In der S-Bahn


Er sass mit Hunderten von Pendlern eingepfercht in der S-Bahn, auf dem Weg zu seinen Vorlesungen in Harburg. Muede stuetzte er das Kinn auf die Handflaeche, waehrend er vor den am Fenster vorbeifliegenden Baeumen die Augen schloss; dann blinzelte er zu den anderen Fahrgaesten und ueberlegte, was fuer ein Leben sie fuehren mochten. Die acht Plaetze in seinem Abteil konnte er genau ueberblicken.

1 2 Gang 3 4
5 6 Gang 7 8

Gegenueber sass ein Mann(2) mit einer unfoermigen Rechenmaschine auf dem Schoss, kerzengerade um die 40 mit Bart, erste Spuren des Alterns im Gesicht, und klickte emsig auf die Tasten. Wie konnte man so frueh am Morgen schon so rege sein? Und raumgreifend, es scherte ihn wenig, dass er Richards Knie mit seinem Instrument zur Seite drueckte. - Das Herumgeklicke schien ihm Spass zu machen, doch beindruckte er niemand damit, die meisten gaehnten ihn an. Gleich wuerde er in seinem Buero sein, wo eine Menge solcher Apparate herumstanden, Leiter einer EDV Verwaltung, das war sein beschraenktes zufriedenes Leben.

Schraeg rechts luemmelte ein juengerer Mensch(3) mit markanten Zuegen, und tauschte Blicke mit Nummer 5. Bartstoppeln am Kinn, erotisch erfahren. Bis jetzt beruflich erfolglos, hatte nichts, was ihn ausfuellte; doch wuerde er seinen Weg machen, mit seiner Ausstrahlung bald einen krisenfesten Job finden und gar nicht schlecht verdienen dabei und sich einen relativ aufwendigen Lebensstil leisten.

5 war eine herbe Blondine, die unwillig ihre Tasche weggeraeumt hatte, als Richard in Altona zugestiegen war und ihn seither keines Blickes mehr wuerdigte. Sie studierte Geographie(Lehramt) und wohnte mit ihrem Freund, einem Bankangestellten, in Pinneberg. Aus ihrer beider momentan recht unterschiedlichen Form der Betaetigung resultierte ein subtiles Gefaelle von Stil und Lebensanschauung, welches die junge Frau fuer Flirts anfaellig machte (mit Nummer 3 zum Beispiel; auch wenn sie nicht wusste, wie sie reagieren wuerde, falls er sie anquatschte). Doch keine Angst: abgesehen von der Frage, ob sie ihm ueberhaupt gefiel, hatte er in der morgendlichen Hektik sowieso keine Zeit dazu ... und ausserdem eine feste Freundin und mindestens noch eine andere, mit der er gelegentlich schlief. Richard vermochte sich nicht vorzustellen, wie diese Frauen aussahen und wie der andere sie kennengelernt hatte, eins war allerdings sicher: sie hatten es ihm wunderbar leicht gemacht, er hatte nicht gross hinter ihnen herrennen muessen.

Auf den Fensterplaetzen 4 und 8 sassen zwei junge Frauen, dunkelhaarig, eine schlank, die andere fuelliger ohne dick zu sein; sie kannten sich, waren zusammen eingestiegen, aber redeten wenig. Die Fuellige hatte ihr herrlich dichtes Haar zu einem festen Zopf geflochten, ihre Haut war gesund und rosig. Sie guckte dreimal schnell zu ihm hin (und viermal zu dem anderen Juengling), aber er war zu muede fuer irgendwelche Reaktionen, und doeste, und spekulierte, wohin das Leben sie fuehren wuerde.

Die beiden studierten Sozialpaedagogik an der Harburger Fachhochschule, das war es, und wohnten noch bei den Eltern, und schlugen niemals ueber die Straenge. Die Schlanke hatte einen Pagenschnitt und sehr grossporige Gesichtshaut und einen Freund, bei dem sie manchmal uebernachtete. Die Dickliche haette auch gern einen Mann, mehr erwartete sie nicht vom Leben.

Auf 1 sass ein Polizist, ordentliche Buegelfalte in der gruenen Uniformhose; las irgendso ein Katastrophenbuch ueber den bevorstehenden Weltuntergang, worin alles moegliche technische oder sonstige Unheil genau beschrieben war, und Vorkehrungen, ihm zu entgehen - eine weichgespuelte, in Schlips und Kragen verpackte Version der Apokalypse, an der man sich wohlig reiben konnte, und als deren Vorbote jener die marginalste Unordnung empfand, jedes Staubkorn auf der Hose stoerte ihn und musste gnadenlos beseitigt, aeh entfernt, werden. -

Harburg. Von der Bahnstation begab er sich auf gewundenen, neu angelegten und von mikrigen, unentschlossenen Baeumchen gesaeumten Pfaden zu den Neubauten der Fakultaet. In der Ferne wurden Dutzende weiterer Gebaeude hochgezogen, unaufhoerlich lieferten Transporter Material an und hohe Kraene schwenkten schwere Lasten durch die Luft (lautlos, denn der Laerm veroedete in der Weite der laendlichen Landschaft).

Das Institut fuer Maschinenbau war eine seltsame, von Stahlrohren stabilisierte Konstruktion, von Blechen und Leitern bis zum obersten Stock verkleideten. Schwer zu sagen, ob man bei dem Bau nur Understatement gepflegt oder zuwenig in die Substanz investiert hatte, das wuerde sich erst viel spaeter erweisen.

-------

Was hinter den Mauern studiert wurde und womit Richard dort seine Zeit vertat, ist unerheblich. Spaetnachmittags jedenfalls waren die Vorlesungen vorueber und man strebte zurueck in die Stadtteile, wo man wohnte und seine Freizeit verbrachte. Richard liess sich mit hunderten Leuten zur Station treiben, wo sie wie brausende Brecher in die einlaufende Bahn schwappten.

Um ihn her sassen fast lauter Freunde und Bekannte: Micha (mit dem bemerkenswerten Nachnamen Nastvogel-Woerz), Hans-Detlev Olsen, den sie Ole nannten, und Kuno und Mutzel, von denen er nur die Spitznamen kannte, weil er nicht viel mehr mit ihnen zu tun hatte, als in Hoersaelen und Uebungsraeumen beisammen zu hocken, technisches Wissen aufzunehmen oder auszutauschen und zuweilen kindisch herumzualbern.

Kuno(1) Richard(2) Gang ?????(3) DieMutter(4)
Mutzel(5) Olsen(6) Gang Micha(7) DasMaedchen(8)

"Habt ihr gestern Hallervorden gesehen? Die Wiederholung?"

"Nein, ich habe FC St. Pauli gegen Bayern ..."

"Das war vielleicht ein Gekeckere in dem einen Spot?"

"Sie haben's tatsaechlich gebracht, zweimal die gleiche Werbung hintereinander."

"Ich hab da nich viel von gesehen, musste den Abwasch machen. Hast Dus gesehen?"

"Der HSV hat sich auch total blamiert."

"Waa geil, nae? Wo ist der Blinker, ... wo ist der BLINKER?"

"Ey Mann, gestern wollte ich in der Uni fuer kleine Maedchen, und vor mir ging noch ein anderer rein. Erst durch den Waschraum, und dahinter der Raum mit den Klos. Gleich wo man reinkommt ist zwischen den Urinbecken und der ersten Klotuer ganz wenig Platz. Ploetzlich rauscht das Wasser in der Schuessel, die Tuer wird aufgestossen und knallt dem vor mir voll an den Kopf. So was hab ich noch nicht erlebt, Mann, der hatte vielleicht ne Beule! Und der Andere hat sich ueberhaupt nicht entschuldigt."

Redeschwall huellte ihn von allen Richtungen ein. Eigentlich war er im Moment nicht zum Juxen aufgelegt, konnte sich aber der Dynamik des Jargons nicht enziehen.

Micha war da konsequenter. Ein ernsthafter Zeitgenosse mit eifrigem Interesse an jederart von elektronischen Schaltungen und mechanischen Konstruktionen, hatte er sich auf die andere Seite des Ganges plaziert und gar nicht erst versucht, sich an den Spaessen zu beteiligen, sondern gleich eine Zeitschrift aus der vom Vater geerbten krachledernen Aktentasche gezogen und sich darin vertieft, ein Fachmagazin mit einem grossen silberglaenzenden Oszilloskop auf der Titelseite und worin es vor Frequenzsignalen und Signalsequenzen und Fachausdruecken wie 'Phasen-daempfungs-faktor' nur so wimmelte.

Er war unsportlich. Er verachtete die Hirnlosigkeit jeder Koerperertuechtigung. Doch es gelang ihm, mit kompetenten oder Kompetenz ausstrahlenden Reden den linkischen Rhythmus seiner Koerpersprache zu ueberspielen. Waehrend die meisten Menschen komplexere Zusammenhaenge meist nach kurzer Zeit vergessen, sich nur an Schlagworte erinnern und den Rest in Buechern oder Aufzeichnugen nachschlagen muessen, war Michas Kopf ein wandelndes Ingenieurslexikon und hatte zu den abseitigsten technischen Themen etwas beizutragen. Er trug eine starke Brille, Modell Kassengestell, was ihm nicht das Geringste ausmachte, und seine Haare waren sorgfaeltig nach vorn gekaemmt und endeten exakt 1 cm ueber den Augenbrauen. Inneres wie Aeusseres, das laesst sich ohne Uebertreibung sagen, verkoerperten die hoechste Stufe, die Avantgarde des technokratischen Ideals.

Er liess sich von nichts aus der Ruhe bringen und haette seine Zeitschrift wohl auch heute von der ersten bis zur letzten S-Bahn Minute gelesen, um auch ja nicht eine Sekunde Lebenszeit zu vergeuden, waere nicht fortwaehrend ein empfindlich kalter Luftzug ueber seinem Kopf gezogen. Hals, Nase, Ohren, das waren seine Schwachstellen, seitdem er als Abiturient eine Mittelohrentzuendung verschleppt hatte, um an einem Industriepraktikum teilzunehmen. Sobald im Herbst die Temperaturen fielen, suchte er Schals, Muetzen und Ohrschuetzer aus dem Schrank und verhuellte sich bis zum Fruehjahr darin.

Nachdem er festgestellt hatte, dass einfaches Hochziehen des Kragens keine Abhilfe schaffte, war er gezwungen, seine Zeitschrift beiseite zu legen, sich zu erheben, ueber seine Nachbarin zu beugen, ein Vorgang, welcher ihm ausserordentlich peinlich war, und mit einem Ruck den offenen Fensterspalt zu schliessen. Die beiden Damen sahen nicht eben erfreut aus, es war ihnen zu stickig hier, da nicht alle anwesenden Studenten des taeglichen Waschens sich befleissigten, sie hielten aber vorlaeufig den Mund.

Im Keller seiner Eltern hatte Nastvogel einen Arbeitsraum eingerichtet, eine Art Universalwerkstatt fuer Mechanik, Elektronik, Chemie, Vakuumtechnik und so weiter, und in den Schubladen seiner Werktische huetete er so elitaere Geheimnisse wie einen selbstgeschliffenen Hohlspiegel, der einmal in ein Teleskop eingesetzt werden sollte, dessen automatischen Antrieb er noch entwickeln wollte, Kupferplatinen mit Schwingkreisen fuer sich selbst regelnde Funksender und braune, dickfluessige Loesungen, mit denen hochreine Siliziumoberflaechen hergestellt werden konnten. Doch wollen wir unsere Nase nicht zu tief in sein Labor stecken, da es dort entsetzlich nach Chemikalien riecht. Kuemmern wir uns stattdessen um Richard, auch er still dasitzend - ein Aussenstehender haette niemals erraten, was in ihm vorging, oder ob ueberhaupt etwas in ihm vorging, waehrend er die Freunde beobachtete, wie sie hingebungsvoll herumbloedelten, oder starr und gelangweilt aus dem Fenster in die Ferne blickte.

Sein Blick wurde von dem Maedchen(8) angezogen, 16 oder 17 und voll geschlechtsreif, sie hatte etwas geradezu aufdringlich fruchtbares an sich (was anscheinend selbst Micha irritierte), und besonders fiel ihm das helle Handgelenk auf. Wenn sie waehrend der Unterhaltung mit ihrer Mutter den Arm drehte, so dass es ganz sichtbar wurde, haette er schier durchdrehen koennen. Und alldas (sein Fast-Durchdrehen) wurde vom rhythmischen Schaukeln des Zuges begleitet, das doch nicht vollkommen periodisch, nicht vollkommen mechanisch war, sondern an den Vorgang des Geschlechtsaktes erinnerte, und er fragte sich, ob Frauen dieses Geschaukel anders empfanden, weil sie es mit anderen Erfahrungen, einer anderen Sichtweise der Liebe in Verbindung brachten, inwieweit also die weibliche Lust von der maennlichen sich unterschied; nicht das ganze Drumherum, das war bei Frauen sowieso anders als bei Maennern, auch wenn dies in einschlaegigen Illustrierten bezweifelt wurde, nein, das Zentrum der Lust, den Vorgang, wenn sich das Glied an der Scheidenwand rieb, den mussten sie anders empfinden.

Auf das fuer'n Schwachsinn man kam, wenn man seit Monaten keine Frau gehabt hatte! - besonders angesichts dieser Lolita, die so nah schien und doch so weit entfernt war, und er zwang seinen Geist auf das Geschwaetz der Kommilitonen zurueck, und schallt sich seiner Fixierung, besonders als die Kleine ihn endgueltig keines Blickes mehr wuerdigte, Sex und immer wieder Sex, darum kreisten alle Bewegungen der lebenden Materie. - Aber musste man dem Trieb immer nachgeben? Nein, man konnte sich ablenken auf verschiedene Weise, mit billigem Ulk oder elektronischen Schaltkreisen.

Sein Blick wanderte zu ihrer Mutter herueber und er fragte sich, ob sie frueher genauso huebsch gewesen war wie ihre Tochter. Sicher von anderer Art huebsch, dachte er, sie war ein dunklerer Typ, mit jetzt ganz grauen Haaren. Bei aelteren Frauen war es meist schwer, sich vorzustellen, wie sie frueher ausgesehen hatten, genau wie man sich bei den Juengeren, besonders wenn sie huebsch waren, kaum vorstellen konnte, wie sie spaeter aussehen wuerden, zu stark dominierte die sexuelle Anziehungskraft (oder die maennliche Wahrnehmung derselben) die uebrigen Zuege.

Wenn man die Alte genau fixierte und danach die Augen schloss, liess sich aber doch ein ungefaehres Bild von ihr als junger Frau entwerfen, eine vormalige Attraktivitaet erahnen, sie schien auf wie ein kurzer Lichtblitz, welcher die Vergangenheit erhellte und die Falten verdraengte, jedoch viel zu schwach, um die Generationen sexuell einander anzunaehern.

Hinten im Abteil entstand Bewegung, die Tuer wurde geoeffnet und zwei seltsame dunkle heftig gestikulierende Gestalten schwankten herein, fanden keinen Platz in dem uebervollen Waggon und blieben neben ihm stehen, um die 50, in dunklen Anzuegen mit Mienen wie Sargtraeger, und zu geschaeftig in ihrer Debatte, um die uebrigen Fahrgaeste auch nur wahrzunehmen, besonders der eine, der wie mit Trommeln auf den andern einredete, ueber einen Vortrag an der Sternwarte sprachen sie, Wissenschaftshistorie, wie Heisenberg seine Wellenmechanik gegen Bohr verteidigt und Bohr dies gesagt und Heisenberg jenes geantwortet hatte, und jedesmal, wenn der Name Heisenberg fiel, lief Richard ein Schauer ueber den Ruecken, so andaechtig wurden die Silben geraunt, und der eine insistierte auf das Jahr 26, der andere meinte, es sei schon 25 gewesen, und Richard musste an die graue Bueste im Dekanat denken, diese sonderbare Trophaee, welche wie der praeparierte Kopf eines erlegten Wildes hoch oben aus der Wand ragte, und an Professoren, welche nach ihren Sitzungen darunter tuschelten, "Heisenberg is a nice young guy, everybody likes him" (Planck an Einstein). Doch selbst Nastvogel-Woerz, welcher am ehesten durch solche Diskussionen zu beeindrucken gewesen waere, hoerte nicht hin, er las seine Elektronikzeitschrift. Sic transit gloria mundi, nach den Heroen starben ihre Bewunderer, und die neuen Generationen interessierten sich nicht mal mehr fuer die Raumfahrt.

"Das ist noch gar nichts", gackerte ploetzlich Kuno dazwischen, "ich war neulich zufaellig auf dem Lokus im 3. Stock, da ist immer wenig los, ausser ein paar Assis, die ihre Bueros da haben, verirrt sich kein Mensch dahin, und wollte gerade lospinkeln, da ertoent hinter mir ein piepsiges Stimmchen. 'Koennten Sie mir eventuell helfen?' Da war einer eingesperrt und kam nicht heraus, weil die Tuer klemmte, und er hatte sich nicht getraut, gross Radau zu machen und ein gemuetliches Stuendchen dort zugebracht."

"Ja ... die Klos an der Uni sollten besser ausgestattet sein, wenigstens ein Klingelknopf hinter jedem Thron" ... "eine Sprechanlage zum Hausmeister" ... "ein Telefon" ... "eine Dusche", so ueberbot man sich gegenseitig, die Jugend triumphierte, sie liess sich nicht aufhalten, auch durch Heisenberg nicht.

Und bevor die beiden Alten sich wieder konzentrieren konnten, erzaehlte Kuno weiter: "Und letztes Jahr war ich mit Interrail in Italien, ganz runter bis Positano, und schon als wir ueber den Brenner fuhren, war der halbe Zug besoffen und die Latrinen alle verstopft, von der Kotze oder weil die Leute Papier reingeworfen oder irgendwelchen anderen Scheiss gemacht hatten, aber denen, die ganz dringend mussten, war das egal, wenn du viel Bier gezwitschert hast und wirklich pinkeln musst, und hast es stundenlang aufgehalten, ab einem bestimmten Punkt ist dir egal wohin du schiffst, Hauptsache du kannst ueberhaupt ... die Schuesseln standen randvoll und das Wasser lief durch die Gaenge nach hinten, waehrend der Zug den Brenner hinauffuhr, und als es hinter der Grenze runter nach Italien ging, floss alles wieder retour, ich kann euch sagen ... es stank, und wer keinen Platz im Abteil hatte, sondern auf dem Gang sitzen musste, war arm dran, kann ich euch sagen, der musste zusehen, dass ihm Hintern und Rucksack nicht nass wurden."

Richard fragte sich, warum er keine Frau fand. Bei Andern lief alles so problemlos. Sogar Mutzel hatte eine Freundin, sie sah zwar ziemlich buergerlich aus, mit Brille und glatten langen Haaren, eben wie die Freundin von Mutzel oder wie eine, die sich nicht traut, aber immerhin eine Freundin.

Er wusste, dass er einen heimlichen Wunsch in sich hatte nach Familienglueck, nach Kleinfamilie, mit allem Drum und Dran. Vielleicht nicht gerade im Moment. Aber man erlebte es schon bei einigen aus den hoeheren Semestern, wo es Ruckzuck ging, die waren dann ploetzlich weg und sassen in irgend so einem Nest. Eigentlich abschreckende Beispiele.

Eine Frau zu suchen war neben dem Studium inzwischen seine unerquicklich-unergiebige Hauptbeschaeftigung, das war traurige Tatsache, und alle anderen Interessen litten natuerlich darunter. Bei den Ingenieuren sah es mit Frauen generell schlecht aus, von daher haette man doch was anderes studieren sollen, Jobs wie Frauenarzt oder so, die waren ideal. Nicht nur wegen der vielen Krankenschwestern. Erst konnte man sich die Braeute bei der Untersuchung genau ansehen und die besten aussuchen und dann im Anschluss, bevor man sich von ihnen verabschiedete, war man allein mit ihnen und konnte hoeflich und beilaeufig fragen, ob sie Lust hatten, mit einem auszugehen. Wenn nicht, wars auch gut. So hatte man jederzeit alle Moeglichkeiten.

Aber leider, der Zug war abgefahren, in Medizin war Numerus Clausus, und die Arbeit an sich reizte ihn auch nicht sonderlich.

Ach Scheisse, diese Fantasien waren der reine Schwachsinn, dachte er wieder, kein Frauenarzt konnte es sich erlauben, staendig geil herumzurennen, und wenn die alten, kranken Weiber ankamen, war es mit der Geilheit sowieso vorbei. Ausserdem, 50 Prozent der Menschheit bestand aus Frauen und in seinem privaten Umfeld turnten eigentlich genug herum, das war gar nicht das Problem; nur irgendwie schien es fuer ihn die richtige nicht zu geben.

Manchmal huschte die ideale Frau am Rande seines Blickwinkels vorbei, beim Einkaufen oder im Gedraenge von Bahnhoefen, und sie schien es immer besonders eilig zu haben, so dass er sie nicht genauer begutachten, geschweige anquatschen, und nur spekulieren konnte, dass es seine Idealfrau war ... - Und manchmal wurde er vor lauter Verzweiflung ueberheblich, dann fand er an Jeder etwas auszusetzen, und sei es nur, bei den Huebscheren, dass etwas Unwahres in ihren Blicken lag.

Kunos Bloedsinnigkeiten drangen wieder an sein Ohr, das war schon ein Witzbold, der einen stundenlang unterhalten konnte, aber nur unter Freunden, bei Frauen und Fremden wurde er ganz klein und still, mit seinem Ohrring. Und man sah genau den Unterschied zu Ole, der ebenso gern redete, doch mit ganz anderer Koerperhaltung; waehrend sich Kuno laessig zuruecklehnte, straffte sich Oles Oberkoerper beim Sprechen, er beugte sich unmerklich vor, um dem Anderen ins Gesicht zu starren, und arbeitete viel mit den Haenden.

Ole trug Stoffhosen, keine Jeans. Er war der Kommilitone mit den kuerzesten, schon schuetteren Haaren und fortwaehrend lachenden Augen; es war nicht so, dass er staendig vor guter Laune ueberschaeumte, sein Laecheln war feinsinniger, subtiler, und doch auch Appretur seines Gesichtes, welche er abzulegen nicht in der Lage war, selbst wenn er etwas Negatives oder Trauriges mitzuteilen hatte. Er lebte allein in einer kleinen Eigentumswohnung in westlicher Richtung, die sein Vater angeschafft hatte und neuerdings wieder verkaufen wollte, weil ihm die Steuerersparnis nicht hoch genug war, und weil es Ole bequemer fand, fuer die restliche Zeit des Studiums nach Harburg zu ziehen, die Zugfahrt nervte gewaltig, er hasste oeffentliche Verkehrsmittel und mied sie, woimmer sie sich meiden liessen (und jeden Tag mit dem Auto von Lurup nach Harburg?, unmoeglich!, da kam man morgens aus dem Stau nicht heraus!)

Er hatte sich ueber sein Leben nie viel Gedanken gemacht, war auch nicht noetig, er wuerde eines Tages den Betrieb uebernehmen, das war so vorgezeichnet und er war auch bereit dazu. Einmal, 67/68, in der Rezession, hatte es Verluste gegeben und die kleine Fabrik stand angeblich kurz vor dem Aus, aber Ole hatte das Gerede nicht ernst genommen, er wusste, dass sein Vater durchhalten wuerde. Und dann waren staatliche Hilfen gekommen.

Es schien niemand zu stoeren, und stoerte ihn selbst am wenigsten, dass er nicht recht zu Richards anderen Freunden passte. Bei Besuchen in der Klopstockterasse verkehrte er mit ihnen in einem saloppen unbekuemmerten Tonfall, der seine eigentlichen Ansichten verbarg, welche dort keinen Beifall gefunden haetten, mit Kalle, Dieter und Ali war er schon mehrmals einen saufen gegangen, und bei diesen Besaeufnissen hatte er verkuendet, was heute Drogen, Sex und Kommunismus heisse, habe man frueher Wein, Weib und Gesang genannt. Und auf Gesang koenne er, wie die Meisten, notfalls verzichten. Und als sie zum Ideologischen uebergegangen waren, also doch zum Gesang, und er sich ausnahmsweise, des Weines wegen, nicht zurueckhalten konnte, als Dieter von seiner Landkommune anfing, wo jeder genau gleich sei, die gleichen Rechte habe und Pflichten, und wo es keine Macht gebe, und keine Machtspielchen, und Geld keine Rolle spiele, da hatte er unglaeubig den Kopf geschuettelt und zu einer Generalabrechung ausgeholt.

Schoen und gut sei das alles; es gebe indessen einige wichtige praktische Gesichtspunkte, die der Gleichheitsidee, oder solle man besser Gleichheitswahn sagen?, zuwiderliefen. Die niederen Arbeiten in der Gesellschaft wuerden vielfach von tumben Naturen uebernommen, wobei die Frage, ob sie urspruenglich tumb gewesen oder durch Umwelt und Erziehung erst so geworden, zweitrangig sei. Der Tumbe interessiere sich auf jeden Fall nur fuer tumbes Zeug und kaum je fuer seine Lage.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der der Gleichheit der Individuen zuwiderlaufe, sei der Fortpflanzungsaspekt. Die Fortpflanzung mache die Menschen gleichzeitig gleich und verschieden. Sie seien gleich in der Moeglichkeit, sich mit dem anderen Geschlecht zu vereinen, aber zwangslaeufig verschieden in der Realisierung. Er grinste, als waere ihm damit etwas ueberaus originelles eingefallen. Vielleicht sei so die Natur des Lebens ueberhaupt! Sobald sich Mann und Frau paarten, schloessen sie andere Maenner und Frauen von ihrem Zusammensein aus, machten sie ungleich.

Uebrigens sei auch der Tod ein Hindernis der Gleichheit, hatte er dann noch gesagt und nicht gewusst, wie er auf solche abstrusen Ideen kam, und daher werde es zwischen den Generationen immer ein Ungleichgewicht geben. "Kuckt Euch die Alten an", rief er, "mit denen hat doch keiner was am Hut, das beginnt schon bei den 40jaehrigen, die meisten werden von uns gar nicht ernst genommen, abgesehen von ein paar Obergurus, die wir aus irgendwelchen Gruenden bewundern und zu Vorbildern erklaeren, und irgendwie spueren sie das, selbst wenn sie eine Machtposition haben, und das ist vielleicht das Geheimnis, warum sie sich so leicht provozieren lassen." Und er koenne sich nicht vorstellen, wie sich all diese Ungleichheiten, die sozialen, die ontologischen und die biologischen, jemals ueberwinden liessen.

Nun in der S-Bahn meinte auch er, eine Story zum besten geben zu muessen. "Ein paar alte Schulfreunde aus Kiel haben mich neulich am Wochenende besucht, sie wollten in Hamburg was erleben, 'in Hamburg sind die Naechte lang' und so, ihr wisst schon,und wir sind ueber die Reeperbahn gezogen, die ganze Samstagnacht, den Sonntag haben wir verschlafen und sind abends wieder los, mein Bruder war auch mit dabei, und haben keine Kneipe ausgelassen und sind zum Schluss in einem Zelt auf dem Dom versackt.

Fuer den einen kams dann am Montag ganz dicke, der musste Klausur schreiben und hatte gemeint, die Zechtour werde ihn nicht beeintraechtigen, ein zwei Naechte durchmachen, das wuerde er wohl verkraften, und haette ihn auch normalerweise nicht beeintraechtigt, aber wir hatten schlechten Wein getrunken in so einer Kascheme um halb eins, und um acht musste er antreten, und ihm war kotzuebel, und um halb neun wars dann so weit, er stand auf", Kunstpause, Ole war nahe daran ebenfalls aufzustehen, um der Dramatik jenes Augenblicks hoeheren Ausdruck zu geben. "und reiherte los." Bei solchen Gelegenheiten, mit seinen Kumpeln, zeigte er gleichsam sein wahres Ich, alle Seriositaet, Vernuenftigkeit, die er sonst an den Tag legte - nichts als Tuenche, oder besser gesagt, ein voellig geschiedener Teil jenes ueber alle Straenge schlagenden Ole.

Stattdessen sprang ploetzlich die Mutter (der vollreifen 17jaehrigen) von ihrem Sitz hoch, sichtlich betroffen von Oles Vortrag, ausserdem hielt sie die stickige Luft nicht mehr aus, und riss das Fenster auf, ohne Nastvogel zu fragen. Dem standen Augen und Ohren, sozusagen, und die Haare zu Berge, als nun ein eiskuehler Luftstrom ueber ihn hinwegwehte. Was sollte er tun? Es war schon erstaunlich, alte Leute waren doch gemeinhin so empfindlich ... "Zuch ist das schlimmste was es gibt", sagten seine Tanten immer, wenn jemand das Autofenster zu weit herunter drehte, und insoweit konnte er ihnen nur beipflichten.

Nach kurzer Ueberlegung, durch welche er vollends von seiner Lektuere abgelenkt wurde, beschloss er, die Zaehne zusammenzubeissen und das offene Fenster zu ignorieren. Er hatte fuer solche Notfaelle immer eine alte Pudelmuetze dabei, wenn es auch die Anderen zu Haenseleien herausforderte, und die Lolita, die neben ihm sass und deren Koerperwaerme er geradezu spuerte (es war ihm jedoch ohne weiteres gelungen, sich mit seiner Zeitschrift von dieser Wahrnehmung abzulenken, eine Kulturleistung, die Richard niemals zustandegebracht haette.), zum Kichern.

Der tat sich stattdessen mit einer eigenen Story hervor, er konnte sich nicht zurueckhalten, es draengte aus ihm heraus, in der Dipling-Szene waren die Alkoholmythen eine wichtige Duftmarke und Erkennungszeichen (wie die Grassmythen bei den Sponties). "Das schaerfste, was ich mit Alk erlebt habe, war vor'n paar Jahren, wir waren 15 oder 16 und wollten unbedingt ausprobieren, wie das ist, stockbesoffen zu sein. Wir sind in einen Laden, wo es eine Riesenauswahl an billigem Fusel gab, und haben uns zwei oder drei Flaschen hochprozentiges geholt, Korn oder Rum oder Wodka, ich weiss nicht mehr genau, war uns auch egal, und dann sind wir raus in den Wald und an einer entlegenen Stelle haben wir das Zeug heruntergspuelt. Anschliessend waren wir so besoffen, dass wir uns kaum auf den Beinen halten konnten, wir verloren Zeitgefuehl und Orientierung, und als es nicht nachliess, sondern uns immer schlechter wurde, gerieten wir in Panik und schleppten uns ueber die Kreisstrasse ins Krankenhaus, das liegt in Tengern direkt am Waldrand, die haben uns eine Blutprobe abgenommen und maechtig Angst gemacht, Alkoholvergiftung und so, und dann waren sie stinksauer, weil mein Freund hat ihnen alles vollgekotzt, und haben bei unseren Eltern angerufen und gedroht, beim naechsten Mal die Polizei zu informieren, und das Jugendamt. - Das gab zuhause natuerlich ein schoenes Theater, hat uns aber nichts ausgemacht, irgendwie gehoerte es zum Erwachsenwerden dazu." Es war Fruehjahr gewesen und der Wald nicht sehr dicht, und an einem bestimmten Punkt hatte er geglaubt, nicht mehr lebend herauszukommen, daran erinnerte er sich genau, und an die furchtbare Uebelkeit. -

Mutzel nervten diese langweiligen Anekdoten, nur vereinzelt warf er zynische oder abwertende Bemerkungen dazwischen, ohne dabei jemand anzusehen. "Immer dieselben Stories", brummte er zum Beispiel und zog die Stirn kraus, und Richard dachte, aus dem wird mal ein anstaendiger Noergler. Wie sollte er wissen, dass Mutzel im Dauerstress lebte, weil ihn seine Freundin seit Monaten mit Trennung drohte, "Ich liebe dich nicht mehr", das klang so hoffnungslos endgueltig, was sollte man darauf erwidern, es war wie ein boeses Schicksal, dem man nicht entrinnen konnte. - Nur, sie schaffte den Absprung nicht, und blieb bei ihm, aber nicht aus Zuneigung, sondern aus purer Ratlosigkeit, oder Bequemlichkeit, oder aus Angst vor Einsamkeit, oder was immer.

Endlich hatten alle ihre Munition verschossen und verfielen in Schweigen. Die S-Bahn ratterte durch gruene Wiesen und schwang sich dann bei der Suederelbe auf Bruecken hinauf, man blickte in breite braune, von Beton und Eisen zugeschnuerte verwirrend weit verzweigte Kanaele, und auf der anderen Seite zum Hafen hin, wo riesige Ueberseekaehne andockten.

Als sie die Innenstadtgrenzen erreichten, verschwand die Bahn im Leib der Erde. Neonroehren flackerten auf und die Fahrgeraeusche klangen schriller und unheimlicher, ohne dass sich jemand davon beeindrucken liess. Das aenderte sich ungefaehr 5 Minuten spaeter, als der Zug mit einem heftigen Ruck ploetzlich stehenblieb und die Lampen erloschen. Eine seltsame Stille zog wie stickiges Gas durch den Wagen.

Doch bald ging das Licht wieder an und die Lautsprecher bloekten: "Bitte entschuldigen Sie den ausserplanmaessigen Aufenthalt aufgrund eines Defektes im vorausfahrenden Zug", und wieder befiel eine Art Laehmung die teils besorgten, teils veraergerten Menschen. Vor 2 Wochen hatte es im U-Bahnschacht unter der Moenckebergstrasse einen Kabelbrand gegeben, bei dem es fast zu einer Katastrophe gekommen waere, die Medien ritten noch immer darauf herum.

"Ich will brennen", liess Kuno ploetzlich verlauten, mit der Intonation des geuebten Komikers, und die Spannung loeste sich auf und seine Freunde bruellten vor Vergnuegen, auch einige Fahrgaeste konnten ein Grinsen nicht verkneifen, waehrend andere entgeistert an die Decke starrten und die Kleine Ole einen, wie Richard fand, interessierten Blick zuwarf.


© Copyright: B. Lampe, 1996

   e-mail an:  Lampe.Bodo@web.de