Das Leben geht weiter. Oder?


N ist Ende 30 und alleinstehend. Er besitzt eine Eigentumswohnung in der Kokemoorstrasse und arbeitet im Callcenter einer grossen Versicherungsgesellschaft. Es ist ein nervenaufreibender Job, weil er sich staendig mit unzufriedenen Kunden herumaergern muss. Mehrfach hat er um Versetzung in eine andere Abteilung gebeten, die ihm auch bereits in Aussicht gestellt worden ist.

Die taegliche Fruehstueckspause verbringt er gewoehnlich mit dem Kollegen Wolf in der Kantine. Auch Wolf ist Ende 30 und alleinstehend. Sie setzen sich mit Kaffee und Bildzeitung an einen der hinteren Tische und schwadronieren, was ihnen so in den Sinn kam.

"Hier! Lotto-Lothar. Seine Witwe muss von 400 Euro leben", liest Wolf vor. "... weil er die Bardame Doris kennenlernte und mit ihr sein Geld verprasste. Hoerst du, so kann es dir gehen ..."

N kann darueber nicht lachen. "Gestern war vielleicht ein Tag!", stoehnt er. Erst fuhren die Strassenbahnen nicht, und ich bin zu Fuss nach Hause. Und da ist mir was ganz seltsames passiert. Als ich so unterwegs bin und um eine Ecke biege, sehe ich weiter vorn einen Fussgaenger, der es ziemlich eilig hat."

"Wenns weiter nichts ist", unterbricht ihn Wolf, "mir passieren auch staendig seltsame Sachen. Meine Unterhose rutscht, obwohl das Gummi noch ganz fest ist. Oder der Strom faellt aus, ausgerechnet, wenn der Film der Woche anfaengt, haeltst du das fuer normal?"

"Warte doch, hoer zu, es kommt erst. - Ploetzlich loest sich ein zweiter Mann aus dem Schatten einer Hecke. Er hat eine Pistole in der Hand und zielt damit auf den Fussgaenger. Und schiesst. Es gibt keinen lauten Knall, anscheinend hat die Pistole einen Schalldaempfer, aber der Fussgaenger stolpert und faellt getroffen zu Boden.

Ich verdruecke mich schnell im Eingang des naechstliegenden Hauses. Als ich mein Handy aus der Tasche holen will, um die Polizei zu verstaendigen, fahren zwei Polizeiautos an mir vorbei und bremsen bei dem Toten, oder Schwerverletzten, so genau liess sich das auf die Entfernung nicht unterscheiden.

Und das Tollste: Statt den Moerder festzunehmen - der ist naemlich stehengeblieben und untersucht den Erschossenen, dreht ihn auf den Ruecken und kramt seelenruhig in seinen Taschen - unterhalten sie sich mit ihm, und statt einen Krankenwagen zu verstaendigen, werfen sie die leblose Gestalt wie einen nassen Sack in den Wagen und brausen davon."

"Wo war das denn", will Wulf wissen, "ich meine, ein Mord auf offener Strasse, das muessen doch noch andere gesehen haben, das muesste doch in der Zeitung stehen", und faengt an, nach einer entsprechenden Mitteilung zu suchen.

"In der Schellingstrasse, gar nicht weit von meiner Wohnung. Meist wenig los da. Reines Wohngebiet. Ausser mir war niemand zu sehen. Der ganze Spuk hat keine fuenf Minuten gedauert."

"Es wird schon auch andere Zeugen geben. Ich meine, in den Haeusern, wenn jemand zufaellig aus dem Fenster geschaut hat."

"Kann sein. Aber was hilft mir das? Was soll ich bloss machen?"

"Vielleicht haben sie nur einen Film gedreht."

"Ich weiss nicht, sah eigentlich ziemlich echt aus, das Ganze; ich habe auch keine Kameras gesehen."

"Ich wuerde dir raten, zur Polizei zu gehen. Es muss doch Spuren auf dem Bordstein geben. Und ob es weitere Zeugen gibt, kann nur die Polizei feststellen."

"Aber die Spuren koennten entfernt worden sein. Und mit den Zeugen ist das so eine Sache. Ehrlich gesagt, ich habe Angst, dass man mich fuer verrueckt haelt."

"Dann laesst du es eben", brummt Wolf achselzuckend. "Ich kann mir auch nicht vorstellen ... Das heisst, es wird schon eine vernuenftige Erklaerung geben."

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So verdraengt N den Vorfall - bis er Monate spaeter von ihm wieder eingeholt wird:

Wieder sind die Strassenbahnen ausgefallen, wieder muss er zu Fuss heimgehen. Diesmal macht er zwar einen grossen Bogen um die Kokemoorstrasse. Doch es wird ihm nichts nuetzen, er entkommt seinem Schicksal nicht. In der Otto-Maier-Gasse (benannt nach dem frueheren staedtischen Obergartenbauplaner) steht ein grosser Tiertransporter vor einem Mietshaus. Bei dem Wagen stehen bewaffnete Maenner. Sie tragen schwarze Anzuege und Masken, so dass man ihre Gesichter nicht erkennen kann.

Eben kommen weitere Bewaffnete aus dem Haus. Sie treiben eine Gruppe von Frauen und Kindern vor sich her. Die Szene kommt N irgendwie bekannt vor. Schnell versteckt er sich in einem Hauseingang.

Die Frauen tragen Reisetaschen, die Kinder weinen und druecken sich Stofftiere an die Brust. Die Maenner schubsen sie auf die Ladeflaeche. Als alle drin sind, schliessen sie die Klappe. Drei springen in die Fuehrerkabine des LKW, die anderen verteilen sich in mehrere unauffaellig-auffaellige dunkelgraue Daimler, die vor und hinter dem LKW parken.

Sie wollen eben losfahren, als einer der Maenner aus dem vorderen Daimler wieder aussteigt und mit Papieren herumfuchtelt, anscheinend hat er etwas vergessen. Der Fahrer des LKW macht seine Tuer auf. Der andere Mann zeigt auf die Zettel, dann auf das Haus, dann debattieren sie kurz, und kommen wohl zu dem Schluss, dass sie keine Zeit mehr haben. Die Kavalkade setzt sich in Bewegung.

N weiss nicht, was er tun soll. Er wartet eine Zeitlang, dann schleicht er sich wie ein Verbrecher nach Hause. Er kann die ganze Nacht nicht schlafen und ueberlegt, wem er die Geschichte erzaehlen koennte. Kollege Wolf guckt ihn neuerdings so komisch an und geht auch nicht mehr mit ihm fruehstuecken.

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N verdraengt auch dieses Ereignis. Er ueberlegt ein, zwei Tage, ob er zur Polizei gehen soll, unterlaesst es aber. Tatsaechlich hat er Angst vor einer Verschwoerung, in die die Behoerden verwickelt sein koennten, und dann waere es ganz falsch, sich bemerkbar zu machen, er moechte da nicht hineineingezogen werden.

'Verschwoerung', dieser Gedanke scheint auf den ersten Blick ziemlich abwegig. Eigentlich gibt es ueberhaupt keinen Grund, sich ueber den Zustand der Gesellschaft Sorgen zu machen. Sie funktioniert, wie sie immer funktioniert hat, seit ueber 50 Jahren hat sie gut funktioniert, sie ist wohlhabend, und fast alle haben am Wohlstand teil.

Allerdings, in den letzten Jahren hat sich die Stimmung gewandelt. Die Zeiten der Libertinage sind vorbei. Frueher haben die Leute Wert auf individuelle Freiheiten gelegt, heute steht die Sicherheit im Vordergrund. In den grossen Zeitungsstuben haben die Feuilletonredakteure angefangen, haenderingend das Ende der klassischen Bildung und des Abendlandes zu beklagen, und, von eifrigen, vormals progressiven Paedagogikprofessoren medienwirksam unterstuetzt, Bilder der Gewalt zu beschwoeren, die unschuldigen Zeitgenossen von Horden intellektuell verwahrloster Jugendlicher droht, besonders wenn sie tuerkischer Abstammung oder islamistischer Ueberzeugung sind.

Der Stimmungsumschwung haengt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Gesellschaft altert und satt ist. Wer alt und satt ist, fuerchtet mehr um seine Sicherheit als junge Leute, die sich im Notfall selbst verteidigen koennen, und ist bereit, fuer diese Sicherheit Opfer zu bringen. Die Polizeiorgane werden aufgestockt und immer besser ausgeruestet. Auf oeffentlichen Plaetzen drehen sich Videokameras. Passkontrollen und Haussuchungen sind an der Tagesordnung.

Alle Tage tritt der Innemminister vor die Fernsehkameras; und auch der Tonfall der Reporter hat sich geaendert. Wann- und wo-immer Streitkraefte und Ordnungshueter taetig werden, sie haben eine gute Presse, kein Mensch maekelt mehr an ihnen herum oder kommt auf die Idee, unbequeme Fragen zu stellen, einfach, weil es keinen Grund fuer unbequeme Fragen gibt. They do a good job, heisst es allenthalben, die Kriminalitaetsraten sind ruecklaeufig.

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Wochen vergehen ... Es ist abend, ein lauer Sommertag; wie gelber Nebel liegt das Licht der Daemmerung in N's Wohnzimmer. Es klingelt. Als er die Tuer aufmacht, weiss er sofort Bescheid.

Sie zeigen ihm den Haftbefehl und legen ihm Handschellen an. Trotzdem hat er keine Angst, er ist nicht mal besonders nervoes.

Im Laster werden ihm die Augen verbunden, eine unsinnige Vorsichtsmassnahme, denn der Laderaum hat keine Fenster, nur durch ganz schmale Ritzen faellt etwas Licht.

Nach unendlich langer Zeit erreichen sie das Lager. Sie parken auf einem riesigen hell beleuchteten Areal, das von hohen Zaeunen und nach hinten von einem breiten Betonbau begrenzt wird. Sie werden auf einen duesteren Hinterhof getrieben, den zwei kleine Laternen in ein gespenstisches Licht tauchen. Laute Befehle mischen sich mit dem Stimmengewirr hunderter Menschen. N fuehlt sich an einen schlechten, oder mindestens schlecht ausgehenden Film erinnert.

Auf dem Hof stehen Dutzende von Baracken und Mannschaftszelten. Er bekommt einen Stempel auf die Stirn, ein Filzband um den Arm und einen Sticker auf den Ruecken seiner Jacke, und wird dann zum Schlafen in eines der Zelte geschickt. Auf der Matraze liegt ein Zettel mit seinem Namen.

Natuerlich kann er nicht schlafen. Die halbe Nacht wispert er mit seinem Bettnachbarn, einem Klempner aus Rosenheim, sie spekulieren, was man mit ihnen vorhat, und was sich gegen ihren rechtlosen Zustand unternehmen laesst. Und in der zweiten Nachthaelfte, waehrend der Klempner in einen ruhigen arglosen Schlaf hinuebergleitet, waelzt sich N hin und her und vergeht fast vor Sorgen und Aengsten.

Am naechsten Morgen bringt ihn eine Wache zu dem grossen Betonbau. Bei der Rezeption wartet ein kleiner, unscheinbarer Mann mittleren Alters in einem grauen, schlechtsitzenden Anzug und fuehrt N durch mehrere Treppenhaeuser und lange Korridore in einen fensterlosen Raum, in dessen Mitte ein Schreibtisch steht und auf dem Schreibtisch eine helle Lampe, deren Lichtkegel die Mitte des Raumes beleuchtet. Sie beleuchtet den Fussboden, die Schreibtischflaeche, Akten und Schreibstifte, und das Gesicht des Mannes, der hinter dem Schreibtisch sitzt. Der Mann traegt eine modische Metallbrille und einen gutsitzenden hellgrauen Anzug, und scheint Akten zu studieren.

Wieder fuehlt sich N an einen Film erinnert. Er weiss oder glaubt zu wissen, was jetzt kommt. Sie werden sagen, dass er Tuerke ist, beziehungsweise tuerkischer Abstammung, und dem Islam angehoert, dass alle Moslems ab sofort und auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam genommen werden, weil sie verdaechtig sind, die oeffentliche Ordnung zu unterminieren, er hat es seit Tagen im Fernsehen gesehen, es stand auch im Haftbefehl, es laeuft eine Kampagne, er haette es wissen muessen, aber er hat die Augen verschlossen und gehofft, dass das Gewitter vorbeizieht.

Wahrscheinlich werden sie ihn verhoeren, und wissen wollen, was er in der Kokemoorstrasse und der Otto-Maier-Gasse gemacht hat, wo er gar nichts zu suchen hatte, sondern mit der Bahn haette heimfahren sollen. Ob er womoeglich zu einer der Terror- oder sogenannten Widerstandsgruppen gehoert. Widerstand haha, ich und Widerstand, denkt N und lacht, so dass der Mann aufmerksam wird. Er hebt den Kopf und blickt N mit seltsam mueden Augen an.

"Mein Name ist Calmeyer", sagt er freundlich. "Und Sie sind Herr N, geboren am 23.2.84 in Duesseldorf. Stimmt das?"

N nickt beklommen. Er sieht die Muedigkeit in den Augen des Anderen; doch es ist keine Muedigkeit, die aus zu wenig Schlaf resultiert, auch keine Resigniertheit, es ist einfach die allgemeine Ausdrucksform seiner Augen.

"Wahrscheinlich fragen sie sich, warum sie hier sind", sagt der Mann. "Uns wundert allerdings, dass sie bei Ihrer Verhaftung keinen Widerstand geleistet haben."

Aha, denkt N, und wartet, dass sie auf seine Anwesenheit in der Kokemoorstrasse zu sprechen kommen, er glaubt, dass Wolf ihn 'verraten' hat; aber nichtsda, alles Einbildung, von seinen Abenteuern wissen sie nichts.

"Wenn Sie kooperieren", sagt der Mann, "wird ihnen nichts geschehen."

"Ich wuesste nicht, inwiefern ich Ihnen helfen koennte", sagt N. "Ich bin deutscher Staatsbuerger, und mit den Anschuldigungen, die gegen mich erhoben werden, habe ich nichts zu tun."

"Darum geht es nicht", erwidert der Mann und hebt abwehrend die Haende, "ueber Schuld und Unschuld habe ich nicht zu befinden. Ich muss mich an die Anweisungen meiner Vorgesetzten und der Bezirksregierung halten. Grundsaetzlich sind alle Tuerken in Schutzhaft zu nehmen und zu verhoeren. Sehen Sie, wir sind eine grosse Organisation, das Ministerium fuehrt die Gesamtaufsicht, daneben gibt es die Landes- und die Bezirksdirektionen des Innern, Landes- und Bundeskriminalamt, die Geheimdienste, ja sogar die Kreisverwaltung meint mitreden zu duerfen, und natuerlich die Melde- und Sammelstelle, die Zeugverwaltung, die Waerter und so weiter, und ich selbst und mein Mitarbeiter, Herr Miessen, der sie eben hereingeholt hat, wir gehoeren zu einer kleinen Dienststelle, die sich mit Sonderfragen beschaeftigt, mit der Frage naemlich, ob einzelne Verdaechtige tatsaechlich eindeutig dem Islam zuzuordnen, oder ob sie eher versehentlich in unsere Maschinerie geraten sind. Eine wichtige, eine lebenswichtige Frage, wie sie zugeben werden", und dabei blickt er N aus mueden Augen eindringlich an, waehrend Miessen reglos danebensteht, "die man hundertprozentig praezise beantworten muss, schliesslich wollen wir niemand zu Unrecht verurteilen.

Ich habe Ihre Akten studiert, ihre Biografie und die Daten der Meldebehoerde mit unseren eigenen Unterlagen abgeglichen, und dabei sind mir Zweifel gekommen, ich meine, berechtigte und erhebliche Zweifel, ob sie tatsaechlich einer islamistischen Grundhaltung anhaengen."

N ueberlegt. Was Calmeyer sagt, hoert sich wie ein Hintertuerchen an, die Moeglichkeit, einem boesen Schicksal zu entgehen; und im ersten Moment moechte er zustimmen und seine Herkunft und Ueberzeugungen verraten, nur um schnell aus diesem Elend herauszukommen. - Es koennte aber auch eine besonders perfide Falle sein, mit der man ihn aufs Kreuz legen will, wer kennt sich denn in Deutschland noch aus, das ganze Land ist ein Irrenhaus.

Calmeyer faengt an, ihm eine Geschichte aufzutischen, die sich wie N's Biografie anhoert. Jedoch nur an der Oberflaeche, in wesentlichen Teilen hat sich mein Leben ziemlich anders abgespielt, denkt N. Es laeuft darauf hinaus, dass er aus der Gruppe der Verdaechtigen herausfaellt, weil er bestimmte Merkmale nicht erfuellt.

"Ich brauche Ihre Mithilfe, bitte geben sie mir weitere Informationen, die meine Thesen untermauern", sagt Calmeyer zum Schluss fast flehentlich. Und als er seine mueden blauen Augen wieder auf N richtet, versteht N, oder meint zu verstehen, Calmeyer ist tatsaechlich ein Freund, es gibt eine Chance.


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