Vain Chases 1


Herbst. Im Rueckspiegel, wie ein Aquarell, das flache Land, seine Heimat, vom roetlichen Schimmer der Sonne umkraenzt. Links feiner Nebel auf Wiesen und Feldern. Einsame Hoefe, schlafend, fetter fruchtbarer Boden. Ackerwege und Alleen, Kriegsgraeber und Kiesgruben. Menschenleere. Vor ihm die schnurgerade Landstrasse, die sich irgendwo in der Ferne verlor.

Er liebte die Strecke, fuehlte sich hier seltenfrei. Er trat aufs Gaspedal. Bassum ... Brinkum ... Delmenhorst. Kurz vor Bremen auf die Autobahn, da schob sich die Musik in den Vordergrund seiner Wahrnehmung, das Dasein verlor sich in die Lausprecherboxen.

Spaeter, bei Hamburg, musste er aufpassen, die richtige Elbtunnelroehre, sonst war ein Umweg durch Bahrenfeld faellig. Runter von der Ueberholspur, nach Othmarschen einfaedeln. Schnellstrassen, Alleen mit uralten Baeumen.

Bald wurden die Spuren enger, die Parklandschaft faserte in Vor- und Nachkriegssiedlungen aus, einfoermige sechsstoeckige Bauten, grau, Traufhoehenverordnung, dahinter auch Industrieanlagen irgendwo, Boehringer Pharma, Wella. Dann rechts rein, Hohenzollernring, Elbchaussee und gleich war er da.

Hastig holte er die Tueten und Taschen aus dem Wagen, worin die Mutter Kartoffeln und Buegelwaesche verstaut hatte und schleppte sie hoch. Er haette leicht auf beides verzichten koennen, keiner trug heute noch gebuegelte Oberhemden, wenn es ihr nicht so wichtig gewesen waere.

Von den Andern schien keiner da zu sein, auf den Fluren nicht und auch aus den Zimmern war kein Geraeusch zu hoeren. Er ignorierte das subtile Gefuehl der Einsamkeit, das wie ein feines Spinnweb in der Stille hing. Er huschte die Stufen wieder herab und fuhr wie geplant zur Uni, mal sehen was anlag, ob die VV am Freitag den Streik beendet hatte.

Die Ingenieure waren in einem Provisorium untergebracht, einer Art Containerdorf, und im Hinblick auf den bevorstehenden Umzug seit Jahren nicht mehr instandgehalten, so dass bei starkem Regen an manchen Stellen Wasser auf die Flure tropfte. Sie hatten es trotzdem liebgewonnen, so nah am Puls des Lebens - in Harburg wuerde man in Betonsilos gefangen sein.

Auf der ganzen Flaeche des Hauptcontainers hatten verschiedene Buende und Organisationen in regelmaessigen Abstaenden ihre Buecher- und Infotische aufgebaut. Im Moment standen die meisten verwaist und eine flachweite Einsamkeit lag wie ein sanfter Wind in der Halle.

Ueberall an den Waenden klebten Plakate im krausen Chaos mehrerer Schichten, nur die oberste deutlich sichtbar, Aufrufe, Hinweise auf Musik- und Diskussionsveranstaltungen, Einladungen zu den Dritte-Welt-Abenden der evangelischen Studentengemeinde als Eintrittskarten fuer ein neues Bewusstsein, dazwischen aeltere Schichten, manches Schoene darunter, schoen fotografiert oder gelayoutet, was man sich zu Hause gern aufgehaengt haette, hier brutal ueberklebt, verendet, von der naechsten Ankuendigung exekutiert, auch Kneipen und Laeden klebten ihre Werbebotschaften hierhin.

Der Hausmeister hatte laengst aufgegeben. Es musste 3 Jahre her sein, da hatte er in einem Gewaltstreich alle Plakate abgerissen und die Waende mit Lauge gewaschen, eine Sysiphosarbeit, voll Ingrimm verrichtet, sein verzweifelter Vorgaenger war an der Anarchie dieser Jahre regelrecht zugrundegegangen, hinab ins Nirwana des vorzeitigen Ruhestandes. Jetzt interessierte den Nachfolger ihr Schicksal nicht mehr, fuer den aesthetischen Zustand dieses Gebaeudes machte ihn niemand mehr verantwortlich. Es gab insgesamt wenig zu tun.

Kuerzlich war der Zeitplan fuer den Umzug bekanntgeworden, und gleich spielten die Studenten verrueckt, liefen Sturm dagegen, und man fuerchtete, dass sie irgendwas anstellten. Doch diesmal wuerde man nicht nachgeben, wuerde sie an die Kandarre nehmen, denn Harburg war die Chance, sie endlich kleinzukriegen, in Harburg wuerde sich alles aendern, "wartet's nur ab", dachte er, waehrend er aufrecht und untaetig in seinem Kabuff neben dem Haupthoersaal stand und durch das Bullauge in die Halle stierte.

M's Blick glitt ueber den Hausmeister ebenso wahrnehmungslos hinweg wie ueber alles andere - er suchte bekannte Figuren. Wie's aussah, hatten sich alle freigenommen, die Halle war absolut leer, und so ging er gleich zum Fachschaftsbuero weiter. Ein Raum mittlerer Groesse von drei Seiten mit Glaswaenden umgeben, wie eine Vitrine, in der die Studentenvertreter urspruenglich gewissermassen zur Ausstellung freigegeben waren, und vielleicht zur Kontrolle, doch inzwischen waren die Scheiben voellig mit teils professionell gedruckten, teils handbemalten Plakaten beklebt, sogar von der Decke hingen Poster herab, wie riesige Abzuege in einem Photolabor.

Der Raum war von mehreren, reichlich mit Papier und Aschenbechern beladenen Tische verstellt, Fluegblaetter, Aufrufe, Positionspapiere und Dutzende leerer Cola-Flaschen. Dazwischen zwei Schreibmaschinen, die unter dem ganzen Muell schier erstickten. Hinten stand eine Druckerpresse, daneben Stapel weissen Papiers. Leere Flaschen auch oben auf den Regalen, wo sie neben politischen Handbuechern verstaubten. Ueber allem aber droehnte vergeblich ein alter, frontseitig mit Druckschwaerze beschmierter Kuehlschrank.

Hier konnte man an geschaeftigen Tagen die jungen Politiker ein- und ausgehen und ihre Haendel austragen sehen, heute steckten immerhin drei Kommilitonen ihre Koepfe zusammen. M wollte sich gerade abwenden, als er D erkannte und sich kurzentschlossen auf ihn zubewegte, er musste wissen, wie es mit dem Streik weiterging, sonst haette er sich die Fahrt zur Uni gleich schenken koennen. Wenn sowieso alle in Ferien fuhren, brauchte auch er naechste Woche nicht herzukommen.

Auch die andern beiden meinte er vom Sehen zu kennen, sie mussten zu den Elektrotechnikern oder Informatikern gehoeren. Im Moment beachteten sie ihn nicht weiter, so waren sie mit ihrem Disput beschaeftigt, nur D nickte ihm kurz zu und gab ihm durch Zeichen zu verstehen, er werde gleich Zeit fuer ihn haben, und in dieser nach unten gerichteten Handbewegung lag zugleich die wortlose Botschaft, wie wichtig ihm diese Diskussion sei, dass eine Unterbrechung ihn stoeren wuerde - und vielleicht eine Geringschaetzung.

Die Szene wurde von einem lockigen Juengling dominiert, der in endlosem und bisweilen heftigem Stakkato auf die Anderen einredete, als sage er ein aus Ueberzeugung oder Leidenschaft auswendig gelerntes Buch in einem Atemzug herunter, nur gelegentlich von dem Dritten unterbrochen, der bei genauerem Hinsehen etwas aelter wirkte und nach eigener wiederholter Einlassung erst neuerdings studierte, und vorher bei Philipps Elektromotoren zusammengesetzt hatte, und dessen duennes straehniges Haar beim Sprechen wippte, weil er den Kopf am Ende jedes Satzes zurueckfahren liess wie eine aufgezogene Holzpuppe, waehrend D zu alldem schwieg und nur durch gelegentliches Nicken oder Stellungswechsel oder schweres Schlucken oder kurzes heftiges Blinzeln zu verstehen gab, wie bedeutsam ihm diese oder jene Ausfuehrung erschien.

M stand abseits neben dem Trio und versuchte zuerst, den Argumenten zu folgen, doch als die Minuten verrannen, rueckte er von ihnen ab, nur noch Schnipsel des hartnaeckigen Monologes drangen an sein Ohr, und schliesslich waere er beinahe frustriert davongestrichen, wenn nicht der Vielredner sich ploetzlich und geradezu abrupt verabschiedet haette, nach dem Fluss der vorangegangenen Saetze kam dieser Abgang fuer M's Empfinden fast schmerzhaft ueberraschend, er drehte sich auf dem Absatz und verschwand mit schnellen eckigen und zu dem phonetischen Muster seiner Saetze passenden Bewegungen aus dem Raum, es war, als ob dieser Mensch in einer anderen, schneller fliessenden Zeitwelt als andere Erdenbuerger lebte.

D wandte seine Aufmerksamkeit nicht gleich dem alten Freund zu, sondern seine Augen verharrten bei dem Dritten, und es wurde schlagartig klar, des Lockigen lange Rede bildete nur den nahrhaften Teig, die kunstvoll gefertigte Robe, worin die eigentliche Kostbarkeit eingearbeitet war, die Zuneigung zwischen dem Dritten und ihm, die sich erst soeben entfaltete.

Schnell und widerwillig gab er M endlich die wichtigsten Informationen. "Ja, der Streik wird fortgesetzt, nein, der ASTA hat die Leute dringend aufgefordert, sich nicht in die Ferien zu verabschieden; die dumpfe breite Masse wird sich aber nicht daran halten", sagte er mit wissenden Grinsen, er selbst zaehlte sich auch dazu, "morgen frueh fliege ich Marokko", und mit leichtem Kopfnicken goutierte sein neuer Freund dies Eingestaendnis, so wichtig nahm auch er die Studentenpolitik nicht.

Die Beiden waren unversehens und geradezu unmerklich zur Popmusik uebergegangen, jedenfalls ohne dass einer von ihnen ins Stutzen gekommen waere, und K lud D dann sogleich, aus der unbegruendeten Furcht, den Faden der Kommunikation zu verlieren, zu sich nach Hause ein, wo er ihm verschiedene Musikraritaeten vorspielen wollte, und ohne M noch zu beachten, erklaerte sich der Hofierte bereit, spornstreichs mitzukommen.

Das Duo trollte sich dann zur U-Bahn Station, wo sie am Eingang kurz zoegerten, ob sie eine Fahrkarte kaufen sollten, und in einer Art gemeinschaftlichen Verschwoerertums umgehend darauf verzichteten.

"Soviel zur Qualitaet von Sandkastenfreundschaften", dachte M. Man entwickelte sich auseinander und zog den alten Freunden ploetzlich ganz andere Typen vor. Er konnte sich nicht helfen, er fand, dieser K mit seinen schiefstehenden, stechenden Augen hatte etwas verschlagenes an sich.

Er war sich nicht klar, dass Eifersucht bei seinem Urteil eine grosse Rolle spielte und man den wahrhaft Verschlagenen ihre Verschlagenheit ohnehinnicht ansieht, die sie hinter liebenswuerdigen Masken gut verstecken, ja dass dies geradezu die Definition eines verschlagenen Menschen ausmacht, dass man also von einer Kreatur gar nicht sagen kann, sie sehe verschlagen aus, sondern dass es eben eine innere Charaktereigenschaft ist, die sich nicht anders wahrnehmen laesst als durch eine entsprechende, negative Erfahrung, die man selbst oder jemand anders mit dem Betreffenden macht oder gemacht hat. Und dann raetselte er, was D wohl bei den Ingenieuren gesucht hatte, wo er doch Paedagogik studierte.

Die Frage blieb wie vieles in dieser Welt unbeantwortet, und damit wandte er sich gleichfalls aus dem Raum, bog in den Flur und zurueck in die weite einsame Halle, deren Decke ihm mit einem Mal noch niedriger als zuvor und gefaehrlich durchhaengend und im vergehenden Licht des Tages wie ein dunkler Schleier vorkam. Als er den halben Weg zum Ausgang zurueckgelegt hatte, bemerkte er am MSB-Buechertisch eine reglose Frauengestalt, wie in eine Art Stillleben eingebettet vor dem trueben Hintergrund der gammelnden Waende, und irgendein unerklaerlicher Impuls (denn er machte gewoehnlich grosse Boegen um MSB Buechertische), seis wegen ihrer von Ferne schwachen aber wahrnehmbaren und gar nicht fragilen weiblichen Anziehungskraft, der er aus mueder Unkonzentriertheit nach der langen Autofahrt nicht widerstehen konnte, oder des momentanen Gefuehls der Verlassenheit wegen, das ihn spaetestens seit D's Abgang verfolgte, trieb ihn wie trockenes Laub auf sie zu, das auf der Strasse jaehlings von einer Boee mit maechtigem Schub in eine bestimmte Richtung geweht wird und vor einer Mauer abrupt zum Stillstand kommt; und so kam auch er jetzt vor ihrer Tischplatte zum Halten.

Anscheinend regnete es draussen, denn sie trug eine graue unscheinbare und mit einigen Tropfen und Wasserflecken gesprenkelte Regenjacke, die sie nicht abgelegt hatte (sie fror) und jetzt oeffnete, um ihm nicht ganz unfoermig entgegenzutreten, und unter dem Aufschlag bemerkte er die undefinierten Hebungen ihrer Brueste und und die niedrigeren ihres Bauches und Schosses. Ihre Haare waren fest und dicht und die Zuege weiblich und eben, und auf den zweiten Blick nahm man die schiere Lust am Leben in ihren Augen wahr, die jeden Kerl bei einer Frau unweigerlich anzieht, weil sie ein kostenloses Moment der Zukunft verheisst.

Er verharrte vor ihr und wusste nicht, was er sagen sollte, und die Peinlichkeit der Situation kam ihm gerade zu Bewusstsein, als sie ganz unbefangen und mit weicher doch deutlich vernehmbarer Stimme fragte, ob er sich schon eingeschrieben habe, wenn nicht, solle er das moeglichst schnell und nicht erst am Anfang des Wintersemesters tun, das bringe viele Vorteile, kein Andrang im Immatrikulationsbuero, ausserdem bekomme er alle Papiere und Nachweise garantiert rechtzeitigper Post zugestellt; und da erst registrierte er hinter ihrem Ruecken das weisse Pappschild mit der Aufschrift 'Erstsemesterberatung'.

Er fragte sich fluechtig, ob er tatsaechlich so unbedarft wie ein Schulabgaenger aussah, und entschloss sich spontan, sie in dem Glauben zu lassen und mit ihr Katz-und-Maus zu spielen. Ausfuehrlich liess er sich beschreiben, was man beim Immatrikulieren speziell und beim Studieren generell zu beachten habe und wo die wichtigsten Organisationen auf dem Campus ihre Bueros hatten. Auch mit Empfehlungen hielt die Dame nicht zurueck, die M einem Anfaenger keinesfalls gegeben haette. Doch wozu sich herumstreiten?, er fuehlte sich seltsam geborgen, ja gluecklich in ihrer Naehe, und folgte weniger dem Inhalt der Rede als der Intonation ihrer Stimme, von der er sich wie in ein anderes Reich versetzt fuehlte, in dem weder Studium noch Politik noch sonst etwas irgendeine Rolle spielten.

Waehrend sie redete, hielt sie seinem Blick stand, reagierte mit langen, aufmerksamen Augenaufschlaegen von irritierender Klarheit, und als sie zum Ende kam, betrachtete sie ihn pruefend, denn nun erwartete sie ihrerseits und zu recht, dass er sich mit dringenden Kommentaren und Nachfragen ins Zeug legte.

Doch ihm wollte partout nichts einfallen, so erfuellt war er von dem Glueck, sie nur anzusehen, ausser einer beleidigend nebensaechlichen Erkundigung ueber die Mensa, die Essensmarken und die Rueckmeldung bei Semesterende, welche er nur aus Hoeflichkeit stellte, weil er natuerlich die Antworten kannte und um das Bild nicht zu stoeren, das sich soeben in ihr entwickelte.

Denn unter der Ebene des Sprechens und Informationengebens wurde sie von einer unerklaerlichen Zuneigung fuer diesen unsicheren Juengling erfasst, der sie so eindringlich anstarrte und anscheinend keinen vollstaendigen Satz zusammenbrachte, ein ihr allzu bekanntes Verhalten, welches sie gewoehnlich mit Abweisung quittierte, in diesem Fall aber, wiewohl sie es schnell und nuechtern als ordinaere erotische Anziehung identifizierte (womit sie ihm bei der Analyse und Bewertung der Situation meilenweit voraus war) liess sie es bereitwillig zu, badete geradezu in seiner Bewunderung und waehrend er sich weiter in seinem Luegengespinst verhedderte, ueberlegte sie bereits, wie und was aus der Begegnung zu machen sei, es draengte sie danach, ihm anzubieten, er koenne sich notfalls jederzeit an sie wenden, bekanntlich ist das Studieren fuer jeden am Anfang ein Graus ... aber ihm ihre Telefonnummer aufdraengen, wenn er nicht selbst danach fragte, soweit mochte sie doch nicht gehen.

Er tat es nicht; aus dem schiefen Blickwinkel seines Rollenspiels und weil ihm die natuerliche Spontaeneitaet des Hochstaplers fehlte, fiel ihm nichts ein, was man besprechen konnte; zwar zu gern waere er noch viel laenger in ihrer Naehe geblieben, gab aber keinen guten Grund dafuer als die Wahrheit, dass er sie begehrte, ihr zu gestehen, vermochte er nicht.

So meinte er, aus Hoeflichkeit den Rueckzug antreten zu muessen, signalisierte dies durch Haltung und gewisse Bewegungen des Rumpfes und Kopfes, und sie verstand sofort, dafuer hat jede Frau eine Antenne, wenn einer sich duennemachen will, und seis aus Verklemmung, und zog sich ihrerseits zurueck, wobei sie alle Wunschbilder und Erwartungen wieder einsammelte, die sich in ihrem Kopf ausgebreitet hatten.

Verlegen ja verstoert verabschiedete er sich, ohne auch nur ihren Vornamen zu kennen, zoegernd und mit versteinerten Zuegen, schon jetzt mit jenem bitteren Geschmack von Versaeumnis und Wehmut im Mund, der sich oft nach verpassten Gelegenheiten ueber die Zuckerkristalle unseres Gluecks legt. Nie vorher hatte er sie hier gesehen und konnte, wenn sie an einem anderen Fachbereich studierte, nicht davon ausgehen, sie bald wiederzutreffen, nicht bei den Tausenden Studenten, die hier herumliefen, und vielleicht wuerde er sie ueberhaupt nie wiedersehen, die MSB-Leute wurden von ihren Funktionaeren mal hierhin, mal dahin expediert, je nachdem wo sie gebraucht wurden.

Und obwohl er das alles haarscharf erkannte, war er nicht faehig, sie nach ihrem Namen zu fragen, mehr noch, erst im Abwenden kam er ueberhaupt auf diese Idee, und je weiter er sich in der Halle von ihr entfernte, desto mehr bedrueckte ihn sein Versagen, und er musste sich geradezu zwingen weiterzugehen - alle Sinne, Gefuehle, Gedanken schienen ihn zurueckzutreiben, nur die truebe, grausame Wirklichkeit und eine sonderbar verwirrte Vernunft zwangen ihn voran, ein genauerer Beobachter als das nun doch hilflose Maedchen haette leicht feststellen koennen, dass seine Schritte tatsaechlich langsamer wurden - und endlich hinter der schweren Glastuer ins Freie zu treten.

Er erreichte sein Auto und verliess den Parkplatz, ohne irgend klare Gedanken zu fassen, vorbewusst wie ein Tier, am Dammtor haette er fast die Fussgaengerampel uebersehen, erst die kreischenden Bremsen holten ihn aus der Versunkenheit, und zwei Kreuzungen spaeter beschloss er umzukehren, impulsiv aus einer vagen Idee (nicht aus Ueberlegung, da die Vernunft ihn immer noch straeuben machte), schnell links um die Insel und das Gaspedal durchgetreten, und ohne zu wissen, was er ihr sagen wollte.

Natuerlich fand sich kein Parkplatz, nur im hintersten Eck, und den haette er noch fast uebersehn, erst im letzten Moment bog er hinein, verfehlte um Haaresbreite einen Kotfluegel, stieg aus, warf die Autotuer zu und eilte mit langen nervoesen Schritten ueber den Platz, unsteten Ganges, und endlich, keuchend erreichte er das Portal, versuchte fuerchtend und hoffend durch die staubigen Fenster ihre Gestalt zu erkennen und begriff im naechsten Moment, dass sie verschwunden war. Dann trat er ein.

Die Halle lag voellig verlassen. Als habe die Frau nie existiert, die Unterhaltung nie stattgefunden. Sicherheitshalber streifte er einmal in weitem Bogen an allen Waenden entlang, spaehte in Gaenge und Flure, doch nichts regte sich; selbst der Hausmeister, der die ganze vorige Szene aus seinem Bullauge unbemerkt und neugierig beobachtet hatte, war von seinem Posten verschwunden.

Draussen war ebenfalls nichts zu sehen, auch bei den Fahrraedern nicht, da schlich er sich fort, ins Auto zurueck, klammerte sich eine Minute ans Lenkrad und liess endlich den Motor an. Dass er unterwegs eine alte Bekannte mit ihrem neuen Lover im Arm herumziehen sah, gab ihm fuer heute den Rest, er fragte sich, was manche Leute an sich hatten, dass sie es immer wieder schafften, und als er sein Zuhause erreichte, hatte die Verstoerung einem masslosen Aerger ueber sich selbst und seine Lahmarschigkeit Platz gemacht, ueber die Zeit, die er jedesmal brauchte, zu einer Entscheidung zu kommen, wo andere, gluecklichere Typen laengst zugepackt haetten. Er war zu jung, um zu wissen, dass solche Erfahrungen wie das Destillat unseres Lebens sind. Wir sind Figuren eines Schauspiels, bei dem wir ohne Konzept auf einer riesigen Buehne erscheinen, noch ehe wir aber begreifen, was sich aus dieser grandiosen Situation alles machen liesse, ist der Vorhang schon wieder gefallen.

Zuerst versuchte er sich damit zu beruhigen, dass er ihr Verhalten vielleicht missinterpretierte und sie gar nichts von ihm gewollt hatte, dass sie, wenn er's von aussen betrachtete, zuviel ueberlegene Erfahrung und ueberhaupt kein erotisches Interesse angemeldet hatte, er meinte sogar etwas Lauerndes habe neben aller Nettigkeit in ihrem Blick gelegen. Von der Sorte, die ihm freundlich kamen und spaeter, wenn man ihnen hoffnungsfroh zuleibe rueckte, auf Distanz hielten, gab es genug.

Das Grundproblem war und blieb immer dasselbe, er fand keine Frau. Und all seine Freunde schienen es wesentlich leichter zu haben! Um so deprimierender, wenn er seltene Gelegenheiten wie heute nicht nutzte; denn als er die Szene geistig noch einmal genau durchspielte, ihre Worte aus den weichen Lippen, ihre warmen Blicke mit dem unbedingten Laecheln, ihre ganze Zugewandtheit, hatte er DOCH das Gefuehl, dass er sie haette haben koennen.

So wanden sich Aerger und Enttaeuschung in seiner Psyche wie die Schlangen um Laokoon und wollten nicht nachgeben; tatenlos und phlegmatisch verbrachte er den Rest des Tages, jedermann meidend. Erst spaetabends hatte er sich wieder unter Kontrolle und traf sich mit N in der Kneipe (wo sie nicht ueber Frauen redeten).


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