem Asphalt und wunderte sich, warum nicht mehr Menschen den schoenen Abend fuer einen Spaziergang nutzten.

In vielen Wohnungen brannte noch Licht, in anderen lief nur der Fernseher und verbreitete graeuliches Leuchten, einige lagen im Schatten. In der Elbgasse war die einzige Laterne ausgefallen. Das stoerte aber nicht weiter, er kannte den Weg, er war gleich hier zuhause. Zuerst links die Wand, riesig, fensterlos, rechts der eingezaeunte Kundenparkplatz des Elektroladens, dahinter der Studienrat, auch bei denen kein Licht, und dann links das Buschwerk, das schon zum Uferpark gehoerte und im Sommer weit in die schmale Gasse hineinwucherte. Im Moment sah man nichts davon, nur finsterdunkle Schwaerze, aus welcher Stimmen vorquollen.

"Komm, zier dich nich so", sagte die eine. "Wir haben uns eben so nett unterhalten."

"Und jetzt wollen wir uns noch netter unterhalten", setzte eine andere froehlich hinzu. "Komm her, ich zeig dir, wie's geht."

"Bitte lass mich", sagte eine weibliche Stimme leise. "Fass mich nicht an."

"Ach komm, lass mich nur machen, du kennst mich doch, hab ich dir je was boeses getan? Du hast so schoen grosse Moepse, da kann ich nich widerstehen."

"Nein, lass das, hoer auf damit. Oh bitte lasst mich doch zufrieden. Henning, ich will nicht, dass du mir den Rock runterziehst." Die Maenner kicherten, der Protest schien sie nicht zu beeindrucken.

Die Stimmen kamen definitiv aus dem Dickicht, dachte er, wahrscheinlich hatten sie die Frau da rein gedraengt.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er sich einmischte, riskierte er, von irgendzwei Kerlen verdroschen zu werden. Er konnte hoechstens so tun, als ob er nicht wuesste, was gespielt wurde, sich einfach bloed stellen, und den Naiv-Neugierigen vorkehren, falls er angegriffen wurde. Erst mal laut raeuspern, vielleicht half das ja schon.

Natuerlich half es nicht, ihre Aktivitaeten waren zu weit fortgeschritten, um von zaghaften Hoeflichkeiten sich stoeren lassen. Fast haette seine Feigheit den Ausschlag gegeben, vielleicht war das Maedchen gar nicht so abgeneigt, wie es den Anschein hatte und beschwerte sich hinnterher ueber die Stoerung. Ploetzlich aber meinte er ein ersticktes Wimmern wahrzunehmen, wahrscheinlich hielten sie ihr den Mund zu oder drueckten ihr gar die Kehle ab.

"Hallo wer ist da?" fragte er in die Dunkelheit hinein; und noch einmal: "Ist da jemand?" Dann klapperte er vernehmlich mit dem Schuhwerk auf den Steinen und liess nicht eher nach bis ...

"Ach Mensch verdammt", kam es endlich aus dem Gebuesch, "hier wird einem auch jeder Spass verdorben. Komm Karl, lass die Alte, die hat sowieso keinen Bock", und eh er sichs versah, wurde er zielsicher zur Seite gestossen und zwei dunkle Gestalten hasteten an ihm vorueber.

Er wartete einen Moment. "Hallo, sind Sie noch da", fragte er dann behutsam. Verschiedene undefinierbare Geraeusche gaben ihm sogleich Antwort, ein Scharren, ein Rascheln, Aechzen und Seufzen, ein Klopfen und Kleiderstreichen, dass er sie schon fuer verletzt hielt.

Da hoerte er atmen, sie stand direkt vor ihm, er vermutete jedenfalls, dass sie es war, und keiner von den Aufdringlingen, denn er roch billiges Parfum, und eine wehleidige Stimme sagte: "Bitte entschuldigen Sie ... ich weiss auch nicht, warum mir dauernd sowas passiert."

"Sind Sie verletzt", fragte er, "nein, nein, mir gehts gut", beruhigte sie ihn, und er wusste nicht, was er sagen sollte, ausser ihr anzubieten, mit reinzukommen, aber dessen enthielt er sich wohlweisslich, das waere kein guter Vorschlag nach einer solchen Begebenheit.

Sie merkte, wie nah sie beianderanderstanden. Sie wich zurueck, bedankte sich noch einmal und floh auf die lachsfarben beleuchtete Elbchaussee zu; Richard lief hinterher, er wollte doch wissen, wen er gerettet hatte.

Sie blieb an der Ecke stehen und klopfte Staub und Erde aus den Kleidern. Sie war ganz bleich im Gesicht.

"Fehlt Ihnen wirklich nichts?" wiederholte er, und da erkannte er sie, man sah sie oefter durch die Strassen hinken, sie musste hier auch irgendwo wohnen.

Sie war ihm aufgefallen, wie einem manche Frauen eben auffallen, die Tischnachbarin in der Mensa, die mit paar Popperfreunden schaekerte, die junge Tuerkin, die mit ihren Eltern ein Stockwerk ueber Martin wohnte, und ihm dort im Hausflur oefter ueber den Weg lief und immer leidenschaftlich zulaechelte, auch wenn die Verwandtschaft laengst definitiv und unwiderruflich einen Heiratskandidaten ausgesucht hatte, mit dem sie zufrieden sein wuerde bis ans Ende der Tage - auch Dagmar war ihm aufgefallen, mehr durch ihre Figur als durch ihre Behinderung oder das einfaeltig-derbe Dutzendgesicht, mit dem sie sich unsicher der Wirklichkeit stellte.

"So verdreckt kann ich nicht nach Hause gehen", sagte sie ueberraschend freimuetig.

"Soll ich Sie heimbringen", fragte er. Sie musste doch Angst haben, dass die Kerle zurueckkamen, sobald er sie alleinliess; und vielleicht war das auch so, ausschliessen konnte man es nicht, wahrscheinlich lungerten sie noch irgendwo hier herum.

Aber "nein, nein", wehrte sie ab, "nicht noetig". Sie wollte ihm auf keinen Fall zur Last fallen, gerade ihm nicht, daran lag ihr unsagbar viel, schlimm genug, ihm in so einer Situation zu begegnen.

Ausserdem brauchte sie Zeit, wieder zu sich zu kommen und zu ueberlegen, was sie den Eltern erzaehlte, wenn sie so gerupft nach Haus kam. Vielleicht konnte sie ins Schlafzimmer entwischen und sich umziehen, bevor sie was spitzkriegten ...

Im Moment fuehlte sie sich zu nichts in der Lage, das Ganze hatte sie doch ziemlich mitgenommen. Als Henning und sein Freund von ihr abliessen, war sie zuerst einfach nur froh, aber jetzt kam die Panik richtig hoch. Gut, niemand hatte sie umbringen wollen, doch zwei solchen Typen voellig ausgeliefert zu sein, war auch nicht so toll. Sie brauchte jetzt unbedingt ihre Ruhe. Zuhause wuerde sie Keine haben, das war mal sicher, die Wohnung war klein, in Kueche und Schlafzimmer konnte man sich kaum umdrehen, und in der Stube wurde gegessen und fernsehgeguckt, und wenn der Alte wieder mal einen Austicker hatte, wusste man ueberhaupt nicht wohin, da verdrueckte man sich lieber nach draussen.

Er fragte sich, was in ihr vorging. Von der Blaesse abgesehen, schien sie das Ganze gut ueberstanden zu haben. Er haette gern nachgeforscht, wer die beiden Kerle waren, wie gut sie sie kannte, und ob sie oefter so aufdringlich wurden, doch er spuerte, dass sie darueber auf keinen Fall reden wollte, die Beiden anzuzeigen, zog sie offenbar nicht in Betracht.

"Ja also dann", sagte er schliesslich, "auf Wiedersehen".

"Tschuess", sagte sie schnell, viel zu sehr mit sich selbst beschaeftigt, um ihn noch zu beachten.

Als er das Haus erreichte, ging im Flur das Licht an und Birgitta stuerzte aufgebracht an ihm vorbei. (Zwei Stunden sinnloser Knatsch mit Doug, und jetzt kam sie auch noch zu spaet.) Als er die Kueche betrat, sass Doug wie meditierend auf dem Stuhl bei der Spuele und nur ein wahrhaft genialer Beobachter haette aus dem Funkeln seiner Augen und dem Ton der Begruessung einen drohenden Wutanfall herausgelesen. Richard warf seine Jacke schwungvoll auf den Ofen und dachte "erst mal Abendbrot essen", er liess sich weder von brenzligen Abenteuern noch von geistesabwesend vor sich hinstarrenden Schwarzen den Appetit verderben. Trotzdem war er froh, als der Andere unvermittelt aufstand, er wusste nie, worueber er sich mit ihm unterhalten sollte, und heute schien er besonders verschlossen, nachgerade hysterisch.

Er langte ordentlich zu und kam in Gedanken immer wieder auf die Szene im Dunkeln zurueck. Was, wenn er nicht zur rechten Zeit vorbeigekommen waere?, ob sie das Maedchen tatsaechlich vergewaltigt haetten?, oder waere das Schieben und Grapschen an einem bestimmten Punkt zum Halten gekommen, wenn sie gemerkt haetten, dass sie bei ihr absolut nicht landen konnten? Im Nachhinein glaubte er, die Beiden waren betrunken, doch daraus liess sich nichts schliessen, manche wurden erst richtig gefaehrlich, wenn sie gesoffen hatten.

Etwas spaeter haette Birgitta sowieso Licht gemacht, vielleicht waeren sie davon vertrieben worden, aber sicher war das nicht, sie hatten die Kleine ja schon ziemlich ruhig gestellt und brauchten nur abzuwarten, bis die Lampe wieder ausging.

Eigentlich mussten solche Leute belangt werden. Wenn man sie laufen liess, wuerden sie bei naechster Gelegenheit mit einer Anderen weitermachen.

Er hatte Schwierigkeiten sich vorzustellen, wie man mit einer Frau gegen ihren Willen schlafen konnte (oder wollte), allein schon sie ueber einen gewissen Punkt hinaus anzubaggern, wo man merkte, die hat null Interesse, war nicht sein Fall. War wohl n anderer Typ Mann, anders gepolt als er, schwierig zu sagen, obs an den Genen lag oder soziale Ursachen hatte, er wusste, er waere niemals so vorgegangen. Trotzdem erregte ihn die Vorstellung, wie jemand speziell mit dieser Dagmar bumste ...

Nach dem Essen schlenderte er durchs Haus. In Veras Zimmer brannte Licht. Gute Gelegenheit sich abzulenken, dachte er.

"Hallo."

"Oh Hallo."

Sie war gerade heimgekommen, und er erwartete halb, von ihr hinauskomplimentiert zu werden, weil sie wie ueblich irgendwas vorhatte, und tatsaechlich blickte sie bald auf die Uhr, und er sah ihr an, sie ueberlegte, sie war unruhig, wie sie den Rest des Abends verbringen sollte, sie erwog aufs Geratewohl noch einmal loszuziehen, aber dann wuerde's wieder so spaet werden, sie war keine 20 mehr, wo man straflos die Naechte durchmachte.

Er schlug vor, Luft schnappen zu gehen, kein schlechter Rat, ihre Unruhe zu daempfen. Und auch seine; obwohl alles glimpflich abgegangen war, hatten die Erlebnisse seine Stimmung gedrueckt, und gehoben zugleich, ein seltsamer Zustand; er wusste, er wuerde schlecht schlafen, ausser wenn er noch rausging, um von Groesse und Erhabenheit des Flusses sich troesten zu lassen, selbst in der Dunkelheit war das Elbufer von schuldloser unvergaenglicher Schoenheit, nicht alles Schoene in der Natur war schuldlos, ein ruhigfliessender Strom aber gewiss.

Nachdem sie zuerst zoegerte, und er zweimal nachfragen musste und sie es sich zwischendurch zweimal fast ueberlegte, stand er mit ihr vor der Haustuer, und sie schlenderten den Hang hinunter und wieder hinauf, bis sie sich auf einem Felsvorsprung oder Findling niederliessen.

Windstill wars, wie sonst in Jahren nicht, kein Lufthauch zu spueren, eine Ahnung von Sommer lag in der Luft, und weit hinten, ueber dem Fluss, mischte sich das kuenstliche Licht der Raffinerien und Docks mit dem letzten Schimmer gleissender Helligkeit im Westen, wo sich die Elbe unerkannt in die Nordsee verlor.

An sich waren das ideale Voraussetzungen fuer eine trauliche Annaeherung, und er haette jetzt den Arm um sie legen oder es wenigstens versuchen koennen, um in den Genuss intimer Zweisamkeit zu kommen, doch er verzichtete, er war nicht aufgelegt fuer solche Avancen, und haette sich damit ausserdem nur blamiert, und die Stimmung waere hinueber.

Schnell taute sie auf und erzaehlte von alten Zeiten, von ausgedehnten Reisen in laengst vergangenen Sommern und durch Landschaften, in denen er noch nie gewesen war.

"Als ich juenger war, bin ich viel herumgekommen", sagte sie melancholisch. "Mit vierzehn war ich das erste Mal in Italien, dann in Griechenland, Jugoslawien und Spanien, und fast ein ganzes Jahr in Indien, aber irgendwann, als ich aelter wurde, hab ich gemerkt, das ist nichts mehr, das Herumreisen; ich wollte sesshaft werden."

Frueher hat nur der Krieg die Leute so zerstreut, dachte er; und auch nur die Maenner, die Frauen sind wartend zuhause geblieben.

"Die erste Fahrt nach Italien, das haettest du erleben sollen! Ich war mit zwei Freundinnen unterwegs, und wir haben richtig einen draufgemacht, tagsueber in der Sonne am Strand und nachts in der Disco, und manchmal die Staedte durchschlendert, wie stinknormale Touristen. Strassen, Plaetze und Gebaeude sind dort nach lokalen Beruehmtheiten benannt, deren Namen uns Deutschen voellig unbekannt sind, und dadurch kriegt alles so ein fremdartiges Flair, als ob man in einem ganz anderen, sonnenbeherrschten Kosmos sich aufhielte", schwaermte sie und wenn es nicht zu dunkel gewesen waere, haette er sehen koennen, dass sie laechelte.

"Wenn man jung ist, nimmt man alles viel intensiver wahr! - Und dann: Ich wollte nur mal verreisen, aber meine Eltern haben das gleich als Abhauen aufgefasst und mich suchen lassen, Polizei und so, erst als ich zurueckkam, waren sie bereit, mir mehr Freiheit zu geben. Ich durfte weggehen sooft und lange ich wollte, waehrend sie mich vorher bis zum geht nicht mehr gegaengelt haben.

Ich bin dann mit 18 ausgezogen und und richtig lange verreist, ueberall hin. Fast 5 Jahre war ich nur im Ausland. Aber dann, mit 24, 25, hatte ich ploetzlich keine Lust mehr, so ziellos herumtrampen, das hatte sich irgendwie totgelaufen, ich hab dann die Ausbildung gemacht, Buerokauffrau, und danach richtig zu arbeiten angefangen. Ich denke aber nicht, dass das bis ans Ende meiner Tage so weiter geht, sondern irgendwann kommt die Lust aufs Reisen vielleicht zurueck."

"Ich will im Sommer mit Martin drei Wochen nach Finnland", sagte er.

"Ich weiss, hast du neulich erzaehlt, es wuerde mich unheimlich reizen, euch zu begleiten", und dann begann sie von Lappland zu schwaermen. Sie hatte einen Film gesehen ... Rentiere und Eskimos und die Musik von Sibelius, Waelder, Felder, Karelien und auf fernen Huegeln Doerfer, die sich in die Landschaft ducken ... es koenne gut sein, dass sie die alte Reiselust wieder packe.

Sie begann Plaene zu schmieden, fuer die Ueberfahrt, welche Orte und Himmelsrichtungen man ansteuerm solle, welche Kulturgueter man sich unbedingt ansehen muesse, und erklaerte ausfuehrlich, nach welchen Regeln in ihrer Firma der Urlaub verteilt wurde, und als sie fertig war, sagte er beilaeufig: "Wir koennen mit Interrail billig bis Helsinki fahren und noch weiter, Zuege und Faehren alles ein Preis", und da merkte sie endlich, sie gehoerte nicht richtig dazu, sie wuerde das preiswerte Ticket nicht kriegen, sondern den teuren Tarif zahlen muessen, weil sie zu alt war, und das isolierte sie von den beiden Jungen, sie war zu alt, und dies missliche Ungleichgewicht wuerde waehrend der ganzen Fahrt fortbestehen, und brachte sie auf ein anderes Thema.

"Ich will ausziehen", sagte sie. "Ich fuehle mich offen gesagt bei euch nicht besonders wohl. Euer Leben ist mir zu, zu ... primitiv, entschuldige wenn ich das sage, ich wuerde es gern etwas bequemer haben, eine eigene Wohnung mit Zentralheizung zum Beispiel. Fuer Euch ist es wahrscheinlich genau richtig, entspricht euren Ideen, aber meine Vorstellungen gehen in eine andere Richtung. Ich bin damals wegen Karsten eingezogen, den ich frisch kennengelernt hatte, und weil gerade ein Zimmer frei war, aber nun ist es mit Karsten mehr oder weniger vorbei, und zu einigen, besonders Birgitta, habe ich ein schlechtes Verhaeltnis.

Sie und Werner hacken staendig auf mir rum, weil ich so chaotisch und unordentlich bin. Sogar Ali ist das aufgefallen. Als wir neulich in der Kueche sassen und Birgitta ging nach oben, hat er einen Witz daraus gemacht und sich dabei halb totgelacht. Er hat haarscharf aufgezaehlt, dass ich jedesmal mindestens sechs Fehler mache, wenn ich abends heimkomme. Ich gehe in die Kueche und lasse die Tuer auf, ich schmiere mir ein Brot und benutze fuer die Leberwurst das Brotmesser; dann trinke ich Kaffee und stelle die gebrauchte Tasse statt auf die Ablage direkt ins Spuelbecken; ich gehe ins Bad, putze mir die Zaehne und lasse verbotenerweise meinen Kulturbeutel auf der Waschmaschine stehen; und wenn ich rausgehe, lasse ich das Licht brennen und mache wieder die Tuer nicht zu."

Dazu fiel ihm wenig ein. Sollte er sagen, wie unpraktisch oder manchmal auch seltsam er ihre Schlampigkeit fand? Das fuehrte zu nichts, sie wuerde ihr Verhalten doch nicht aendern, weil es exakt ihrem Charakter entsprach, und ihrer Vorstellung von Gemuetlichkeit und Sich-gehen-lassen, und vielleicht war es wirklich besser, wenn sie allein lebte, da kam ihr keiner in die Quere, und sie konnte nach eigener Facon selig werden.

"Dann euer komischer Kontrollmechanismus mit dem Putzplan", fuhr sie atemlos fort, sie redete sich richtig in Rage. "Wer geputzt hat, darf im Kalender ein Kreuzchen machen. Aber ich kriege das nicht auf die Reihe. Die Woche vergeht, ploetzlich ist Sonntag, und wo fehlt das Kreuzchen?

Und dann hat Ali tatsaechlich gesagt - ob das ganz ernst war, weiss ich nicht - ", und sie versuchte die hohe nasale Stimme nachzumachen, "'Vielleicht solltest du mal in einer politischen Organisation arbeiten, um zu lernen, dass eine gewisse Struktur notwendig ist.' Das ist unglaublich, findest du nicht?"

"Ja, ja", sagte er, "die mit ihren Strukturen und Organisationen"; und das befriedigte sie seltsamerweise, und sie kam wieder auf die Finnlandreise zurueck und wollte ihn auf einen Termin festlegen, obwohl er gehofft hatte, sie wuerde das Thema fallenlassen.

"Wir werden irgendwann zwischen Mitte Juli und Ende September fahren", sagte er widerwillig. "Im September sind die Uebernachtungen billig, aber wahrscheinlich ist Finnland dann schon zu kalt ..."

"Die Sommer sind dort insgesamt ziemlich kuehl, der Juli ist noch der waermste Monat, aber der August soll auch sehr empfehlenswert sein."

"Na gut, fahren wir im August." Er hatte wenig Lust, jetzt solche Details auszumachen.

"Juli, August, September - ihr Studenten habt wirklich lange Ferien", sagte sie neidisch, "und dasselbe im Fruehling noch mal!"

"Im Fruehling sind sie nicht ganz so lang, und man kann auch nicht soviel damit anfangen, weil es meist kalt und regnerisch ist, das Sommersemester faengt schon Ende April an."

"Trotzdem - so viel Freizeit moechte ich auch mal haben. Darum beneiden euch alle; und ich kann das voll nachvollziehen, bin froh, mir mit Anfang 20 n paar Jahre Auszeit gegoennt zu haben; aber bei euch geht das ueber viele Jahre, die meisten brauchen ziemlich lang fuer ihr Studium - und hinterher finden sie nichts. Eine Kollegin von mir ist Diplomsoziologin, und arbeitet jetzt als Sekretaerin, genau wie ich mit meiner bescheidenen Lehre. - Was willst DU eigentlich machen, wenn du fertig bist", setzte sie neugierig nach.

Die Frage war ihm schon oft gestellt worden, allzu oft, die gesamte Erwachsenenwelt schien permanent neugierig, wie sich die Studenten ihre Zukunft vorstellten.

Am aergsten traf es Leute wie Martin, die Philosophie studierten oder ein anderes nutzloses Fach, die wurden staendig geloechert, was sie spaeter damit anfangen wollten, so dass sie ganz zappelig wurden und ihr Selbstvertrauen verloren und manche fuehlten sich bald ihrem Fachgebiet nicht mehr gewachsen.

Maschinenbau, das hoerte sich zwar praktisch, nuetzlich und rationell an; aber die Industrie stellte viel weniger Ingenieure ein, als momentan ausgebildet wurden, das lag am Geburtenueberschuss in den 50er Jahren, und es gab angeblich serioese Berechnungen, nach denen sich diese Situation auf laengere Sicht nicht aendern wuerde, mindestens 15, 20 Jahre nicht, und solange, wurde unterstellt, wuerden diese armen Youngster arbeitslos sein, man konnte das nachgerade als Aufforderung betrachten, sein Studium hinzuschmeissen, auf jeden Fall demotivierte und verunsicherte es die Leute, der Wert der Ausbildung sank in ihren Augen auf den absoluten Nullpunkt, und manche machte es derart depressiv, dass sie behandelt werden mussten. Alle diejenigen aus der aelteren Generation aber, die es irgendwie geschafft hatten, in eine halbwegs gesicherte Position hineinzurutschen, ergoetzten sich an der Unsicherheit und hackten hartnaeckig in der Wunde herum.

Er hatte sich ein Sammelsurium von Reaktionen zugelegt, welche er ebenso beharrlich abspulte, ohne dass ihm diese halfen, die unangenehme Stimmung zu vertreiben, die solche Fragen unweigerlich verbreiteten.

"Ich weiss nicht genau, vielleicht gehe ich in den Entwicklungsdienst", erwiderte er gepresst. Das passte zu seiner sozialen Ader, und liess die Leute normalerweise nicht nachhaken, oder wenn, dann konnte man sich ueber den Entwicklungsdienst allgemein unterhalten, und war damit schon halb aus dem Schneider.

In Wirklichkeit hatte er null Bock auf Entwicklungsdienst; es kollidierte mit seinen technischen Interessen, irgendwo in der Wueste alte verstopfte Wasserpumpen zu reparieren, und womoeglich in eine Stammesfehde zu geraten und en passent von rivalisierenden Banden niedergemetzelt zu werden!

Und auf einmal war ihm die Schoenheit des Abends verdorben, der Stein, auf dem sie sassen, kam ihm eiskalt vor, und schmutzig, die Baeume schwiegen abweisend, und in der Luft hing ein sonderbarer Chemiegeruch, der seinen Atem zum Stocken brachte.

Abrupt sprang er auf und beendete die Gemeinsamkeit; ging zuhause gleich auf sein Zimmer, schaltete den Fernseher ein und liess sich entnervt aufs Bett fallen. 11 Uhr, die Nachrichten.


MONATE SPAETER ...

Es war 6 Uhr abends und Richard auf dem Weg nach Hause. Eine roetliche Sonne lenkte atemlose Strahlen wie kleine schnelle UFO's durch die Strassenschluchten und beschwingte die Schritte der Passanten.

Der Tag war warm gewesen, ungewoehnlich warm fuer Hamburger Verhaeltnisse, aber jetzt frischte der Wind auf und kuehlte kochende Koerper und Seelen.

Tage wie heute, an denen er nicht nach Harburg musste, weil manche Vorlesungen noch immer in der Bundesallee stattfanden, waren das schoenste. An solch lauen Sommerabenden verschmaehte er den Bus und wanderte zu Fuss von der Uni nach Hause, zuerst am Schlump und kleinen Schaeferkamp vorbei, durch den Schanzenpark zur Sternschanze und dann in die Susannengasse. Von dort ueber den Lerchenstieg in die Thadenstrasse und schliesslich durch's Gassengewirr von Alt-Altona nach Hause.

Mehrmals auf seinem Weg aenderten sich Publikum und Baustile. Beim Schlump sah man hauptsaechlich Gruppen schwatzender Studenten, die sich nach den Seminaren beim Griechen oder Italiener trafen, waehrend ihm in der Susannengasse Fremdarbeiterkinder und Deklassierte der Unterschicht begegneten, und ein paar ausgeflippte Jugendliche. Die Welt zerfiel. Die distinguierte und schweigende Mehrheit lebte zurueckgezogen in vorstaedtischen Neubausiedlungen, sie wusste und wollte nichts von diesem Milieu wissen, es gab keinen Ausgleich.

Der Umschwung setzte schon bei der Sternschanze ein. Einer der aeltesten Hamburger Bahnhoefe, Jugendstil, ueber und ueber mit wertvollen dunkelgruenen, ockerfarbenen und ehemals weissen Fliesen und Marmor bedeckt, erinnerte seine Form an eine Moschee aus dem Morgenland. Jetzt war er nur noch ein Schatten einstiger Pracht, eingeklemmt zwischen in den 50er Jahren eilig hochgezogenen Mietshaeusern, staubig und schmutzig, an vielen Stellen fast schwarz, wie von Kot besudelt; und wirklich hatten Generationen von Hunden und Betrunkenen seine glatten Waende als Abtritt missbraucht.

Vor dem Bahnhof waren Absperrstangen gezogen, die Fussweg und Strasse trennten und Autos am Parken hindern sollten. Ein Trupp junger Afrikaner mit Windjacken in schillernden Farben und amerikanischen Baseballmuetzen luemmelte darauf herum, die Ruecken zur Strasse, lachend und sich scheinbar gut unterhaltend. "Wenn nur keiner nach hinten faellt!" schoss Richard durch den Kopf. Er waere von den auf dem Kopfsteinpflaster wie besinnungslos vorbeirasenden Autos unweigerlich ueberfahren worden.

Er musterte die Gruppe im Voruebergehen. In einem der Ruecken meinte er Doug zu erkennen und wurde von einem sonderbaren Gefuehl der Fremdheit erfasst, nicht das einer einfachen Nicht-Zugehoerigkeit, das kannte er ... wenn andere was machten und ihn nicht mitmachen liessen, wenn sie ihre Vereine gruendeten und Insidergeschaeftchen betrieben, und man selbst war der Aussenstehende - nein, einer tieferliegenden Fremdheit ... und wahrscheinlich war es Doug in der Elbgasse aehnlich gegangen.

Er ueberquerte die Schanzenstrasse, ohne sich weiter um Douglas zu kuemmern. Ein paar Schritte Umweg und er befand sich in einer ruhigeren, fast stillen Umgebung. Die Susannengasse war eine lange schmale auf eine kleine Kirche zulaufende Einbahnstrasse mit den ueblichen weinroten Ziegelbauten - Ziegelbauten, so weit das Auge reichte, und Richard fragte sich, wann die Hamburger Zeit gehabt hatten, so viele dieser Haeusern zu bauen.

Indem er weiterging, kam ein uraltes, wenigstens 200 Meter langes Reihenhaus ins Blickfeld. Die Beschaffenheit der Anlage war so primitiv, dass normale Hamburger darin nicht wohnen mochten und die Stadt es schon laengst abgerissen haette, waere es nicht vor langer Zeit von fehlgeleiteten Inspektoren der Denkmalbehoerde unter Schutz gestellt worden.

Doch an wen es zu vermieten sei, liess sich das Liegenschaftsamt von der Denkmalbehoerde nicht vorschreiben; und in der Hoffnung, derweise die Substanz schnell zu verschleissen, hatte es ein cleverer Beamter hernach dem Studentenwerk angedient. So wurde es mittlerweile von einer unueberschaulichen Schar von Studenten und alternativen Jugendlichen bevoelkert und zu einer Art Happening Center umfunktioniert. Im Garten fanden abwechselnd bierselige Rockfeten und dilettierende Kunstausstellungen statt, und all diese Veranstaltungen hinterliessen einen Bodensatz an Rueckstaenden, und wiederholte naechtliche Farborgien anonymer Sprayer taten ein uebriges und verwandelten das dezent-weinrote Gartenlauben-Ambiente in ein grellbuntes Panorama. Die Buerokratie hatte es laengst aufgegeben und auch gar kein Interesse daran, genau zu erfahren, wer sich in den alten Gemaeuern herumtrieb und was darin vorging.

Richard kannte mehrere der Bewohner, hatte schon bei ihnen mitgefeiert und auf der Wiese gelagert, und so wurden seine Schritte automatisch langsamer, als er an dem halben Dutzend Muessiggaenger vorbeikam, die sich hingestreckt auf Stuehlen und Liegestuehlen der Sonne ergaben.

Doch niemand rief ihn an und im Weitergehen schweiften seine Gedanken in andere Richtungen. Ihm fiel Dagmars Brief ein, den er morgens bekommen hatte, liebevoll und derart unbeholfen, dass die meisten ihrer Formulierungen seltsam harmonisch geglaettet waren, als sie ihm jetzt durch den Kopf gingen:

"Mein Lieber, unser letzter Kuss liegt jetzt schon Stunden zurueck und bis zum naechsten ist es noch arg lange hin. - Obwohl wir uns vorhin noch gesehen haben, spuere ich eine grosse Sehnsucht nach dir, und ueberlege die ganze Zeit, wie ich an die Telefonnummer deiner Eltern kommen koennte, um deine Stimme zu hoeren." - Sie hatte den Brief am Samstag geschrieben, als er uebers Wochenende nach Tengern gefahren war. - "Dann waere ich dir schon viel naeher. Oh, bitte mach dein Versprechen wahr und ruf mich an, sobald du zurueck bist. Bis dahin muss ich mich mit meinen Erinnerungen zufrieden geben, und mit dem Photo, das du mir neulich geschenkt hast.

Gestern, als du mir gegenueber gesessen hast, in deinem schoenen buntkarierten Hemd, das dir so gut steht, mit dem feinen, zaertlichen Laecheln im Gesicht, schoss es mir ploetzlich durch den Kopf: Wie habe ich den Mann lieb!

Und heute beim Aufwachen, als du im Bad warst, konnte ich dich riechen, indem ich mein Gesicht ganz tief in deine Kissen drueckte. Wenn ich mich jetzt darauf besinne, fuehle ich dich ganz nah und bin gluecklich. Und wenn ich dann noch an deine warme Stimme denke, die mich so lieb umfaengt, und mir vorstelle, wie du mich beruehrst, wie du mein Haar und meine Wangen streichelst, gerate ich ganz aus dem Haeuschen.

Am schoensten aber ist das Gefuehl, wenn ich bei dir einschlafen, mich vertrauensvoll an dich kuscheln und die Nacht mit dir verbringen kann - auch wenn ich mir am naechsten Tag das Gemecker meiner Mutter anhoeren muss, wo ich mich wieder herumgetrieben habe.

Natuerlich habe ich Angst, dass es eines Tages vorbei sein koennte, dass du mich fallen laesst, wie mein erster Freund, von dem ich dir erzaehlt habe; doch da ist ein sonderbar starkes Vertrauen, weil unsere Liebesgeschichte erinnert mich an die von Steve Dinkey (du weisst doch, von den Ramones) und seiner Freundin. Ich habe den Artikel aus der 'Neuen Revue' ausgeschnitten und fuer dich aufbewahrt.

Diese Geborgenheit habe ich eigentlich schon bei unserem ersten Spaziergang empfunden, sonst haette ich es bestimmt nicht gleich so weit kommen lassen, das kannst du mir glauben.

Immer wenn wir uns verabschieden, du mit deinem ironischen oder traurigen Laecheln und ich mit ewig demselben Herzklopfen, moechte ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe und mir wuensche, dass es noch lange so bleibt ...", und in dem Stil ging es weiter.

Dreimal hatte er bis jetzt mit ihr geschlafen und anscheinend einen kolossalen Eindruck hinterlassen, jedenfalls nach ihren Briefen zu urteilen. Das war ganz ungewoehnlich, normalerweise war er es, der den Frauen hinterher lief.

Er war sich nicht sicher, ob ihm diese Fuegung besonders gefiel, und bei diesem Gedanken begann ihn sein Gewissen zu maltraetieren. Eigentlich hatte er laengst mit ihr sprechen wollen; um Stress und Aerger zu vermeiden, hielt er sie stattdessen in dem Glauben, alles sei in bester Ordnung. Konfliktscheu nannte man das.

Andererseits, dachte er, war es ihr Problem, wenn sie so auf ihn abfuhr, und keine Vorsicht walten liess, obwohl sie mit ihren negativen Erfahrungen realistischer sein muesste. Wer solche Briefe schrieb, durfte sich nicht wundern, wenn allzu hohe Erwartungen enttaeuscht wurden, besondere Versprechungen ewiger Liebe und Treue hatte er schliesslich nie abgegeben. Wenn es um die Zukunft ging, drueckte er sich absichtlich vage aus, und ueber die Gegenwart konnte man ehrlicherweise nur das Beste sagen. War es nicht immer schoen, mit einer Frau zu schlafen? (Ausser wenn sie ganz verkrampft waren, das war ihm frueher mal bei einer passiert, sowas konnte man sich schenken; mit Dagmar war es wirklich nicht schlecht, sie war bereit und offen und sie fasste sich gut an, er fand ihren Koerper unwiderstehlich.)

Das Problem war, sie passte nicht zu ihm. Er haette sich mit allen arrangieren koennen, mit der Lehrerin Ursula, der Friseuse Laura, Vera, der Sekretaerin. Aber Dagmar war einfach zu ... zu maessig. Wenn er mit ihr irgendwo aufkreuzte, erntete er zuerst mitleidige Blicke, wegen ihrer Behinderung, und dann abschaetzige. Ihr Haarschnitt, ihre Kleidung, nichts passte in die Szene, in der er verkehrte. Und selbst wenn es mal anders lief und seine Bekannten ueber Dagmar hinwegsahen: er genierte sich trotzdem.

Sie war einfaeltig und unheimlich langsam im Denken, und schlimmer noch: das sah man ihr an. Bis eine Idee zu ihr vorgedrungen war, hatte Richard sie schon wieder verworfen.

Und womit sie ihre Zeit vertat! Sie loeste Kreuzwortraetsel und las regelmaessig die 'Bravo', so dass sie sich mit T.Rex und Eros Ramazotti bestens auskannte. Wer sie aber nach dem Namen der franzoesischen Hauptstadt gefragt haette, waere leer ausgegangen. Und vollends schaltete sie ab, wenn man ihr - wie er neulich - beizubringen versuchte, dass der neue Kultusminister ein elender Buerokrat und sein Vorgaenger - nur einige Monate im Amt und ein Freund der Verleger - sich hauptsaechlich und erfolgreich um den Erhalt der Buchpreisbindung gekuemmert und anschliessend ein lukratives Angebot aus der Privatwirtschaft angenommen hatte, was Richard masslos erboste, da in seinen Augen zwar die Kultur eine Lobby verdiente, nicht aber diejenigen, die das grosse Geld mit ihr machten.

Das seltsame war, dass er trotzdem ganz gern mit ihr zusammen war. Mit ihr zu schlafen war wahnsinnig entspannend, kein Stress dabei, man konnte sie ein- oder zweimal hernehmen, wobei sie voll mitging, und danach entspannt mit ihr einschlafen, oder wenn man noch nicht muede war, herumbloedeln und irgendwelchen Quatsch erzaehlen.

"Wo ich herkomme, gibt es 2 Doerfer", war ihm neulich eingefallen, "Adelshausen und Odelshausen, die nah beieinander liegen. Wohl logisch, dass die Adelshausener auf die Odelshausener herabsehen und die Odelshausener sich wegen ihres Namens ein bisschen schaemen. - So ist das, hui und pfui liegen oft nah zusammen", und zum Beweis griff er nach ihrem Hintern, fuhr mit den Fingerkuppen ueber den Darmausgang, und dann weiter von hinten ueber die vom Samen noch feuchte Oeffnung der Scheide.

Er wusste nicht, warum er ihr solche Sachen erzaehlte, es war wohl einfach, dass er sich allzu sicher fuehlte, und deshalb fiel ihm, mangels anderer Themen, solcher Schweinkram ein. - Dagmar war es zufrieden, nach ihrer Ansicht bewies das, wie gut ihm die Liebe mit ihr gefiel, sie schloss die Augen und seufzte sinn- und hilflos gluecklich.

Angefangen hatte das Ganze vor 2 Wochen, als sie ihm zufaellig wieder ueber den Weg gelaufen war, praktisch an derselben Stelle, wo er sie von den Sittenstrolchen 'befreit' hatte, nur dass jetzt Sommer war und Taghelle und das Buschwerk zum Elbufer undurchdringlich gruen. Er hatte seitdem eine Ahnung entwickelt, wer sie gewesen sein konnten, die Kandidaten hingen meist bei der Frittenbude am Klopstockplatz herum, oder beim Kiosk, wo man auf dem Weg zur U-Bahn vorbeikam und manchmal auch einkaufte, aber was solls, dachte er, es war ohnehin zu spaet, etwas gegen sie zu unternehmen.

Er hatte sie schon von weitem erkannt, als sie um die Ecke bog (und sie ihn), und ihre Blicke liefen zwischen den Enden der Strasse wie Lichtstrahlen zwischen 2 Spiegeln. Er sah, wie sie sich ein wenig aufrichtete, ihre Schritte beschleunigte, wie von einem unsichtbaren langsamen Marsch oder Tanzrhythmus getrieben, so dass ihr Hinken kaum noch wahrzunehmen war, nur in seinem Kopf war es vorhanden, als Hindernis, sie attraktiv zu finden (denn es war kein anmutiges oder elegantes Hinken und weckte nur massvoll Beschuetzerinstinkte). Und als sie naeherkam, fiel ihm der weisse Reissverschluss ihrer billigen Regenjacke auf und die Bluse und der Schlag ihrer Hose, und das verkrampfte, gezwungene Laecheln auf dem breiten bleichen Gesicht.

Er gruesste und wollte vorbeigehen, sie aber blieb stehen, nahm all ihren Mut zusammen und zwang mit einer Geste auch ihn zum Halten und sagte, wobei ihre Stimme stolperte wie die einer unsicheren Schuelerin beim Abfragen, so dass er zuerst nicht verstand und nachfragen musste, "was essen?", und das verunsicherte sie noch mehr, aber sie riss sich zusammen, auch wenn ihr Gesicht noch bleicher wurde, schliesslich musste sie die Situation irgendwie meistern, ja-doch, sie wolle sich nochmals bedanken und ihn deshalb zum Essen einladen, zum Italiener in der Arnoldstrasse.

Seit Wochen hoffte sie auf den Zufall, ihm zu begegnen und ueberlegte dabei immerzu, was sie ihm vorschlagen koennte. Zuerst hatte sie mit der Idee gespielt, mittwoch abends, wenn die Eltern weg waren, fuer ihn zu kochen, eine verlockende Vorstellung, und billiger waere es auch gewesen, aber viel zu persoenlich fuer das erste Mal, und es fragte sich, ob man damit die gewuenschte Wirkung ueberhaupt erreichen konnte.

Wie das Geld fuer den Italiener aufzubringen sei, musste noch ueberlegt werden, von den paar Mark, die sie fuer die Aushilfe bekam, gab sie zuhause das meiste ab ...

So oder aehnlich hatte sie sich das Hirn zermartet und genau zurechtgelegt, was sie ihm sagen wuerde, doch eigentlich war sie unfaehig, seine Reaktion abzuwarten, sie hatte genug mit den eigenen Reaktionen zu tun, ihr Blick wurde finster von Unsicherheit, das Laecheln verschwand endgueltig aus ihrem Gesicht und eine sonderbare Kaelte ergriff sie. Wenn er jetzt nein sagte, wuerde sie vergehen vor Peinlichkeit, wie stuende sie da, als dicke aufdringliche Nudel, deren unerwuenschte Avancen man wie laestige Fliegen abwehrte.

Im Prinzip konnte er sich nichts schoeneres vorstellen als von einer wildfremden jungen Frau eingeladen zu werden, man musste selber gar nichts machen, keine Hemmschwelle ueberwinden und so weiter, und das Maedchen gefiel ihm auch, einerseits, ein bisschen jedenfalls und nach dem, was er unter Hose und Regenjacke wahrnahm. Es war nicht so, dass sie ihn voellig kaltliess oder gar abgestossen haette, wer das glaubt, hat die bisherigen Ausfuehrungen missverstanden.

Natuerlich blieben die Vorbehalte. Die lebten auf einer anderen Ebene und gediehen auf dem Naehrboden seiner Einbildung, was wuerden die Freunde sagen, wenn er mit dieser unbeholfenen Wachtel auftauchte (so, meinte er, wuerde jedermann denken).

"Du, ich habe bald Pruefungen", sagte er also entschuldigend und bewusst naiv, "ich muss abends meist lernen." Das war nicht mal gelogen, das bevorstehende Examen setzte ihn gehoerig unter Druck, er musste unbedingt mit den Vorbereitungen anfangen, sonst konnte es eng werden, mit schlechten Noten wuerde er nie Arbeit finden.

Er spuerte ihre Verzweiflung, und darin lag ein so ueberwaeltigender Zug Weiblichkeit, das haute ihn um, es war wie wenn der Duft einer Blume oder eines Fruehlingsmorgens oder der Hauch eines besonderen Parfums ein muedes Gemuet beleben. Und natuerlich ging auch der Eindruck ihrer Figur weiter in seinem Trieb hausieren, er hatte ja keine Alternative, war einsam und fraulos, ach was, dachte er, sich ueber alle inneren Einwaende hinwegsetzend, warum sollen wir's nicht mal versuchen, wenn ich sie jetzt abweise, bereu ich es hinterher, und vielleicht versaeume ich wirklich was.

Und kurz entschlossen warf er ihr nach, als sie sich, halb erstarrt vor Enttaeuschung, schon abgewandt hatte, "aber ich will jetzt gerade im Jenischpark spazieren gehen, wenn du magst, kannst du mitkommen."

Sie war nahe daran, ihn nun ihrerseits zurueckzuweisen, der Selbstachtung wegen, und weil sie fuehlte, dass seine spontane erste Ablehnung tiefere Ursachen hatte. Doch dann siegten lange aufgestaute Liebessehnsuechte, sie schluckte ihre Verwirrung ueber sein paradoxes Benehmen herunter und fragte unglaeubig: "Ist das wirklich dein Ernst, ich meine, du brauchst mich nicht mitzunehmen, nur weil du jetzt etwas Zeit hast. Auf dem Spaziergang moechtest du wahrscheinlich lieber allein sein."

"Nein, nein, im Gegenteil, komm ruhig mit, das heisst, wenn du magst", sagte er nachdruecklich, wobei er aufdringlich ihren Pullover fixierte, "vielleicht macht es sie sicherer", dachte er duemmlich, "wenn sie spuert, dass ich sie nicht voellig uebersehe". Weibliche Schuechternheit war ja ganz angenehm, sogar liebenswert, aber mit einer Frau, die sich staendig fuer ihre Anwesenheit entschuldigte, konnte man nicht viel anfangen.

Sie mochte; und Zeit war auch kein Problem, weil sie gerade von der Arbeit in der Rathauskantine kam, wo sie die Speisen ausgab.

"Ich heisse uebrigens Richard", sagte er freundlich.

"... und ich Dagmar", erwiderte sie. Sie schluckte und dachte, dass seine Brillenglaeser die schoensten und ausdrucksvollsten Augen umrahmten, die sie je gesehen hatte. Er war wie ein Held, wie ein millionenfach geliebter Fernsehstar, und sie hielt sich fuer vermessen, zu hoffen, dass er sich je ernsthaft fuer sie interessieren koennte.

Mit so verteilten Rollen brachen sie auf, und nach ein paar Stationen mit dem Bus die Elbschaussee hinunter, denn sein Auto stand seit Wochen kaputt in der Elbgasse, und ihr leuchtendes Gesicht gegen die Scheibe gedrueckt, weil sie ihn nicht staendig ansehen wollte, standen sie unweit des hohen Gatters auf dem weiten Vorplatz des Parks, von wo man alle Richtungen einschlagen konnte, zur Elbe hin oder mehr zu den alten Eichen oder zu den botanischen Anlagen.

Er entschied sich fuer die Eichen, nicht ohne Hintergedanken, und zum Warmwerden vorher ein Schlenker ueber den kuenstlichen Huegel, wo Wasser hochgepumpt wurde und in Kaskaden herunterstroemte, an einigen Stellen fuehrten geschwungene Bruecken ueber den Bach, und einmal blieben sie stehen, um auffliegenden Enten nachzublicken, worauf Stille einkehrte, bis ein einsamer Frosch zu quaken begann.

Er erzaehlte von seinem Studium, seinen Freunden - und vom Auto ... dass die Lichtanlage unbedingt ausgewechselt werden musste, doch er komme zu nichts, die Pruefungen!, und sie hoerte die ganze Zeit aufmerksam-andaechtig zu.

Neben den Wegen wechselte wild wachsender Wald mit Beeten, wo Planten und Bloomen in Reih und Glied gesetzt waren, dann wieder freie Flaechen, einzelne Straeucher mit Stecktaefelchen, auf denen ihre botanischen Namen verzeichnet waren, meist Begriffe, mit denen niemand was anfangen konnte und die Dagmar mit wachsendem Vergnuegen, Richard aber mit einer geheimen Unruhe las, beide wussten, dass er jetzt am Zug war.

Die Anlage war so eingerichtet, dass man von jedem Standort das etwas erhoeht stehende weissgetuenchte Herrenhaus wahrnehmen konnte, dessen fruehere Besitzer ihr den Namen gegeben hatte. "Der Kasten sieht dem Altonaer Rathaus so aehnlich ... das muss ein und derselbe Architekt verbrochen haben", sagte Richard fachmaennisch, und weit und breit gab es niemand, der sein Urteil korrigierte, Dagmar nickte nur zustimmend, sie haette allem zugestimmt, was er sagte.

Und wenn er uebergangslos auf ein anderes Thema kam, stoerte sie das auch nicht, im Gegenteil, sie liess ihn reden, sie war zufrieden, wenn sie selbst nichts zu sagen brauchte; und er begann von seinem HP41C zu schwatzen, dem ultimativen Modell eines Taschenrechners, der ihn seine letzten Ersparnisse gekostet und Hewlitt und Packard reichlich Gewinn gebracht hatte. Denn der HP41C war ein Must-Have in den Praktika der Ingenieure, wer auf sich hielt, hatte ihn staendig in einer Spezialtasche am Guertel haengen; und wieder lauschte sie atemlos mit offenem Mund, so dass er ihre Zaehne sehen konnte, was ihn sonderbar sexuell stimulierte, aber nicht aus dem Takt seiner Rede brachte.

Als sie den hinteren Teil des Parks erreichten, wo man sich hinter den Eichen unbeobachtet fuehlt, legte er den Arm von hinten auf ihre Taille, sie spuerte wohlig und aengstlich das Draengen, welches dahinterstand, und jaehes Glueck durchfuhr ihre Seele, dass ihr schwindlig wurde, nur gut dass sie sich an ihm festhalten konnte.

So bewegten sie sich eine Zeitlang voran, langsamer werdend (und keiner wagte, seine Relativposition zu veraendern, allzu berauschend und gefaehrdet schien dieser Zustand), und unwillkuerlich nach abseits auf die schmalen mit Blattwerk verhangenen und vom gestrigen Regen noch klammfeuchten Wege, und ungeschickt wichen sie bald einem Trupp neugieriger Gartenarbeiter, bald einem aeltlichen Ehepaar aus, das solch heimliche Plaetze sicher nicht noetig hatte.

Endlich wagte er, sie frontal an sich zu ziehen. Dagmar wusste zuerst nicht, wie sie sich drehen und stellen sollte, wie er es haben wollte, nur unbedingt rechtmachen wollte sie es ihm, und liess sich dann einfach fassen und halten, und irgendwie trafen sich ihre Gesichter, sie schlossen die Augen und und verschmolzen, versanken ineinander, schoben Sorgen und ueberfluessigen Tiefsinn beiseite, und auch alle ueber den Augenblick hinausweisenden Empfindungen.

Er konzentrierte sich auf die Weichheit ihrer Lippen und Wangen und ihres an ihn sich pressenden Leibes, er vergass ihre Unzulaenglichkeiten und begann, verschiedene besonders empfindliche Koerperstellen zu streicheln, immer gieriger werdend, wobei wiederholtes Aechzen ihm ihre Uebereinstimmung anzeigte, und verging fast ueber ihre seidene weibliche Fuelle und Ueppigkeit.

Und sie, sie verlor vollends die Fassung, als sie ploetzlich unten seine Haerte spuerte, erstarrte fuer einen Moment und liess ihre Arme willenlos haengen.

"So", dachte er, "das ist also der Weg, auf dem man sich gut mit ihr unterhalten kann", und es machte gar nichts, dass sie vorhin wenig zum Gespraech beigetragen hatte, nur stockendes, unsicheres Stottern und Lachen, so dass keine zusammenhaengende oder gar fluessige Konversation zustandegekommen war, nur ein frustrierendes semantisches Abtasten geringer Moeglichkeiten, nicht zu vergleichen mit dem realen Abtasten, welches er gerade an ihr vornahm und sie beide zu hoechsten Graden gegenseitigen Verstaendnisses aufsteigen liess.


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