Libuda und Gaensehaut
Bei Laura klingelte das Telefon. Es war ihre alte Freundin
Corinna, die sie einige Wochen nicht gesehen hatte.
"Du, mir faellt zu Hause die Decke auf den Kopf.
Ich hab unheimlich Bock, mal wieder einen draufzumachen, in die
Disko oder ins Pickenpack, ich hab das Gefuehl, ich
waer schon ewig nicht ausgewesen."
Laura war ziemlich ueberrascht, von ihr zu hoeren, liess sich aber
nichts anmerken. "Warum nicht", sagte sie, "ich habe
abends noch nichts vor. Aber was machst du mit Henry?"
"Ach, das ist kein Problem, wozu hat man einen Mann
im Haus? Klausi wird auf ihn aufpassen, ich hab ihm
das schon mitgeteilt."
"Das ist ja wirklich praktisch." Sie lachte. "Machst du das oefter,
ich meine allein ausgehen und Klaus als Babysitter?"
"Aeh nein, bis jetzt eigentlich nicht, er ueberzeugt nicht
gerade in der Rolle ... aber was nicht ist, kann ja noch
werden." Corinna rollte das Hoererkabel auf dem Knie, sie
mochte sich ueber das Thema nicht weiter auslassen.
"Na gut, also, was haeltst du von 9 Uhr heute abend, vor dem
Pickenpack."
"Kannst du bei mir vorbeikommen und mich abholen?
Damit wir uns nicht verpassen; fuer dich liegt's doch
ziemlich auf dem Weg. - Wie geht's eigentlich Ellen?
Seitdem sie mit Martin zusammen ist, meldet sie
sich ueberhaupt nicht mehr."
Laura ging mit dem Telefon in ihr Zimmer. "Oh, ihr geht's gut",
sagte sie. "Die beiden haben halt am Anfang staendig
aufeinander gehockt, man hatte fast Angst bei ihnen reinzugehen und
die traute Zweisamkeit zu stoeren. Aber jetzt sind die gar
nicht mehr so eng zusammen, ich hab fast den Eindruck, Ellen
wuerde oefter mal lieber allein was unternehmen. Neulich
ist sie tatsaechlich mal mit nem Typen unterwegs
gewesen, ich kam grad nach Hause, als der vor der Tuer stand.
Martin hat sich erst wahnsinnig aufgeregt, aber sie hat gemeint,
er muss das akzeptieren, so waere sie eben, das haette sie ihm
von Anfang an gesagt, und sie sei nicht bereit, davon abzugehen.
Inzwischen hat er sich ueberzeugen lassen und meint sogar,
das gehoert zur sexuellen Befreiung dazu. Ich sage dir,
das ist ein total kopfgesteuerter Typ. Wenn der sich
irgend-so-ne bescheuerte Theorie zurechtlegt, dann glaubt er
auch daran." Und waehrend sie dies sagte, wippte sie mit dem
Hintern, dass der Stuhl bedenklich schwankte, und dachte,
Martin waere klug beraten gewesen waere, sich nicht mit Ellen
einzulassen. Aber die Maenner guckten bei
Frauen nur auf das Aeussere und hinterher wunderten sie sich,
was sie sich aufgehalst hatten. Wobei, sie hatte nichts
gegen Ellen, wenn sie alle Frauen schneiden wuerde, die besser aussahen
als sie, waere sie ziemlich allein. Und sie fuegte hinzu:
"Ich kann Ellen ja fragen, ob sie mitgehen will."
Corinna zoegerte. Wenn es darauf hinauslaufen sollte, haette
sie das Gespraech nicht auf Ellen gebracht. Um den Schein zu
wahren, sagte sie: "Ja gut, ich habe nichts dagegen", und dann
fiel ihr ein: "Was ist eigentlich mit Birgitta? Von der habe
ich auch schon laenger nichts mehr gehoert. Sie muesste doch
inzwischen aus Afrika zuruecksein." Ueber die konnte man ruhig
reden, die wuerde auf keinen Fall ins Pickenpack gehen.
"Ist sie auch, ich bin oefters bei ihr in der WG, obwohl ich mich
da meist mit Ali treffe. Mit dem und noch'n paar Andern geh ich meist
abends ins Shave, das heisst wir haengen auch viel vor der Tuer rum,
wenn uns der Eintritt zu teuer ist. Da ist eigentlich immer was los,
da trifft sich neuerdings die ganze Clique. Birgitta ist selten zu
Hause, und viel bei Vorlesungen oder bei der Dritte-Welt-Initiative.
Ich weiss, dass ihr die Monate in Afrika sehr gut gefallen haben. Sie
schwaermt, dort sei alles ganz anders als hier, das Land, die Leute,
die Kultur, viel lockerer eben."
"Findest du, dass Birgitta besonders gut zu lockeren
Leuten passt?" fragte Corinna und grinste ins Telefon.
"Ich weiss nicht; Gegensaetze ziehen sich an.
Afrika ist eben ihr Hobby. Du, und jetzt kommt das
Schaerfste, oder hast du es schon gehoert, ein Schwarzer
ist ihr nachgereist, und hockt jetzt bei denen in der WG.
Irgendein Widerstandskaempfer oder so, hat Ali erzaehlt,
der einiges mitgemacht hat. Aber seinen Asylantrag werden
sie wahrscheinlich ablehnen."
"Wahnsinn! Und, hat sie was mit ihm?"
"Ich glaube schon. Darum waers auch das einfachste, wenn sie ihn
heiraten wuerde, meint Ali."
"Sie waer schoen bloed, wenn sie sich sowas ans Bein binden wuerde",
seufzte Corinna aus eigener leidgepruefter Erfahrung.
"Das ist doch nur zum Schein. Wenn's sein muss, kann sie sich
ja wieder scheiden lassen."
"Wenn das man so schnell geht. Ich waere vorsichtig an ihrer Stelle."
Dabei konnte ihr wirklich egal sein, was Birgitta machte. Die hatte
sowieso ein viel zu einfaches Leben, bisschen studieren, dauernd
Semesterferien und jeden Monat kam das Bafoeg. Und ein Ehemann war
immer noch leichter loszuwerden als ein Kind. - "Woher nimmt sie
eigentlich die Kohle, soviel herumzureisen? Vom Bafoeg ist das doch
nicht zu finanzieren."
"Sie hat Nachtwachen im Krankenhaus gemacht. Und in Kenia
ist es im Hinterland unheimlich billig. Sie hat ja nicht in
teuren Hotels uebernachtet; wie ich sie verstanden habe, hat
sie meist gezeltet."
"Das erinnert mich an meine Reise nach Sardinien mit Achim,
lang ist es her. Ich glaube, so was schoenes werde ich nie
mehr erleben", sagte sie melancholisch und hielt inne bei dem Gedanken
an jenen Sommer vor drei Jahren, als ihre Jugend noch offen vor
ihr lag. Dann war sie schwanger geworden, von diesem Esel,
und hatte den Zeitpunkt fuer die Abtreibung verpasst, und
nun hatte sie den Salat.
"Ja, da muss es wirklich schoen sein, nachdem was du mir darueber
schon alles erzaehlt hast. Vielleicht sollte ich im Sommer auch
mal hinfahren", meinte Laura und wusste nicht, ob sich Corinna
davon provoziert fuehlte.
Wieder eine Pause. Laura hielt das Gespraech fuer
beendet, der Hoerer schwebte gedanklich sozusagen bereits
ueber der Gabel, da schob die Freundin nach: "Seitdem er eingezogen
ist, geht mir Klaus immer mehr auf die Nerven; haett'ich mir eigentlich
denken koennen, er ist einfach zu jung fuer mich. Zu mir passen etwas
aeltere Maenner viel besser. Sie sind
reifer und ausgeglichener und haben einen weiteren Horizont.
Klaus ist in manchem noch richtig kindisch, du solltest ihn
mal hoeren, wenn er seine Sprueche klopft. Dabei hat er von den
einfachsten Dingen des taeglichen Lebens
keine Ahnung, es ist zum Verzweifeln."
"Ja, du hast ihn ziemlich schnell bei dir aufgenommen, ich haette
mir das an deiner Stelle zweimal ueberlegt." Laura fragte sich,
ob Corinna gleich heute abend einen Neuen suchen wollte,
so negativ wie sie ueber Klaus redete, und was sie
mit 'aeltere Maenner' meinte. 25, 30 oder gar 35?
"Was sollte ich machen. Er stand ploetzlich auf der Strasse
und wollte auf keinen Fall zu seinen Eltern
zurueck. Da bot sich das irgendwo an. Ausserdem hab ich mich so
allein mit Henry irgendwo nicht wohlgefuehlt. Am Anfang war
er ja auch so suess, und ich war
unheimlich verliebt und gern mit ihm zusammen, er hat mich voll
befriedigt, obwohl er noch so jung ist. Inzwischen ist
er oft mies gelaunt, macht kaum noch was im Haushalt
und laesst seine Launen an mir und Henry aus."
"Ja, so ist das mit den Typen; wenn man ihnen den kleinen Finger
reicht ..."
Corinna dachte, wenn Laura mal endlich Einen faende,
der ihren kleinen Finger nehmen wuerde! Obwohl, vom praktischen
Gesichtspunkt war es besser, wenn sie solo blieb, so war
sie immer erreichbar, wenn man mal durchhing. "Uebrigens, ins
Shave moechte ich heute abend nicht. Da ist mir
die Stimmung zu frostig. Wenn ueberhaupt Disco, dann Gruenspan."
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Ein paar Stunden spaeter klopfte es an ihrer Wohnungstuer.
Die Tuer war im Lauf der Jahrzehnte oefter gestrichen worden,
zuletzt in einem hellen Farbton, der an den Kanten abblaetterte und
auf dem sich viele schmutzige Fingerabdruecke abzeichneten.
Die Klingel war defekt, doch ein schwerer urzeitlicher Tuerklopfer
erfuellte denselben Dienst.
"Hallo, komm rein, ich bin gleich fertig." Sie riss die
Tuer auf und verschwand sofort im Bad. Anders als Laura,
die bequem war und ausserdem ueberzeugt,
bei ihrem Aussehen wuerde auch Anmalen nicht helfen,
nahm sie sich viel Zeit zum Schminken. Wenn schon ausgehen,
dann richtig, man sollte auf alle Eventualfaelle vorbereitet sein.
Sorgfaeltig tuschte sie die Wimpern, trug Lidschatten auf ...
und dann der Lippenstift, so. Sie rollte die Lippen uebereinander
und befeuchtete sie mit der Zunge, bis sie glaenzten.
Jetzt griff sie nach der Buerste und kaemmte sich mehrmals energisch
durch die Maehne. Jeans, Strass und sonstiges Kriegsgeraet hatte
sie schon vorher angelegt.
Laura stand im Flur und wartete.
Vom Wohnzimmer droehnte Musik herueber, irgendeine Teenie-Band.
Es roch nach Babykacke, Penatencreme und saurer Milch.
An mehreren Stellen loeste sich die Tapete von der Wand, wurden
Putz und Mauerwerk sichtbar. Alte Zeitungen und anderer Abfall
stapelten sich in den Ecken - leere Flaschen, braune
Muellsaecke und grosse aufgerissene
Pamperspakete, aus denen ebenfalls Unrat vorschielte.
An einer Stelle war eine raetselhafte dunkle Fluessigkeit
ausgelaufen und auf dem Teppichboden angetrocknet.
Klaus kam aus der Kueche, eine HB und ein Holsten
in der Hand - "Hallo" - und verschwand sofort im
Wohnzimmer. Was der wohl davon hielt, dass seine Freundin allein
loszog? Mit einem Mal wusste sie, warum Corinna
soviel Wert darauf legte, abgeholt zu werden.
Endlich tauchte auch Corinna wieder auf. "Sie sieht zwar
immer noch ganz gut aus", dachte Laura, "das muss man neidlos
anerkennen - auf jeden Fall kann ich nicht mit ihr
konkurrieren - aber wenn man genau hinschaut, hat Henry doch
seine Spuren hinterlassen."
"Guck mich nicht so kritisch an", sagte ihre Freundin, und dann
"Ich schau noch mal kurz zu Henry rein." Er
schlief. Vorsichtig schloss sie die Schlafzimmertuer
und rief dann ins Wohnzimmer: "Du, Klaus, wir gehen jetzt. Und
bitte sei nicht mehr boese."
"Nein, nein, iss schon ok, null Problemo. Amuesiert Euch ma schoen."
"Ich seh schon, du bist sowieso bestens versorgt.
Aeh, du weisst ja, was zu tun ist, wickeln und so,
wenn er anfaengt zu riechen."
"Ja, ja, iss ok." Jetzt fing sie wieder an zu nerven.
"Vielleicht schlaeft er ja durch. - Und falls er wach
wird und gibt gar keine Ruhe, koenntest du ihn auch
baden. Das hat er mal wieder noetig."
"Du, da habe ich eigentlich wenig Lust zu.
Ich freu mich auf meinen Fernsehabend.
Das kanns du doch morgen machen."
"Ist schon ok, war bloss'n Vorschlag."
Die beiden machten sich auf den Weg. Es mieselte. Laura
trug ihre ewige Jeansjacke, als Zugestaendnis an
das Hamburger Wetter, und Corinna hatte sich ein Regencape
uebergestreift. Hinterher in der Kneipe wuerde sie es
ausziehen, jeder sollte die grossen goldenen Ohrringe
und ihren Ausschnitt blitzen sehen.
Zuerst kamen sie am Golem vorbei. Ein kurzer Blick
durch schmutzige Scheiben in die verraeucherten Raeume
genuegte, nicht sehr einladend und kein Bekannter zu sehen.
Also weiter. Die meisten Maenner, die ihnen begegneten, warfen
Corinna interessierte Blicke zu, es war alles wie frueher und
ganz anders als wenn sie Henry dabeihatte.
Vor dem Pickenpack hing eine Menschentraube fast wie bei einer
Filmpremiere, man sah schon, es wuerde schwierig, einen Platz
zu bekommen. "Sehen und gesehen werden", war die Devise, und
das konnte man draussen ebensogut.
Nachdem sie ein paar Minuten tatenlos herumgestanden haben,
kaempften sie sich doch ins Innere. Ein grosser lichtdurchfluteter
Saal, viel Glas, schwere helle Moebelstuecke,
hauptsaechlich Baenke und Tische und auch Schraenke,
die sich ueber die ganze Laenge des Raumes an der
Wand hinzogen, links ein wuchtiger Tresen, und vor allem
eine ganz andere Athmosphaere als zum Beispiel
im Golem, die Betreiber hatten viel Geld investiert, und
wie man sah, mit gehoerigem Erfolg.
Auf der Suche nach Sitzplaetzen schoben sie sich
den Hauptgang entlang, hier und laengs der Theke standen
Viele im Weg, die sich mit ihrer Lage abgefunden hatten und
eifrig aufeinander einredeten, der ganze Raum summte von
Gespraechen und dem Hintergrund seichter Jazzmusik.
Bis weit hinten schienen alle Baenke
besetzt zu sein, und wo nur eine kleine Luecke frei war,
mochten sie sich zu zweit nicht hinsetzen.
Sie bewegten sich langsamer und kamen endlich ganz zum Stehen,
was sollte das bringen, sich bis zu den Klos durchzuzwaengen.
Laura blickte ratlos ins Leere, "son Scheiss,
das nervt", stoehnte Corinna.
Ploetzlich zupfte sie jemand am Aermel und eine Stimme rief von
irgendwo ihren Namen. Direkt vor ihr, unter ihr sass Vera, sie
hatte sie glatt uebersehen. "Hallo", rief Corinna erfreut, "wir
haben uns ja lange nicht mehr gesehen."
Vera warf ihre langvolldunkle Haarpraechtigkeit zurueck.
"Ja, seit deiner Schwangerschaft. - Herzlichen Glueckwunsch, das
sagt man doch, oder. Ist es ein Junge oder ein Maedchen?"
"Ein Junge. Naja Glueck, Henry kann ganz schoen anstrengend sein.
Wegen ihm komme ich kaum noch raus aus der Bude. Heute hab ich
ausnahmsweise einen Babysitter."
"Setzt Euch doch." Vera deutete auf die gegenueberliegende
Bank. Mit Phantasie waren dort zwei freie Plaetze auszumachen, in
die sie sich jetzt bedenkenlos hineindrueckten.
Leider beschaeftigte sich Vera ausschliesslich mit dem Typen,
mit dem sie da war. "Zwischen denen scheint es ganz schoen
gefunkt zu haben", raunte Laura. "Da waer ich mir nicht
so sicher", meinte Corinna, die seine Unsicherheit bemerkt hatte.
"Wer ist das eigentlich?" - "Ich kenn ihn nicht. Hab ihn auch in
der Lippmannstrasse noch nicht gesehen. Vera hat
einen wahnsinnig grossen Bekanntenkreis."
Die beiden liessen ihre Blicke schweifen, doch es gab wenig
interessantes zu sehen, und so fanden sie sich aufeinander
zurueckgeworfen, und setzten den Sermon
fort, den sie waehrend des Telefonierens begonnen hatten.
"Es ist schon nervig mit Henry. Ich habe mir ja gedacht, dass ein
Baby viel Arbeit macht, aber dass es so anstrengend ist, habe
ich mir nicht vorgestellt. Er bringt mein ganzes Leben durcheinander",
klagte Corinna, und auch Laura's optimistisches Temperament brachte
sie nicht von ihrer duesteren Laune ab.
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Klaus hockte zuhause vor dem Fernseher und streckte die Beine aus. Er
hatte mehrere Packungen Kraecker und Bierflaschen leergemacht
und ueberlegte, was er sich als naechstes anschauen konnte. Der
Krimi langweilte ihn, er lag in den letzten Zuegen, und
den Rest konnte man genau vorhersehen.
Henry war wachgeworden und fing an zu quaeken, weil er
sich in dem leeren halbdunklen Schlafzimmer fuerchtete.
Dadurch fuehlte sich Klaus in seiner Bierseligkeit gestoert.
Er versuchte, das Schreien zu ignorieren und
zappte immer schneller zwischen mehreren Sendern hin und der.
Doch je laenger er zoegerte, desto ungeduldiger wurde
das Kind in seinem Bettchen. Schliesslich schrie es aus
Leibeskraeften.
Klaus schlurfte ins Schlafzimmer, eine enge Kammer, eben gross
genug fuer die franzoesische Liege und das Kinderbett.
"Jetzt bruell hier nicht so rum", sagte er missmutig, "was soll
das ueberhaupt?"
Einen Augenblick schwieg das Baby irritiert, aber dann schrie es nur
um so lauter, so dass er gezwungen war, es aus der Wiege zu nehmen.
"Vielleicht hast du Hunger. Wolln ma schauen, ob wir was fuer dich
haben", brummte er und machte sich mit Henry auf dem Arm auf
zum Kuehlschrank.
In der Kueche setzte er ihn in seinen Kinderstuhl.
Der Tisch war voller Brotkrumen, doch Klaus machte sich nicht die
Muehe sie abzuwischen und begann stattdessen, Henry mit
Brei zu fuettern, wobei er zunehmend ungeduldiger wurde,
weil das Kind so lange herummampfte.
Henry spuerte die Gereitztheit und reagierte seinerseits
ungehalten, indem er nach dem Essen sofort wieder zu schreien anfing.
Das machte Klaus wirklich aergerlich.
"Nun reicht es aber. Halt endlich deine Schnauze.
Du muesstest mich doch allmaehlich kennen und wissen,
dass mich dein Gekreische nicht beeindruckt."
Grimmig zog er das Baby aus dem Sitz und brachte es
zurueck ins Bett. "So, hier bleibst du. Von mir
aus kannst du bruellen bis du schwarz wirst."
-------
Corinna und Laura langweilten sich. Da sassen sie zwischen all den
Leuten herum, die sie nicht kannten, und mussten zusehen,
wie sich Vera toll amuesierte.
"Lass uns rausgehen und Luft schnappen und ueberlegen,
was man sonst noch anstellen kann", schlug Corinna vor,
als sie ihr Bier leergetrunken hatten.
"Das Pickenpack iss heut abend nicht das Richtige."
Laura war derselben Meinung: "So was merkt
man immer gleich, wenn man sich hingesetzt hat. Entweder es
gefaellt einem sofort, oder gar nicht."
Fuer das Gruenspan war es noch zu frueh, aber sie konnten ja
schon mal die Richtung einschlagen. Sie schlenderten den
Tornweg hinunter, eine Seitengasse der Budapester Strasse.
Das war die Gegend, wo Altona, St. Pauli und das Schanzenviertel
zusammenstossen, hier war spaetabends immer was los.
Sie kamen an einem dunklen Hauseingang vorueber, an der Wand daneben
klebten ein paar schiefe halb abgerissene Plakate, auf denen Skelette
ihre Zaehne oder Frauen ihre Brueste zeigten, oder sich Skelette
in Frauen verbissen, oder Frauen in Skelette, und dann ein
halbdunkler flackernder Schlund mit schlecht beleuchteten
Schaukaesten ... das Flora-Kino, ein alter Bunker, den sie
nicht abreissen mochten (kalter Krieg, man konnte nie wissen),
wurde demnaechst dichtgemacht, heute war eine der letzten
Vorstellungen, die Vorfuehrraeume waren viel zu gross
fuer die paar Besucher, heruntergekommen und
unrentabel, kein Wohlfuehlkino eben.
Obwohl es nichts zu verlieren hatte, spulte es weiterhin
nur billige Sex- und Horrorfilme ab.
Weder Corinna noch Laura waren haeufiger
als einzweimal hier gewesen, in dem dunklen Schuppen
machte Kino keinen Spass, wenn ueberhaupt, dann ging man
in kleinere, hellere Lichtspielhaeuser.
Auch heute wurde nichts Interessantes geboten, der Porno
war kurzfristig abgesetzt worden, doch beide
bekamen ploetzlich Lust, sich in dem Gemaeuer zu gruseln.
"Los, gehen wir in den Horrofilm", lachte Corinna.
Sie studierten die Szenenfotos im Schaukasten, das Skelett
in verschiedenen Stellungen, wie es seine Opfer aufschlitzte, zersaegte
oder sonstwie maltraetierte, und kauften dann die Billets,
der Mann am Schalter blinzelte sie aus dicken trueben
Brillenaugen an, anstehen mussten sie nicht.
Und wurden gleich eingelassen, suchten sich irgendeinen Platz
in dem riesigen Raum, in dem auch ein Parlament haette tagen
koennen, versifftes Linoleum, zerschlissene Stoffe, blumengemusterte
Schmuddeltapeten, und dann warteten sie, warteten, bis auch der letzte
muede Indianer hergefunden hatte, und endlich das Licht ausging.
Laura kaute an den Fingernaegeln und Corinna ulkte, die Besucher
selber saehen selber horrormaessig aus.
Dann fragte sie: "Hast du gestern Didi Hallervorden gesehen?"
"Aeh, Ich hab' nur nebenbei reingeschaut."
"Bei der einen Szene, im Huehnerstall, das war ein Gekecker!
Erst summt er nur, dann wird er ganz laut."
"Martin und Ellen wollten es unbedingt sehen, aber ich war zu
muede, um viel mitzukriegen."
"Wenn Kinder das nachsagen, was der so erzaehlt,
die kriegen ja Sprachschaeden,
aber trotzdem, war echtgeil, oder? Wo ist der Blinker, ... wo ist
der BLINKER?" und dabei lachte sie irre.
"Ausserdem musste ich nebenbei abwaschen."
"Dazwischen haben sies tatsaechlich gebracht - zweimal die
gleiche Werbung hintereinander, das hab ich noch nicht erlebt."
"Martin musste sich hinterher unbedingt noch die Bundesliga
angucken."
"Im Kino ist die Werbung irgendwie lustiger, find'ste nich auch."
Das letzte bruellte sie ihrer Freundin ins Ohr; denn
der Raum wurde ploetzlich von lauter Musik und den
blendenden Lichtorgien des Vorfilms
ueberschwemmt, den man durchstehen musste, bevor
das grosse Zaehneklappern begann.
-------
Zu Hause hatte Klaus das Kind inzwischen doch ins Wohnzimmer geholt,
das Geschrei war nicht mehr auszuhalten gewesen, und als es dort
herumkrabbeln konnte, nicht ohne den Aschenbecher umzuschmeissen,
hatte es sich endlich beruhigt.
Aber staendig hing es zwischen seinen Beinen herum, mal wollte
es dies, mal jaulte es dort, und dann musste man ihm wieder
jenes verbieten. Klaus stellte schliesslich den Fernseher ab
und machte den Plattenspieler an. Von dem war Henry total fasziniert,
doch als er ihn daran hindern wollte, hinein zu fassen,
ging das Geschrei wieder los, besonders als er die Nadel quer
ueber die Platte zog und dafuer eins auf die Finger
bekam.
"Ok, dann koennen wir ja jetzt baden", sagte Klaus entnervt.
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Als das erste Blut floss, drueckten sie
sich in die Polster, und verfolgten mit Schaudern, was man
mit menschlichen Leibern so alles anstellen kann. Am brutalsten
fanden sie die Szene, wo eine Frau lebendig
auf einem Fleischerhacken gespiesst wurde. Der Perverse griff
nach ihr, hob sie hoch und dann ZACK. - Und dann der
Mann mit der Kettensaege, der andern Leuten
die Gliedmassen absaegte, der durfte anscheinend
in keinem Gruselfilm fehlen. -
Spaeter war alles vorbei.
Leicht betaeubt, wie das so ist, wenn man aus dem Kino kommt,
gingen die Maedchen wortlos nebeneinander
her und ueberlegten, was man noch anstellen konnte.
Es war schon ziemlich spaet und der Abend nicht eben ein Erfolg.
In altenwilden Zeiten haette Corinna alles getan, diese Bilanz
noch umzudrehen, und wenn es bis morgens gedauert haette,
doch jetzt draengte sie irgendetwas, sich nach Hause abzusetzen -
vielleicht war sie mehr Mutter, als sie selber fuer moeglich hielt.
"Also Ciao dann, vielleicht koennen wir so was ja mal
wieder machen."
"Einmal war's ja ganz nett, aber haeufiger kann ich
mir das nicht ansehen", sagte Laura, sich auf den Film beziehend.
"Es gibt Leute, die total auf Horror
abfahren, Vera zum Beispiel, ich weiss, die geht
oefter in die 'lange Nacht' im Holstenkino. Dort
spielen sie 3 Horrorfilme nacheinander. Faengt um 9 abends
an und hoert erst um 3 oder 4 Uhr auf. Sie sagt, der
Nervenkitzel macht sie an, und dass sie sich vorstellt,
alles real mitzuerleben,
sie sagt, es waer wie ne Droge, die sie alle paar Wochen braucht.
Sie geht aber nie allein hin, es muss immer jemand
dabei sein, falls es mal ganz schlimm kommt."
Bevor sie sich trennten, kamen sie am Club 66 vorbei,
eine Betonwand, ueber der das Riesenrad des Doms wie ein
Dunkelstern rotierte, ein Eingang, ueber dem ein paar
Neonbuchstaben dezent flackerten, muskuloese Tuersteher, die
wie gehetzte Kaninchen blinzelten, hier traute sich der Kern
der Hamburgs Schickeria aus seinen Geldhoehlen, verschwand aber
gleich wieder ins Unterirdische, in die Katakomben dieses
wesentlich erfolgreicheren Bunkers.
"Da haetten wir reingehen sollen", dachte Corinna fluechtig.
Doch war das ein muessiger Gedanke, keiner ihrer Bekannten
besuchte den Laden gewohnheitsmaessig. Ausserdem wuerde man
Laura in ihrem Aufzug wahrscheinlich gar nicht hereinlassen.
Eben oeffnete sich die Schwingtuer und heraus kam ein
junger Rotschopf (Fussballprofi) mit Pomade im Kraushaar und einem
karierten, in rot und silber glaenzenden Jackett ueber der
Schulter und zwei kicherndem Gaensen im Arm. Mit elegantem
Schwung aber doch einer ins Hastige gehenden Bewegung, als wolle
er seine Eroberungen dem kritischen Blick der Oeffentlichkeit
schnellstens entziehen, oeffnete er die Beifahrertuer,
hinter der die Beiden sofort verschwanden, um als weisse
neugierige Gesichtchen hinter der Frontscheibe wieder aufzutauchen.
Er umtaenzelte das Auto (so muss der legendaere Libuda seine
verbluefften Gegner umspielt haben), wobei die Rotationen
seines Beckens das Heck des Wagens nachzeichneten, und
setzte sich dann ebenfalls hinein, nicht ohne einen abschaetzenden
Blick auf unsere langsamer gewordenen Freundinnen zu werfen.
Er startete den Motor und liess ihn aufheulen.
"Angeber!" kraechzte Laura und fragte sich, woher
der Junge das Geld fuer den teuren Wagen hatte.
Die jetzt im Auto sassen, waren eingefleischte HSV Fans und
wussten das natuerlich; es war ihnen allerdings
egal, dass ihr Held noch nachmittags eine Riesenchance
gegen Gladbach vergeben hatte, alles verblasste gegen
die Aussicht, einen beruehmten Fussballstar hautnah
kennenzulernen. Sie vergingen fast vor Aufregung, mehr soll ueber
ihre Gefuehle nicht gesagt werden, genug
dass sie sich aneinander aufrichten konnten,
nur so in der Lage, den folgenden Anforderungen
gerecht zu werden.
Auch Dempsey war aufgeregt, aber nur massvoll, zu oft hatte
er unter dem Gejohle der Massen vergeblich aufs
Tor geschossen. Er hatte genug von diesen endlosen nebligen
Nachmittagen, in denen der Trainer ihn sinnlos uebers Feld
jagte, hatte ein Anrecht, sich abends zu amuesieren.
In der Morgenpostbildzeitung konnte man man am naechsten Tag
lesen: "Dempsey der HSV-Star ... gegen Moenchengladbach vergab
er eine Riesenchance. Abends jedoch, im CLUB 66 schlug er gleich
doppelt zu, nahm Heike(17) und ihre Freundin mit
nach Hause." Und: "'Er war fantastisch', befanden sie
hinterher. Erst im Morgengrauen war alles vorbei, und der
Bundesligaspieler, ganz Gentleman, chauffierte die jungen
Damen im Capri nach Hause."
Und noch etwas anderes stand auf der Titelseite, etwas
Duesteres und Furchtbares, was nicht mit ihm, sondern mit
Corinna zu tun hatte, die nur zufaellig den Weg dieses
Glueckskindes kreuzte.
An der Kreuzung trennten sie sich und jede eilte
allein weiter, mit hastigen Schritten, um diese Uhrzeit waren
nur wenige Passanten unterwegs und man konnte nicht wissen,
wem man begegnete, erst kuerzlich war eine Studentin nachts
im Schanzenpark ermordet worden.
Laura machte vorsichtshalber einen kleinen Umweg,
um schneller auf die Ost-West Strasse zu kommen, wo auch
jetzt noch reichlich Verkehr war.
Vor ihr trottete eine seltsam gebueckte Gestalt mit
Kapuze ueber dem Kopf, sie wuerde ihn gleich ueberholen muessen,
doch keine Angst, nein, vor so einem
Lahmarsch fuerchtete sie sich nicht.
Sie war schon an ihm vorueber, da fiel ihr etwas Bekanntes,
Vertrautes an seinen Bewegungen auf, und sie drehte sich um und
erkannte Dieter, mit glasigen Augen und verzerrter Miene,
wie wenn er an einem langanhaltenden unnachgiebigen Schmerz
laborierte. Er schien sie nicht wahrzunehmen,
und sie musste sich erst ganz zu ihm hindrehen und
beinahe mit ihm zusammenstossen, damit er auf sie
aufmerksam wurde.
"Hallo Dieter."
"Oh, hei", und das waeren fast die einzigen Laute geblieben, die
sie austauschten, offenbar wollte er nicht angequatscht
werden, doch sie konnte sich nicht zurueckhalten:
"Sag mal, ist dir nicht kalt, so ohne Mantel, nur mit
Trainingsjoppe."
"Ach", sagte er, und in diesem Ach schwang so viel
muede Resignation, dass sie ihn am liebsten in den Arm
genommen haette, wo war der Dieter, der unentwegt ueberdrehte
Dieter, der sich ueber die ganze Welt so atemlos aufregen
konnte, "ach, ich hab nen Pullover drunter."
und dann nichts mehr und jede andere haette
die Segel gestrichen. Laura aber fragte:
"Sag mal, iss was mit dir?" und waehrend er erwiderte:
"Nein, nein, es geht schon", fiel ihr ein, es hing wahrscheinlich
mit Vera zusammen, zuletzt war er doch so gluecklich gewesen.
"Komm schon, erzaehle was los ist", forderte sie und passte ihre
Schritte endgueltig Dieters maehlichem Rythmus an, sie war wie eine
sanftwarme Decke, die sich behutsam um einen Frierenden huellt.
"Ach", sagte er noch einmal, "Vera hat mich
verlassen." Und nach diesem Gestaendnis kam der Rest
von allein, ohne weitere Nachhilfe, wie
bei einem Erbrechenden. "Genaugenommen
hat sie mich noch nicht verlassen, aber ich weiss, dass sie's tun
wuerde, wenn sie nicht zu feige waere, es mir zu sagen,
oder wenn sie sich ueberhaupt mal die Zeit naehme, mit mir
zu reden. Sie ist einfach nicht interessiert an mir, das ist
es, ich weiss nicht, ob sie ueberhaupt je an mir interessiert
war, ich weiss ueberhaupt nichts mehr, ich weiss nicht mal, ob
sie feige ist, denn das einzige, was ich weiss ... Wenn ueberhaupt,
macht sie bloede Anspielungen, dass sie nichts von mir haelt,
in keinerlei Hinsicht, ich bin mir ganz sicher, dass es aus ist,
und dass sie mich sogar betruegt,
wenn Betrug das richtige Wort ist, jedenfalls ist
sie nachts mehrmals nicht nach Hause gekommen,
sie sagt zwar, sie haette bei einer Kollegin
geschlafen, aber wer soll ihr das glauben,
und als ich es ihr direkt vorgeworfen habe,
hat sie es auch gar nicht mehr abgestritten."
Laura war genau die richtige,
sich seine Leiden und Wut von der Seele zu reden,
so abweisend er zuerst gewesen, so ueberstroemend
wurden ploetzlich seine Worte und Gesten, es brach
aus ihm vor wie ein grosser durch berstende Daemme
brechender Fluss.
"Nichts ist so gelaufen, wie ich mir vorgestellt hatte; das heisst,
ganz am Anfang schon, also die ersten Tage waren wunderschoen,
aber dann kamen so Bemerkungen ..."
Er hatte gespuert, wie unzufrieden sie war,
sie hatte sich ueber ihn mokiert, auch ueber den Sex, den sie
hatten, und auch vom Exfreund hatte sie dauernd geschwaermt,
was fuer ein Liebhaber!, und wie reif und vorbildlich er in
allem war und schon lange eigenes Geld verdiente und
seinen Eltern nicht auf der Tasche lag,
und wie er sich zu benehmen wusste ... alles
mit demselben Tenor ... Dieter hatte begriffen, dass
sie jemand ganz anderen als ihn zum Partner sich wuenschte.
"Das alles ist jetzt auch schon Vergangenheit, jetzt
geht sie gar nicht mehr mit mir aus, hat immer
irgendwelche Termine ..."
Laura hoerte sich seinen Sermon eine halbe Stunde lang an,
dann fand sie, er war genug getroestet, und das war
er auch in gewissem Sinne, ihre prosaische
Gegenwart haette jede noch so heisse
Gefuehlslava zum Erkalten gebracht. - Und
war es natuerlich doch nicht, DIESE Enttaeuschung
wuerde er noch lange mit sich herumtragen, er befand
sich ja erst in dem Stadium, wo er noch nicht ganz
aufgegeben hatte, sich noch immer
gewisse Moeglichkeiten ausrechnete,
nur bei objektiver Betrachtung musste er zugeben,
dass eigentlich alles gelaufen war - doch sie tat weh,
die objektive Betrachtung.
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Als Corinna heimkam und ihren Pullover im Schlafzimmer aufs Bett
werfen wollte, fiel ihr Blick auf Henry, und sie meinte
zuerst, dass er schlief, doch etwas war anders als sonst.
Sie beugte sich zu ihm, er lag so versteinert und roch ganz
sonderbar, und sie rief:
"Mensch, Scheisse, was hast du mit Henry gemacht? Er liegt ja
so komisch da. Und woher hat er die roten Flecken ueberall?"
Sie nahm ihn hoch. "Er ruehrt sich ja gar
nicht mehr", mit jedem Wort wurde ihre Stimme hoeher und schriller.
"Er atmet ja auch nicht." Sie schuettelte ihn.
"Mensch Klaus", schrie sie verzweifelt, "was ist hier los?"
Sie erhielt keine Antwort.
"Du, Klaus, das ist kein Spass! Was hast du mit Henry gemacht?"
schrie sie noch einmal.
Sie packte nacktes Entsetzen. Ins Bett zurueck mit dem leblosen
Koeper! Das war nicht ihr Henry, das war ein ... Leichnam.
Und im gleichen Moment schlich sich eine Figur, ein Denkmotiv in
ihr Bewusstsein, das sie sofort wieder verdraengte, und das
doch waehrend der ganzen folgenden Stunden um sie herum sein
wuerde, naemlich, wenn es tot war, war sie die Verantwortung
fuer das Kind los, sie war wieder ledig.
Sie ging ans Telefon und rief den Notarzt. Dann
eilte sie ins Wohnzimmer und prallte dort mit dem furchtsamen Blick
von Klaus zusammen. Noch immer gab er keine Antwort, zusammengekauert
und wie gelaehmt sass er im dunkelsamtgruenen Fernsehsessel.
"Mensch Klaus, sag endlich was. Hast du ihn umgebracht, oder was?
... aber warum nur, WARUM?"
"Ich kann wirklich nichts dafuer", fluesterte er angstvoll.
"Ich wollte ihn baden, wie du gesagt hast, hab ihn in die
Badewanne gesetzt und heisses Wasser dazulaufen lassen,
und dann fiel mir ein, auf NDR3 laeuft Schimanski."
"Du hast das Wasser laufen lassen", unterbrach sie ihn tonlos,
"und dann ist er ertrunken."
"Nein, nein, das heisst ich weiss nicht, so viel Wasser iss
gar nicht reingelaufen. Er iss von dem heissen Wasser
wohl ohmaechtig geworden, oder hat sich verbrannt, was weiss ich.
Jedenfalls, als ich wieder nachschaute, lag er reglos da
und war ganz rot am Koerper. Ich hab ihn dann sofort
aus der Wanne geholt, aber da war es anscheinend zu spaet."
"Ja aber hat er sich denn nicht vorher bemerkbar gemacht?"
"Wohl schon", gab er widerstrebend zu "er hat geweint ...
aber ich hab nicht hingehoert, ich hab's nicht ernst
genommen, er hatte den ganzen Abend schon wie verrueckt
rumgebruellt, das war ja der Grund, warum ich ihn baden
wollte, ich dachte, vielleicht hoert er dann mal mit
dem Geschrei auf."
"Du hast ihn allein in dem heissen Wasser sitzenlassen,
du Schwein! - Und wieso hast du hinterher keinen Arzt gerufen?" Doch
das waere von dem 16-jaehrigen anscheinend zuviel verlangt
gewesen ...
Der Notarzt stellte den Tod des Kindes fest und rief die Polizei.
Die Beamten hoben ihre Spuernasen, schauten sich neugierig in der
Wohnung um und stellten umfangreiche Untersuchungen an, die
von der Gerichtsmedizin fortgesetzt wurden.
Nachdem sie ihnen Auskunft gegeben hatte, breitete sich
grauschwarze Leere in Corinna aus, die mit der Zeit immer groesser
wurde, so dass sie psychiatrisch behandelt werden musste.
Trauer und Depressionen fuellten sie aus, und
die Aussicht der kuenftigen Ungebundenheit umkreiste sie
nur wie ein fernes abstraktes Motiv.
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B. Lampe, 1996
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