Herr Telkemeier, ein ruestiger und lebensfroher Rentner, muss ein
paar Tage allein auf seinen alten Schwiegervater aufpassen; seine Frau
ist zu ihrer Tochter nach Sueddeutschland gefahren. "Mir wird die lange
Fahrt nicht gut bekommen, das weiss ich jetzt schon",
hat sie beim Abschied geklagt.
Er ist nicht eben ein Ausbund an Fleiss, wenn es
um die Betreuung des Grossvaters geht und hat die
Arbeit meist seiner Frau ueberlassen,
so dass er sich im Moment schwer ueberfordert fuehlt.
Nur gut, dass Heike (vom Pflegedienst 'Seniorenglueck')
den alten Herrn Boekenkroeger jeden Morgen zurechtmacht.
Heute allerdings ist sie nicht gut auf Herrn Telkemeier zu
sprechen. "Sie muessen unbedingt einen Arzt kommen lassen,
Ihr Vater hat ganz dicke Fuesse", hat sie ihm gestern beim
Abschied gesagt, und wiederholt es jetzt mit grimmigem Unterton,
da sich Herr Telkemeier nicht um ihre Anweisung gekuemmert,
sondern stattdessen den Tag untaetig vor dem Fernseher
vergammelt hat.
"Ja, ich werde gleich anrufen", sagt Telkemeier beruhigend,
und diesmal meint er es ernst, denn es ist Fruehling und der Grossvater
hat noch eine schwere Bronchitis dazubekommen, und daher haben
beide in der Nacht nicht schlafen koennen, und so eine
schlaflose Nacht kann zu einer ganz anderen Beurteilung einer
Situation fuehren. Nicht auszudenken, wenn dem Alten in Annelieses
Abwesenheit etwas zustossen wuerde.
Herr Telkemeier muss den ganzen Tag auf den Arzt warten.
"Wann wird denn endlich der Doktor kommen", fragt
er sich immer wieder, waehrend der alte Boekenkroeger
ungesund durch die Nase pfeift und von Zeit zu Zeit
ein trockenes Husten ertoenen laesst.
Auf das Fernsehen kann er sich heute gar nicht konzentrieren.
Die Themen der Talkshows werden immer langweiliger
"mit einem ungewaschenen Mann gehe ich nicht auf die Strasse"
wen soll denn das interessieren? Wenigstens gibt es heute kein
Sexthema, da wuerde der Alte nur unruhig.
Spaetabends erhellen ploetzlich Scheinwerfer den Hof. Es klingelt.
Dr Kokemoor ist ein ruhiger ernsthafter Mensch, der sich ohne viele
Worte ueber den Opa hermacht. Er wirft einen Blick auf die Beine,
dann hoert er die Lunge ab. Dann setzt er sich hin, klappt
die Karteikarte auf und schreibt ein paar Stichworte
nieder. Darauf zieht er seinen Rezeptblock hervor
und schreibt, waehrend er folgende Erklaerungen abgibt:
"Ich verschreibe ihnen ein Antibiotikum gegen die
Bronchitis, Zithromax, es ist leicht vertraeglich und muss nur
3 Tage eingenommen werden, danach haelt es sich 14 tage
im Gewebe" - Zithromax, das klingt optimistisch, findet
Herr Telkemeier - "dann Furorese", faehrt der Doktor fort,
"zur Entwaesserung, das muessen sie jeden Tag geben,
solange die Beine dick sind; und noch Bronchoretard,
denn die Bronchen sind zu eng eingestellt,
darum pfeift ihr Vater so. - Und was kommt uebrigens beim Husten
aus der Nase, ein gelber Schleim?"
"Eigentlich gar nichts", meint Herr Telkemeier, nachdem
er einige Sekunden nachgedacht hat.
"Ach egal", sagt der Doktor, "schaden kann es nicht,
geben sie ihm Ambroloes zur Entleerung der Bronchen."
Ploetzlich piept es in seiner Tasche. "Ich habe heute Notdienst",
sagt er entschuldigend, zieht das Handy heraus,
raeuspert sich und spricht in das Geraet: "Dr Kokemoor?"
und dann: "Hallo Biene" und nach einer Pause: "Du Biene,
ich bin gerade auf Visite. Du weisst doch, ich habe
heute Notdienst, und noch 2 Besuche zu machen.
Ich bin gewiss nicht vor 9 bei dir",
und nach einer weiteren pause: "Aber Biene, ich
sage dir doch, ich kann unmoeglich ... was? Was ist?"
Verwirrt schaut er zuerst sein Handy und dann Herrn
Telkemeier an, bevor er den Ausknopf drueckt und es
wieder in seiner Tasche verschwinden laesst.
Der alte Boekenkroeger war frueher Offizier und ist gewohnt,
sich klar und praezise auszudruecken.
"Lieber Herr Dr Kokemoor", setzt er an, "wenn es ihre Zeit erlaubt,
moechte ich bitte eine Frage zu stellen."
"Natuerlich", sagt der Doktor sanft, waehrend er seine
Papiere zusammenfaltet.
Als wenn ihn die Einleitung schon zu sehr erschoepft hat,
bringt der Grossvater zuerst nichts Rechtes heraus, er
stammelt und stottert klaeglich, bis seine Stimme endlich
wieder klarer wird: "... auf meinen Tisch etwas hingelegt ... die
Sozialisten. Mein Vater war Sozialist, auch
meine Schwester. Ich bin nie Sozialist
gewesen. Ich will es nicht essen."
"Soso", sagt der Doktor, waehrend er seine Tasche
verschliesst, und dann, an Herrn Telkemeier gewendet:
"Sorgen Sie dafuer, dass er die Medikamente regelmaessig
einnimmt. Ich bin die naechsten 2 Wochen in Armenien,
aber jeder meiner Vertreter wird ihnen ebenso helfen koennen."
"Kann ich denn darauf rechnen, dass sie mich noch einmal
untersuchen", fragt ploetzlich der Grossvater.
"Selbstverstaendlich", sagt Dr Kokemoor, waehrend er seine
Tasche schwungvoll ueber die Stuhllehne hebt.
"Vielleicht sollte man mich in einem Krankenhaus untersuchen",
sagt der Grossvater, dem dies alles viel zu schnell gegangen ist.
"Du warst doch erst vor 3 Wochen im Krankenhaus",
faehrt der Schwiegersohn ihn an. "Du bist kerngesund."
"Nana", sagt der Arzt, "jetzt muss ich aber gehen".
Er reicht den beiden die Hand und ist schon durch die Tuer.
Herr Telkemeier wirft einen Blick auf das Rezept.
Dann sagt er nachdenklich: "Biene, so, so, wer ist wohl diese Biene?"
Und was will der Doktor in Armenien?
Anschliessend wirft er sich den Mantel ueber und faehrt
zur Apotheke. Dem Alten hat er eingeschaerft, er soll keinen
Unfug machen und sich moeglichst nicht von der Stelle ruehren.
"Aber ich muss mich fertigmachen,
muss noch zur Versammlung", sagt der Grossvater verzweifelt,
als Telkemeier das Haus verlassen hat. Er hustet, faltet seine
Decke zusammen und richtet sich vom Sessel auf.
Er geht ein paar Schritte in Richtung auf die Halle,
dann hat er sein Vorhaben vergessen, blickt sich
suchend um und laesst sich erfreut aufs Sofa sinken.
"Was ist denn hier los, man kann dich keine halbe
Stunde allein lassen", sagt Telkemeier zu seinem
Schwiegervater, als er zurueckkommt. Im Wohnzimmer
herrscht ein sonderbares Durcheinander, die Regale sind
leergeraeumt, und Buecher und Reisesouveniers aus
aller Herren Laender auf dem Sofa zu Pyramiden gestapelt.
Nachdem er aufgeraeumt hat, packt Herr Telkemeier
die Medikamente aus. "Ah, Antibiotika", denkt er abschaetzig,
viel zu stark fuer den Alten, das schwaecht ihn, er wird nachts
nicht mehr allein aufs Klo kommen. Und die Wasser-Tabletten,
die entwaessern auch seinen Kopf und machen ihn noch wirrer,
als er sowieso schon ist. Als er die Informationen zu den
Bronchialmedikamenten liest, faengt er vor Angst und Muedigkeit
zu schwitzen an. Abzuraten bei Herz-Insuffizienz und
Kreislaufbeschwerden, steht da. "Kann ich ihm das ueberhaupt
geben!" fragt sich Herr Telkemeier. "Das bringt ihn ja um."
Er geht in die Kueche und will sich ein Bier aufmachen,
findet aber den Oeffner nicht. Er flucht und denkt:
"Was mache ich nur? Ich kann ihm das Zeug unmoeglich
geben. Die Aerzte sind gut. Je schaerfer die
Sachen, die sie verschreiben, um so weniger koennen sie
belangt werden, wenn etwas passiert. Aber sie kuemmern sich
nicht um die Nebenwirkungen."
Waehrend er nochmal die Beipackzettel studiert,
schlaeft der Alte ein.
"Jetzt werde ich meine Frau anrufen", sagt sich
Herr Telkemeier.
"Ja, Hallo", toent eine energische Stimme aus dem Telefon.
"Anneliese, bist du es? Ach Anneliese, du glaubst
nicht, wie schlimm es hier steht. Opa ist krank,
und ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Wenn
das so weitergeht ..."
"Und mir erst", unterbricht ihn die Frau,
wobei ihre Stimme ganz duenn wird, "ich bin krank geworden,
fuehle mich sterbenselend."
"Wieso, was hast du denn", fragt er besorgt.
"Ach, die Grippe", sagt Frau Telkemeier, "Benjamin hat
mich angesteckt, als ich ihn herumgetragen habe.
Ich kann mich kaum auf den Beinen halten."