Aus Miss Harriets Tagebuch, anno 1887 - eine Erwiderung auf Maupassant
4. Mai
Seit 3 Tagen bin ich jetzt in Frankreich, und zum ersten Mal in
diesem bisher so truebseligen Jahr hat sich der Himmel aufgehellt.
Es regnet nicht, ganz unbesorgt kann man spazieren gehen und
seinen Gedanken nachhaengen, nur auf sich selbst und die Sensationen
der Natur konzentriert. Und der ewige Wind garniert dieses Dasein mit
einer besonderen Aura.
Ich bin in dem Doerfchen Benouville gestrandet, an der
normannischen Steilkueste zwischen Yport und Etretat.
Oh wie ich die Gegend liebe! Die weiten huegeligen Felder
und das Meer. Ja, besonders das Meer. Ich kann mich gar nicht
satt sehen an diesem Meer. Stundenlang stehe ich allein am
Strand und lasse mich von ihm berauschen. Auch wenn die
Doerfler mich fuer verrueckt halten. Diese Provinzler.
Wissen ihr Glueck nicht zu schaetzen. Missmutig leben
sie in den Tag hinein, weil sie glauben, dass sie es in
der Stadt viel besser haetten, und sind nur mit ihren
Wehwehchen und Vorteilen beschaeftigt.
Die Landschaft ist wirklich unbeschreiblich. Nichtsahnend wandert
man auf Feldwegen, auf kurzem, feinen, teppichweichen Rasen, und
ploetzlich, nur vom zunehmenden Geschrei der Moewen und dem ewigen
Gesang des salzigem Windes angekuendigt, die Steilkueste, wie eine
nach unten abgehende
Mauer. Man sucht sich einen Pfad hinunter zum Strand, und endlich
steht man vor dem unendlichen gruenen Meer, diesem flachen weiten
atemberaubenden Wasser, das Normannen und
Englaendern so gleichermassen heimlich ist.
Ich bin auf einem kleinen Gut untergekommen. Die Baeuerin
vermietet Zimmer an Feriengaeste, ziemlich billige Zimmer,
die Betten sind nicht besser als einfache Strohlager, von
Laken bedeckt; aber so kann ich
mir einen ganzen Sommer Frankreich leisten und nicht nur einen
halben. Ueberhaupt sind die Preise sehr niedrig,
mit meinen geringen Mitteln komme ich gut ueber die Runden.
Die Hausherrin ist eine grobe und unhoefliche Person. Sie mag mich
nicht. Aus irgendwelchen Gruenden mag sie mich nicht, obwohl ich ihr
doch Geld einbringe. Vielleicht, weil ich anders bin als normale
Leute, anders als ihre uebrigen Gaeste, anders als sie mit ihrer
taetigen Art, die sozusagen staendig Kornsaecke herumschleppt, und
das Kommandieren gewohnt ist.
Auch mit dem Gesinde komme ich nicht gut zurecht.
Man kann mich nicht einordnen, ich bin ihnen fremd, und
meist gehe ich ihnen aus dem Weg. Ich bin sicher, dass sie
hinter meinem Ruecken ueber mich herziehen.
Mit den Gaesten geht es mir nicht anders. Ich bin nicht der
mitteilsame Typ, der sich ueberall anbiedert. Ich geniesse mein
Single-Dasein. Wahrscheinlich findet man mich seltsam.
Die meisten sind en famille und nur fuer ein paar Tage hier, schnell
frische Luft tanken, wie sie es nennen, und danach zurueck ins Buero.
Mittags im Esszimmer fuehle ich mich deplaziert zwischen all diesen
Leuten, die immer genau wissen, was als naechstes zu tun ist.
Fuehle mich alt. Und haesslich. Eine haessliche Bohnenstange,
eine alte Jungfer, an der alle vorbeiblicken, als waere sie Luft.
Im Grunde sind SIE fuer MICH Luft. Ich suche Abstand von ihnen.
Dann stehe ich schnell vom Esstisch auf, meide ihre Blicke
und verschwinde so schnell wie moeglich ans Meer, an eine
Stelle am Strand, wo kaum einer hinkommt.
Sie koennen mich mal. Und die Einheimischen koennen mich
ebenso. Ich will die Zeit und das Land geniessen, die Leute sollen
mich in Ruhe lassen. Als ich juenger war, habe ich mich mehr
eingemischt, mich oefter beteiligt, wenn es um die Dinge des
Lebens ging. Jetzt halte ich mich meistens heraus.
Einer der Gaeste ist Maler, ein ganz arroganter Pinsel.
Er ist erst ein paar Tage hier und schleppt mit wichtiger
Miene seine Staffelei durch die Gegend. Er ist jung, viel
juenger als ich, und sehr unbeschwert, sehr von sich
eingenommen, haelt sich mit seinen Hamsterbacken fuer
den Nabel der Welt.
Er ist genau der Typ Mann, der keinen Charakter hat.
Ein Herumtreiber, voellig ungehemmt und seinen Geluesten folgend.
Ein Egoist, der an seinen zukuenftigen Ruhm denkt,
und nebenbei nimmt er die Genuesse des Lebens mit.
Ich seh doch genau, wie er mit der Magd herum schaekert.
Er hat keinerlei Anstand und kennt keine Zurueckhaltung.
Wir zwei sind die einzigen Singles zwischen all den Familien,
aber wir gehen uns trotzdem aus dem Weg. Ich mag diese Art
nicht. Mit ihrem Laerm, ihrer Kraft und ihrem Lebenssaft, den sie
ueberall zu verteilen suchen, verleiden sie mir
den Tag. Mit ihrer falschen Heiterkeit verpesten sie
jede stille, ruhige Athmosphaere. Sie meinen, Ihnen
gehoert die Welt. Sie sind Ignoranten, die sich dabei noch
fuer etwas besseres halten. Die tun, was ihnen gefaellt, ruecksichtslos
und ueber Leichen gehend. Sie wissen ja nicht, wie es ist, aelter
zu werden, von Schwaeche und Krankheiten heimgesucht.
Ah! Sie werden es zu schmecken bekommen. Da kann einer
noch so auf Rosen gebettet sein. 20, 30 Jahre, dann wird auch
er sein Kreuz spueren.
Die Wirtin hat uns an denselben Tisch gesetzt.
Ich merke genau, wie er beim Essen immer versucht, den
Platz mir gegenueber einzunehmen, wie er meinen Blick sucht
und gern ein Gespraech mit mir anfangen wuerde. Der aufdringliche
Kerl. Ich weiss nicht, ob er etwas an mir findet, oder ob es
nur seine gekraenkte Eitelkeit ist. Weil ich mich sproede zeige,
ihn nicht beachte, findet er mich interessant. Ich werde ihn zappeln
lassen. Mir ist es sowieso egal, was er von mir denkt.
Wir haben tatsaechlich eine lange Schoenwetterperiode.
Bei allen ist er beliebt, sogar bei der griesgraemigen Baeuerin, die
ihm in den Arsch kriecht und ihn von vorn bis hinten verwoehnt. "Und
was er erst fuer Bilder malt!" rief sie gestern. Dabei hat sie von
Kunst nicht mehr Ahnung als ihre Kuehe und Ferkel. Sie mag ihn eben.
Und nach moegen oder nicht moegen richtet sich unser Urteil. Mich mag
sie nicht. Dafuer mag ich beide nicht. Bei mir
zieht sein Charme nicht.
Natuerlich merkt er, dass ich ihm aus dem Weg gehe. Wenn
ich ihm auf meinen Spaziergaengen sehe, was ziemlich oft
vorkommt, weil wir beide auf die schoensten Plaetze aus sind,
mache ich einen grossen Bogen um ihn herum. Und wenn er versucht,
mir zu folgen, mache ich mich schnell aus dem Staub.
Anfangs schien ihn das zu belustigen, bei Tisch verdoppelte er seine
Anstrengungen, forcierte seine Artigkeiten, so dass man fuerchten
musste, die anderen Gaeste koennten aufmerksam werden. Mit Bonmots
reichte er mir die Essschuessel, erzaehlte ein Anekdoetchen nach
dem anderen ... - ohne mir auch nur den Hauch eines Laechelns
zu entlocken. Schliesslich hat er es aufgegeben, hat eingesehen,
dass er bei mir mit seinem Charme keine Chance hat.
Vielleicht haette ich rechtzeitig abreisen sollen. Andere
Doerfer sind in dieser Gegend ebenso schoen. Jetzt ist es
zu spaet.
Als ich vorgestern abend heimkam, stand er am Tor und zeigte der
Wirtin ein Bild, das er anscheinend eben gemalt hatte. Er hielt es
hoch in das purpurne Abendlicht. Ein Bild dieser Landschaft.
Rechts ein Felsen, mit braunem Tang ueberzogen, ueber den
die Sonne wie goldenes Oel niederfloss. Links war das
Meer, gruenlich schimmernd, unter einem sich von Wolken
verdunkelnden Himmel.
Ich konnte nicht anders, ich musste es ansehen. Es war meine
Bucht, meine Lieblingsbucht und mein Lieblingsfelsen, und sie so zu
sehen, auf Leinwand, und schoener noch, als sie in Wirklichkeit sind,
ergriff, erschuetterte mich. Ich blieb stehen, und murmelte wohl
irgendetwas vor mich hin, irgendein spontaner Ausruf der
Bewunderung, und da wandte er sich laechelnd um und
sagte: "Meine letzte Studie, Mademoiselle."
Und ich tat ihm den Gefallen, liess meiner Begeisterung freien
Lauf. Denn ich bin eindrucksfaehig. Fuer das Schoene schaeume ich
ueber. Und meine Leidenschaft, das spuere ich, hat ihn begeistert,
gerade in ihrer Verhaltung.
Ich habe mich in ihn verliebt. In diesem Tagebuch kann ich es wohl
zugeben. Gewiss, es ist nicht die brodelnde, vorurteilsfreie Liebe
der Jugend, die sich sofort hingeben will, aber es ist doch eine Art
von Liebe. Mit all seinen charakterlichen Unzulaenglichkeiten
habe ich mich in seine Faehigkeiten verliebt, ich sehe ihn
jetzt mit anderen Augen.
Dabei weiss ich, wie gefaehrlich die Liebe ist. Wie unkontrollierbar.
Einmal habe ich sie erlebt, vor fast 20 Jahren, und danach nie wieder,
vielen Dank. Ich weiss, dass ich dabei nur draufzahle, und dass ich
ihr besser aus dem Weg gehen sollte. Doch ich beruhige mich und denke,
solange er nichts ahnt, ist es vielleicht nicht ganz so gefaehrlich.
Viel hat sich veraendert zwischen uns. Jeden Tag freue ich mich mehr
auf das gemeinsame Mahl, das allmaehlich zum Highlight des Tages wird,
schoener als meine schoensten Spaziergaenge. Ich komme bewusst oft
eine Stunde frueher heim, um mich zurecht zu machen, damit meine
Haare nicht so zerzaust aussehen. Obwohl er mir weiterhin alle
Arten von Komplimenten macht, auf eine plump vertrauliche Weise,
zum Beispiel, dass ich es gar nicht noetig habe, mich zu kaemmen,
und so weiter, wahrscheinlich in Anspielung auf das ungepflegte
Aeussere, mit dem ich sonst in der Gaststube erschienen bin.
Wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen, schweige ich ihn nicht mehr
an. Ich rede. Rede viel. Von der Landschaft, von den Menschen, von
allem. Auch wenn ich das Gefuehl habe, dass er sich ueber manches,
was ich sage, im Grunde lustig macht, er akzeptiert mich, er mag
mich, das spuere ich. Er weiss, trotz all dem dummen romantischen
Zeug, das ich von mir gebe, ist darunter eine recht interessante
Persoenlichkeit verborgen. Und daher, wenn wir dann einmal schweigen,
ist es ein angenehmes Schweigen, ein Schweigen der inneren
Uebereinstimmung.
Die Wirtin, da sie unsere Uebereinstimmung spuert, mag sie mich umso
weniger. Regelrecht unverschaemt wird sie, wenn er nicht dabei ist.
Man glaubt fast, sie moechte mich fort ekeln. Aber ich werde ihr
den Gefallen nicht tun. Ich werde nicht ausziehen.
Immer oefter begleite ich ihn zu seinen Sitzungen.
Ich habe nicht gross gefragt. Ich gehe einfach mit
und beobachte, was er tut und wie sich ein Bild entwickelt.
Er ist grossartig. Wie er es hinbekommt, die unscheinbarsten
Gegenstaende auf seiner Leinwand zum Leuchten zu bringen,
selbst meine duerre, elend klaegliche Figur als etwas
grandioses in die normannische Landschaft zu zaubern.
Waehrend er malt, bleibe ich meist hinter ihm stehen.
Und er, er erzaehlt von seinen Themen, laesst sich
auch ueber Fachfragen aus, ueber Farbtoene, ueber
Valeurs und mehr oder minder kraeftigen Farbauftrag.
Obwohl ich nicht alles verstehe, sind wir doch immer
einer Meinung.
Wie gluecklich ich bin!
Er laesst sich einen Bart wachsen, so dass er sehr maennlich aussieht.
Er traegt immer diese verwegenen Blusen und Pantalons, bei allen
Wettern und Temperaturen, die so weit sind, dass der Wind sie
aufblaeht wie Segel.
Er hat genausoviel Energie wie ich, lange Maersche ueber die
Steilkueste zu machen, und danach noch die Kraft, an einem
Bild weiterzumalen.
Ach, immer er, er, er ...
Er ist viel zu jung fuer mich. Aber ich denke mir, wenn er
keinen Gedanken daran verschwendet, warum soll ich mir graue
Haare wachsen lassen? Vielleicht gibt es sie wirklich, die
platonische Freundschaft ...
Heute haben wir beide begriffen, wie es um mich steht.
Eine kleine Skizze nur wars, und als ich naeher kam, um sie mir
anzusehen, erkannte ich einen Burschen und ein junges Maedchen,
ein Liebespaar, einander zugeneigt, das Hand in Hand durch einen
Hohlweg ging, in leichtem Nebel, und wohl auch durchs Leben.
Ich weiss nicht warum, doch ich war so aus dem Haeuschen, dass ich
aufspringen musste und hin und herlaufen wie eine Verrueckte, und
anfing zu keuchen, da ich meinte, keine Luft zu bekommen. Da ist er
aufgestanden und auf mich zugegangen, ganz ruhig, und hat meine
Hand genommen und nach meinen Augen gesucht.
Aber das hat mein Unglueck nur gesteigert, diese
warmen grossen Haende, die schon wer weiss was angefasst
haben, diese warmen grossen Augen, die schon wer weiss welche
flennenden Frauen gesehen haben. Etwas von mir floss in seine
Haende und in seine Augen, und wenn er auch sonst schwer von
Begriff ist, was die Gefuehle anderer Leute angeht,
und nur auf sich selbst bezogen, an meinem Zittern und
unsteten Blick hat ers erkannt.
Und dann konnte ich nicht mehr, es war nicht auszuhalten.
Ich riss mich los, liess ihn stehen und lief fort, ohne noch
ein Wort von mi rzu geben.
Jetzt dreht sich alles in mir. Ich kann mir schon ungefaehr
vorstellen, welche Reaktionen diese Erkenntnis in so
einem jungen athletischen Manneskoerper ausloest,
eine alte Jungfer, die gev... werden will, nachdem
ihr seine Freundlichkeit zu Kopf gestiegen ist.
Gefuehle von Abscheu und Ekel, und Fluchtgedanken
wahrscheinlich, ihr in Zukunft moeglichst aus
dem Wege zu gehen.
Ich werde ihm zuvorkommen. Ich will ihn gar nicht mehr
sehen. Ich sollte abreisen. Jede Begegnung wird die reinste
Peinlichkeit, das weiss ich bestimmt.
Wenn ich juenger waere, nur etwas juenger. Dann vielleicht. Aber
so. Nein, so geht es nicht. Das Wetter droht schlechter zu werden.
Ich wusste es, ich kann nicht mehr unbefangen mit ihm umgehen.
Und er nicht mit mir. Obwohl er beim Essen versucht, so zu tun, als
waere alles beim Alten. Und irgendwie ist es das auch, denn ich bin
zu meiner urspruenglichen Verschlossenheit zurueckgekehrt, wie eine
Blume habe ich mich verschlossen, nach viel zu kurzer Bluetezeit. Ich
verstelle mich, tue ganz gleichgueltig und reagiere gereizt, wenn er
mir mit seinem Charme allzu sehr zusetzt. Es ist die einzige
Weg, wie ich noch mit ihm umgehen kann. Denn jede Naeherung,
jede erneute Zuwendung loesen bei mir ein unertraegliches
Gefuehlschaos aus, und einen Schwindel, einen mehr als
unangenehmen Schwindel, eine akute Herz-Kreislaufschwaeche.
Ich bin zu alt fuer aussichtslose Geschichten, ich will
nur noch den Frieden zurueck, den er mir genommen hat.
Und auf meinen Wegen, die ich nun nicht
mehr geniessen kann, mache ich wieder einen weiten Bogen
um seine Staffelei. Ich drehe den Kopf zur Seite,
um auch ja nicht seinem Blick zu begegnen, und sei es
nur aus der Ferne.
Und er wird sich vielleicht daran gewoehnen, und wird
meinen zwischenzeitlichen Ueberschwang und meine neuerliche
Verschlossenheit fuer Teile eines unergründlichen Charakters
halten, und die letztwoechige Erfahrung fuer falschen Verdacht.
So waers mir das Liebste. Irgendwann koennte ich dann
wieder auf ihn zu gehen, hinter ihn treten und mir voellig
unvoreingenommen seine Bilder ansehen.
Das Wetter hat sich nun voellig zum schlechten gewandelt.
Der Himmel ist dunkel. Durch das kleine Fenster dringt
kaum Licht in meine Kammer. Den ganzen Tag kann man nicht
aus dem Haus, und erst jetzt, spaetnachmittags, laesst der
Regen einigermassen nach. Ich werde schnell noch zu
meinem Lieblingsfelsen gehen.
Auf dem Weg brach ploetzlich ein Gewitter
los. Es regnete wie aus Kuebeln und blitzte und donnerte
in immer schnellerer Folge. In einer Huette wollte ich
Zuflucht suchen. Doch sie war schon belegt. Zwei Schatten
bewegten sich darin, und als sich meine Augen an die
Dunkelheit gewoehnten, erkannte ich ihn mit der Magd.
Anscheinend war er gerade dabei, sich eine Gelegenheit
zunutze zu machen. Ich habe genau gesehen, wie sie
einander umarmten.
Wie von Sinnen stuerzte ich fort. Es war mir egal, ob ich nass
werde, und todkrank davon, nur fort, oder der Blitz mich erschlaegt.
Jetzt sitze ich hier ueber meinem Buechlein und kann nicht mehr, bin
den Stuermen meiner Empfindungen nicht gewachsen. Mit den atlantischen
Unwettern sind auch die Depressionen zurueckgekehrt, die ich
in England verbannt glaubte, und die mir das Leben gewoehnlich
zur Hoelle machen ... - und sich nun mit diesem Erlebnis ins
Unendliche gesteigert haben. Ich habe meine Gefuehle noch
nie im Griff gehabt, solange ich denken kann, wie andere
Leute, die sie sich immer nur in kleinen Dosen genehmigen.
Ich musste sie immer mit aller Gewalt baendigen. (Obwohl ich
nach aussen eher unterkuehlt wirke, ich weiss.)
Jetzt, wo ich aelter werde, und meine inneren Kraefte
nachlassen, erschlagen, verschlingen sie mich. Und
dann noch dies hier ...
Ich haette es wissen muessen, natuerlich. Denn dieses
Erlebnis, was bedeutet es mehr als einen objektiven
Vorgang, zwei Leiber, die niederen Trieben nachgeben ... Ja,
wenn ich so denken koennte!
Ich weiss, Menschen wie er setzen sich ueber alles hinweg,
verschenken ihre Zuneigung freigiebig in alle Himmelsrichtungen.
Ich weiss, dass ich ihn nicht verdient habe, ihn nie
haette gewinnen koennen, und trotzdem stuerzt mich jene Szene
in einen Abgrund der Verzweiflung, dass ich meinem Leben
ein Ende machen moechte. Sofort, noch diese Nacht.
Ich will den Aufgang der Sonne nicht mehr erleben.
Ob er mein Tagebuch findet? Was wird er denken? Dass
er zu einem gewissen Grad Schuld hat an meinem Tod? Haette er
meinem Wesen, meiner Ueberspanntheit nicht Rechnung tragen,
Ruecksicht nehmen muessen? - Aber er wird sich beruhigen.
Schliesslich ist jeder in erster Linie fuer sich selbst
verantwortlich, so ist das menschliche Leben eingerichtet.
Er hat mir wahrlich genug Zuwendung geboten, viel mehr
als andere, wie oft ist er auf mich zugegangen! Vielleicht
zu oft?
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