I. Ende Februar 1980
Fuer Studenten der technischen Faecher beginnen die
Tage frueher als fuer ihre Kommilitonen aus anderen
Fachbereichen. Sie koennen zwar ein bis zwei
Stunden laenger schlafen als gewoehnliche Arbeitnehmer,
aber spaetestens gegen 8 muessen sie aus den Federn,
um die ersten Lehrveransaltungen nicht zu versaeumen.
Das ist ein grosser Nachteil im studentischen Nacht-
und Liebesleben, der durch weitere Handicaps verstaerkt
wird, durch die geringe Frauenquote und durch die
Tatsache,
das sich viele angehende Ingenieure und Naturwissenschaftler
mehr fuer Dinge als fuer Menschen interessieren, und
stundenlang
vor technischen Apparaturen sitzen koennen, ohne
sozialer Ansprache zu beduerfen.
Ekhart Reiter studierte Informatik im 5. Semester.
Er war gross,
22 und sah gut aus. Der Tag hatte fuer ihn kalt und
frueh begonnen.
Kurz nach 8 maltraetierte er seinen verschlafenen
Koerper aus dem
Matrazenlager in dem kleinen niedrigen WG Zimmer,
das er in der
Eisenstrasse bewohnte. In Muenchen sind die Mieten
so hoch,
dass Studenten, die mit weniger als 1000 Mark im Monat
haushalten muessen, zu dritt oder viert in dringend
renovierungsbeduerftigen Wohnungen hausen.
Sie sind froh, wenn ihnen bei der Zimmersuche Anzeigen
unterkommen, in denen von Kacheloefen und fliessend
kaltem
Wasser die Rede ist. Feuchtigkeit oder Tapetenschaeden
verhaengen sie mit grossen Plakaten, die von ihrer
politischen oder kulturellen Einstellung zeugen.
Auf den unbeheizten Toiletten hinterlassen
sie schriftliche Zeugnisse ihrer analen Stimmungen.
Ekhart brachte Waschen und Fruehstuecken in ziemlicher
Hast hinter sich, streifte seine olivgruene Natojacke
ueber
und machte, dass er aus dem Haus kam, bevor seine
WG Genossen wach wurden.
Draussen war es nicht gemuetlicher als drinnen.
Nebel und Kaelte krochen ihm unter die Haut
und er beeilte sich, auf dem schnellsten Weg zur Uni
zu kommen,
vorbei am staedtischen Baureferat, in dem eben die
letzten verspaeteten Angestellten ihren Tag begannen,
vorbei
auch an dem Friseurladen, in dem sie sich in lange
Wartelisten
eintrugen, und schliesslich an der hell erleuchteten
Maennerboutique vorbei, in der sie sich mit Anzuegen
ausstaffierten, weichen grauen Panzern, um im Buero
zu ueberleben.
Muenchen ist eine saubere Verwaltungsstadt, die
ihr Industriegebiet ins ferne Ingoltstadt verbannt
hat und in
ihren Mauern hoechstens das Dienstleistungsgewerbe
oder
Technologiekonzerne duldet. Sie liegt im Zentrum einer
grossen Hochebene, die nach Sueden von den Alpen begrenzt
wird (dem Freizeitgebiet der Muenchner), und nach
Norden von
der Donau, hinter der fuer den echten Bayern Preussen
beginnt.
Muenchen bietet jede Menge Lebensqualitaet - besonders
fuer
die gutverdienende Mittelschicht, aber auch fuer
Studenten (die demnaechst dazugehoeren werden) - und
ist von amerikanischen und japanischen Touristen zum
Zentrum der deutschen Boheme gemacht worden. Wenn
Ekhart
fruehmorgens an den Schwabinger Kneipen vorbeikam,
hantierten
tuerkische Putzfrauen hinter verhangenen Scheiben.
Er hoerte heute an der Uni sein normales Pensum von
2 Vorlesungen am Vormittag und 2 Uebungsgruppen nachmittags;
und als er um 16 Uhr 15 bei der letzten Veranstaltung
erschien, einer 'Uebungsgruppe zu numerischen Problemen
in der Informationstechnologie', war er ziemlich ausgelaugt.
In dem viel zu grossen Raum, der eigentlich ein
mittlerer Vorlesungssaal war, verloren sich die wenigen
Anwesenden wie auf einem Fussballfeld. Einige hatten
sich
sehr weit nach hinten gesetzt, weil sie frueher gehen
wollten oder
sich mit anderen Dingen beschaeftigten, oder einfach
weil sie
sich zu muede fuehlten, aktiv an der Besprechung der
Aufgaben
mitzuwirken. Ekhart setzte sich in die Mitte des Raumes,
da ihn
das Thema interessierte. Die Uebungen gehoerten nicht
zu den
Pflichten seines Semesters, so dass er die Meisten
hier nur
vom Sehen kannte.
Kurz nach Beginn setzte sich eine weibliche Hoererin,
die ihm frueher nie aufgefallen war, weil sie weiter
hinten gesessen hatte, auf den Platz links neben ihn.
Dieser Vorgang war aeusserst ungewoehnlich - denn
es gab allein in dieser Reihe mindestens 20 freie
Plaetze -
und irritierte ihn gewaltig, da er sich einer geballten
Portion weiblicher Ausstrahlung ausgesetzt sah.
Sie war in seinem Alter, vielleicht juenger, und fiel
durch eine gepflegte Dauerwelle und durch einiges
Andere auf.
Der Uebungsleiter, der Meier hiess, hatte inzwischen
mit der Besprechung der Aufgaben begonnen, die jedesmal
nach dem gleichen geschaeftsmaessigen Ritus ablief.
Die Teilnehmer hatten schriftliche Loesungen abgegeben
und wurden aufgefordert, ihre Resultate vorzutragen.
Meistens schrieben sie - von stockenden Monologen
begleitet - lange Formeln an die schwarze Tafel,
die voller weisser Risse war, so dass man die
Kreide an vielen Stellen nicht erkennen konnte.
Die seltenen Einwuerfe des Uebungsleiters vergroesserten
die muede Verwirrung der Hoerer. Denn dieser junge
Mensch mit seiner runden Nickelbrille und der
fettigen
Stirnglatze besass keinerlei paedagogische Eignung
und
hatte die Eigenart, mit seinen Kommentaren vom direkten
Loesungsweg abzuschweifen.
Fuer Aufgabe 1 war heute ein grosser Student mit pickeligem
Gesicht und gebeugtem Gang nach vorn gerufen worden.
Ekhart hatte groesste Muehe, sich auf das Geschehen
an der Tafel zu konzentrieren. Sein Blick wurde
magnetisch von verschiedenen Koerperteilen seiner
Nachbarin
angezogen, und seine Gedanken umkreisten die Frage,
warum das Maedchen sich so nah neben ihn gesetzt hatte.
Die
vage Ahnung, dass sie ihn kennenlernen wollte,
fuehrte aber zu keiner logischen Schlussfolgerung.
Ein Mann von groesserer Geistesgegenwart haette aus
dieser Situation eine Liebesbeziehung gemacht. Ekharts
Verstand aber wurde durch seinen Sexualtrieb lahmgelegt.
Der verstaubte Vorlesungssaal hatte nie den leisesten
Versuch moderner Lehrmethoden erlebt, schon gar nicht
durch Uebungsleiter Meier. Ich weiss nicht, ob es
solche
Uebungssraeume heute noch gibt. Baenke und Pulte
bestanden aus uraltem Holz, das mit den Jahren schwarzbraun
nachgedunkelt war und sich gegen die kackfarbenen
Waende,
von denen der Putz broeckelte, kontrastreich abhob.
Die
Baenke waren derart knapp bemessen, dass man hier
300 Hoerer
zusammenpferchen konnte (im Moment waren es nicht
mehr als ein Dutzend). Auf den Pulten, die man hochklappen
konnte, hatten Generationen von Studenten Meinungen
zu den unterschiedlichsten Themen verewigt.
Seit Jahrzehnten war nichts mehr in die Ausstattung
investiert worden; der alte Prof. Sommerfeld hatte
hier schon
Spezialvorlesungen gehalten - jedoch mit groesserem
paedagogischen Erfolg als Uebungsleiter Meier.
Dem war nicht entgangen, dass sich seine
attraktivste Studentin neben Ekhart gesetzt hatte,
und waehrend er scheinbar konzentriert dem grossen
Studenten
lauschte, ueberlegte er, was das zu bedeuten hatte.
Die Geissel des Neides brachte ihn schliesslich auf
einen Gedanken. Als die Besprechung der ersten Aufgabe
beendet war, sagte er: "Herr Reiter, koennten Sie
uns
bitte Aufgabe 2 vortragen? Ich habe Ihre Beweisfuehrung
nicht ganz verstanden und sie sollen Gelegenheit haben,
mich von der Richtigkeit Ihrer Argumente zu ueberzeugen."
Normalerweise wurden nur Studenten, die richtige Loesungen
abgegeben hatten, an die Tafel geholt - um auszuschliessen,
dass sie abgeschrieben hatten. Dem Uebungsleiter war
eigentlich klar, dass Ekharts Loesung falsch war.
"Ja, ok." Der Angesprochene erhob sich widerstrebend
von seiner
Bank; denn abgesehen davon, dass er sich im Moment
auf keine Formel
konzentrieren und sich nichts Schoeneres vorstellen
konnte,
als neben seiner Nachbarin sitzen zu bleiben, war
ihm Aufgabe 2
nicht ganz geheuer.
"Ich habe die Funktionen in Spline-Polynome
entwickelt und daraus eine Orthogonalitaetsbedingung
abgeleitet", sagte er, als er an der Tafel war.
"Ich muss jetzt aber nachschauen, wie ich das gemacht
habe." Und damit vertiefte er sich in seine Aufzeichnungen.
Sein weiterer Vortrag war ein Desaster. Meier liess
ihn so
lange in den Fallstricken seiner falschen Beweisfuehrung
zappeln,
bis ihn das gesamte Auditorium fuer einen Narren hielt
und dem
jungen Maedchen alles Interesse vergangen war. Es
waren 10 Minuten
bis zum offiziellen Ende der Lehrveranstaltung, als
Ekhart noch
immer an der Tafel stand und die Unbekannte das Weite
suchte.
II. Anfang Mai 1980
Einige Wochen spaeter wartete Ekhart in einem Flur
des Hauptgebaeudes auf ein paar Freunde, als ihm das
grosse
Plakat der Fulbright Stiftung auffiel, die Stipendien
fuer einjaehrige Amerikaaufenthalte vergibt. Die Mehrzahl
der deutschen Studenten verbringt ihre gesamte Studienzeit
aus Bequemlichkeit an ein und demselben Ort, und die
auf
Initiative eines ehemaligen US Senators gegruendete
Organisation
will dieser Malaise abhelfen, u.a. mit grossen farbigen
Plakaten, in denen an Neugier und Unternehmungslust
junger Leute appelliert wird.
Ekhart lebte erst 2 Jahre in Muenchen, hatte aber
die diffuse Empfindung, dass er aus Deutschland fortmuesse.
Fachlich fuehlte er sich eigentlich ganz wohl an der
LMU;
doch seine Libido war frustriert und erzeugte eine
innere Unruhe
und ein Gefuehl, dass er sein Glueck hier nicht machen
wuerde.
Ein fremdes Land war genau das Richtige. Er begann
daher
eifrig das bunte Plakat zu studieren, in dem die Voraussetzungen
fuer ein Fulbright Stipendium aufgelistet waren.
Der buerokratische Aufwand war allerdings ziemlich
gross. Man musste eine Reihe von Formularen ausfuellen
und
etliche Dokumente und 2 Professoren-Gutachten beifuegen.
Wer in die engere Wahl kam, wurde zu einem Gespraech
mit der lokalen Fulbright Kommission eingeladen, die
sich aus ausgewaehlten Professoren aller Fachbereiche
zusammensetzte. Ekhart schaetzte, dass er Alles in
ein, zwei
Nachmittagen zusammentragen koennte. Waehrend ihm
der
charakteristische Bohnerwachsgeruch des Bodenbelags
in der Nase
lag, ueberlegte er, wohin in den USA er gehen wollte,
Kalifornien war interessant, aber New York oder Boston
waeren auch nicht schlecht.
Am naechsten Tag klopfte er bei der Sekretaerin von
Prof.
Mahrendorf an, die hinter einer grossen alten Tuer
in einem
hohen alten Buero residierte, in dem eine Staffette
von
breiten Neonroehren jeden Winkel ausleuchtete. Mahrendorf
war Institutsdirektor und der offizielle Anbieter
des
Informatik-Praktikums, in dem Ekhart viel Zeit mit
Assistenten
verbracht hatte, ohne auch nur einmal des Mannes ansichtig
zu
werden. Der Professor sei im Moment nicht zu sprechen,
sagte
die ruehrige Fuenfzigerin, die ueber die Verwaltung
des Lehrstuhls
herrschte. Fuer ein Empfehlungssschreiben sei jedoch
ein
persoenliches Gespraech unerlaesslich. Frauen wie
ihr
widersprach man nicht, und so nannte Ekhart mehrere
Termine,
die sie ihrem Chef vorschlagen wuerde.
Als er schliesslich am vereinbarten Tag um 16 Uhr
vorgelassen wurde, meinte er - durch eine schwere
genietete
Eichentuer - in eine andere Welt zu treten. Mahrendorf
thronte hinter zwei ausladenden Schreibtischen in
einem
riesigen schlecht beleuchteten Raum, in dem die Zeit
um 1950 stehengeblieben war und der fuer einen Minister
oder Generaldirektor angemessen schien. In wuchtigen
Glasschraenken waren Buecher, Zeitschriften und
Elektronikutensilien gestapelt. Aus hohen breiten
Fenstern,
die sich ueber zwei Wandflaechen erstreckten, hatte
man einen imposanten Blick auf Muenchens Skyline.
"Treten Sie naeher, Herrrr aeh Reiter", sagte der
alte Mann, von seinen Papieren aufblickend.
Die Macht der Ordinarien ist in Bayern fast unbegrenzt.
Sie dirigieren Heere ehrgeiziger Assistenten mit ungewissen
Zukunftsaussichten. Mahrendorfs Arbeitsgruppe hatte
sich in der
Fachwelt durch die vergleichende Analyse von CPU's
einen Namen gemacht. Im Moment studierte er irgendwelche
Akten und war dabei, mit einer dicken Zigarre viel
Rauch zu produzieren.
Er war beeindruckt und gehemmt und zweifelte, ob hier
leicht ein positives Gutachten zu bekommen war. Doch
er
wurde eines Besseren belehrt.
"Sie haben also vor, ein Jahr nach Amerika zu gehen.
Sehr lobenswert, ich kann das nur empfehlen! Kennen
Sie die
Neue Welt? Die meisten Entwicklungen der letzten Jahre
kommen von
dort. Ich sage nur Intel, Netscape, Microsoft, IBM
und so weiter;
und die meisten Universitaeten haben dort beste Verbindungen
zu diesen Firmen, anders als in Deutschland, wo wir
von unseren
Entwicklungen und Vorschlaegen kaum profitieren koennen.
Ich bin
selbst viel in den Staaten, hauptsaechlich auf Kongressen."
Mahrendorf hatte offenbar keine Pruefung, sondern
ein freundliches
Gespraech im Sinn, seis weil es der schnellste Weg
zurueck
zu seinen Akten war oder weil er sich bei seinen Mitarbeitern
nach Ekhart erkundigt hatte.
Der Himmel, den man in diesem Raum mit Haenden greifen
konnte,
faerbte sich mit dem Beginn der Daemmerung blutrot.
"Vielleicht
sollten Sie gleich nach Redmont gehen, oder
ins Silicon Valley; sie koennen dort Hoschschulpraktika
belegen, die direkt bei den Firmen stattfinden, und
eine
Menge Kontake knuepfen, die Ihnen in Zukunft nuetzlich
sein
werden. Aber natuerlich", nach einer kleinen Pause,
"sollten Sie Ihre Zeit nicht nur mit Computern verbringen.
Sie sollten herumfahren, Amerika ist ein schoenes,
aufregendes Land. Ich nehme an, dass ich das gar nicht
sagen muss. Junge Leute wie Sie reisen ja staendig
herum."
Sein Interesse galt den Ansichten und der Lebensweise
der nachwachsenden Generation, ueber die ihn Ekhart
nur
unzureichend aufklaerte. Nachdem er die Fragen des
Professors nach
seinem Leben und seinen Plaenen freundlich aber recht
lakonisch
beantwortet hatte, wurde er entlassen.
Ekhart war ueber den Verlauf des Gespraechs erleichtert,
wenn
auch nicht ganz gluecklich, da er seine Kenntnisse
gern
bewiesen haette. Wie konnte Mahrendorf auf dieser
Basis
objektiv urteilen? Die Sorge war jedoch unbegruendet;
einige Wochen spaeter wurde er schriftlich aufgefordert,
sich bei der lokalen Fulbright Kommission vorzustellen.
Das Treffen fand in einem Neubau der Technischen Universitaet
in Garching statt. Garching ist eine kleine Stadt
bei Muenchen,
wo man die TU gegruendet hat, weil entsprechende Grundstuecke
in der bayrischen Metropole unbezahlbar waren. Ekhart
brauchte
fuer die Fahrt mit oeffentlichen Verkehrsmitteln fast
90 Minuten.
Zur festgesetzen Stunde klopfte er an die Tuer des
Konferenzzimmers und stand unvermittelt einem guten
Dutzend Maennern um die 40 gegenueber, die dichtgedraengt
um einen ovalen Tisch sassen. Der Kommissionsleiter
auf der
Rechten, der ihn aufforderte, Platz zu nehmen, war
ein
grossgewachsener Herr mit heller Hornbrille und schuetterem
Haar.
Weiter hinten fiel ein untersetzter Mann mit bulligen
Gesichtszuegen auf, der sich die ganze Zeit nach vorn
beugte.
Zur Linken sass der sommersprossige Vertreter der
Studenten,
ein kleiner drahtiger Kerl, der nicht viel aelter
als Ekhart
sein konnte. Aus Zeitgruenden, weil man noch andere
Bewerber
begutachten wollte, wurden die Kommissionsmitglieder
nicht einzeln
vorgestellt.
"Sie haben sich um ein Stipendium der Fulbright Stiftung
beworben, und die Zeugnisse und Empfehlungen sind
so eindeutig,
dass von der fachlichen Seite eigentlich nichts dagegen
spricht,"
begann der Vorsitzende und hob dabei gekonnt anerkennend
die
Augenbrauen. "Aus den Unterlagen geht jedoch nicht
hervor, wo sie
die Zeit verbringen moechten und was ihre genauen
Plaene sind."
Waehrend Ekhart die verschiedenen Moeglichkeiten eroertete,
die ihm in den USA offenstanden, blickten die meisten
Gesichter
teilnahmslos, und nur das einzige weibliche Mitglied
der Kommission
laechelte ihn aufmunternd an. Er war ziemlich unbesorgt;
denn die Billigkeit, mit der er das positive Gutachten
von Mahrendorf bekommen hatte, verleitete ihn, die
Bedeutung
dieses Treffens zu unterschaetzen. Er war nicht klug
genug
zu erkennen, dass sich in einer groesseren Gruppe
einflussreicher
Maenner gruppendynamische Prozesse abspielen, die
frei
von sachlichen Erwaegungen sind und sich nur schwer
kontrollieren lassen.
Ein Teilnehmer, der ihm bis dahin nicht weiter aufgefallen
war, ein Politologe mit englischem Akzent, fragte
nun:
"Wir haben viel ueber ihre Programmierfaehigkeiten
gehoert,
aber wenig darueber, was fuer ein Mensch sie sind.
Haben Sie
ueberhaupt gesellschaftliche Ambitionen? Was sind
Ihre politischen
Vorstellungen?" Es gibt einen Passus in den Richtlinien
fuer das
Stipendium, ueber den sich Ekhart nicht klar war und
der besagt,
dass sich die Stipendiaten aktiv am sozialen Leben
ihrer
Gastuniversitaet beteiligen sollen. In der Frage lag
soviel Zweifel an seinem Engagement, dass Ekhart sich
angegriffen fuehlte.
Nach einer kurzen Pause sagte er: "Mmh, was soll ich
dazu sagen?
Fuer mich ist es wichtig, in einer freien Gesellschaft
zu leben,
und zu verhindern, dass Ostblockverhaeltnisse bei
uns einreissen.
Es gibt zu viele Studenten, die mit kommunistischen
Ideen liebaeugeln."
Die Frage nach seinem sozialen Engagement beantwortete
er nicht;
aufgrund einer Fehlleistung seines Verstandes, die
Senator Fulbright
mit Senator McCarthy assoziierte, meinte Ekhart, er
sei aufgefordert,
ein antikommunistisches Bekenntnis abzulegen. Das
waere 20 Jahre vorher
auf fruchtbaren Boden gefallen, war aber in den 80er
Jahren
voellig unangebracht, denn die kalten Krieger waren
ausgestorben.
Der Mann mit den bulligen Gesichtszuegen erhob seine
Stimme: "Koennen sie das mal naeher ausfuehren? Ich
kann
Ihren Eindruck in dieser Hinsicht nicht teilen. Ich
finde,
dass sich unter unseren Studenten ein pluralistisches
politisches Leben entfaltet hat. Herr Mannel, der
neben
Ihnen sitzt, kann Ihnen das bestaetigen." Nach dieser
mit
einer gewissen Schaerfe vorgebrachten Bemerkung waren
alle
Anwesenden hellwach, auch die, die bisher schlaefrig
einen
langweiligen Vormittag erlebt hatten.
Ekhart fiel zu dem Thema nichts mehr ein. Er hatte
sich
ohne Not in eine Ecke gedraengt, in die er gar nicht
gehoerte.
Seine politische Ueberzeugung war diffus links, und
die Aeusserungen entspachen nur insoweit seiner Meinung,
als er eine starke Abneigung gegen alles Autoritaere
und
diktatorische Regimes hatte. Da er nicht wendig genug
war,
verteidigte er sich: "Es ist doch offensichtlich,
dass die meisten studentischen Verbaende, SHB, SSB
und so weiter,
kommunistisch unterwandert sind und mit der DKP paktieren.
Ich lese taeglich die Flugblaetter und Plakate dieser
Gruppen,
man kommt gar nicht an ihnen vorbei, wenn man in die
Mensa
oder ins Hauptgebaeude geht. Und die politische Tendenz
ist
eindeutig, eine einzige Sympathieerklaerung an die
DDR."
Er fuehrte eine Reihe weiterer Details an, jedoch
in einem so
rechthaberischen Tonfall, dass die meisten Teilnehmer
seine Meinung
als anmassend und unpassend empfanden.
Den Studentenvertreter machte er sich damit zum Feind.
Stefan Mannel war seit seinem ersten Semester in der
Stamokap-Fraktion des SHB aktiv, die damals unter
den
Muenchner Studenten eine einflussreiche Gemeinschaft
bildete.
Bei Wahlen zu den studentischen Gremien konnten sie
mit einem festen Stimmanteil rechnen, so dass ein
stabiles Gefuege entstanden war. Mit der studentischen
Hausmacht im Ruecken stand ihm auch eine Juso-Karriere
offen.
Er war ein junger Mann von einiger Gewandtheit und
Menschenkenntnis und wunderte sich ueber die Einstellungen
dieses
Informatikstudenten, den er anders eingeschaetzt hatte.
Ekhart wich den Blicken der Kommissionsmitglieder aus.
In dem makellos hellweissen Raum fanden seine Augen
wenig Halt.
Draussen sah er blattlose Buchen die Aeste im Wind
schaukeln.
Er war schlecht gelaunt. Den vorigen Abend hatte er
auf einer
Fete seines ehemaligen Studentenwohnheims verbracht,
in einem
rotbeleuchteten Keller, der mit Sesseln und Sofas
vom Sperrmuell
vollgestellt war, auf denen man trank, rauchte, kuesste
oder der
lauten Musik zuhoerte. Er hatte sich spontan zu Inge
und Achim,
zwei alten Bekannten, setzen wollen, doch boese
Blicke geerntet;
die Beiden waren intensiv beschaeftigt, sich naeherzukommen
und fuerchteten, dass jede Stoerung sie um eine schoene
Nacht
bringen koennte. Inge war attraktiv; er waere gern
an Achims Stelle
gewesen, als der seine Augen in ihre versenkte. Stattdessen
hatte
er den groessten Teil des Abends frustriert herumgehangen
und mit
3 Kumpeln Karten gespielt. Dabei gab es so viele Frauen,
mit denen er schlafen wollte!
Wenn die hier so ein Gewese machten, dachte er in die
abweisenden Gesichter der Kommsission hinein, sollten
sie ihr
Stipendium doch behalten. Er wuerde es in Muenchen
schon noch aushalten.
Wenn er es genau bedachte, war es letztlich gleich,
wo er studierte. Wenn sich in Muenchen nur die Studentinnen
leichter ansprechen liessen!
III. Ende November 1980
Die geschilderten Episoden aus seinem Leben bekamen
erst durch
mehrere spaetere Erlebnisse einen inneren Zusammenhang.
Im Herbst
desselben Jahres, der erste Schnee war schon gefallen,
fand im
Hauptgebaeude der LMU eine Anti-AKW Veranstaltung
statt. Da die
kommunistischen Traeumer und Agitatoren mit ihren
Magister-, Doktor-
und Lehramts-pruefungen beschaeftigt waren, verschwor
sich die
naechste Studentengeneration zur Rettung der Natur.
Kristallisationspunkt ihres Eifers waren die Atomkraftwerke,
die Politik und Wissenschaft der Oeffentlichkeit jahrelang
als sauberste Energiequelle empfohlen hatten.
Die Anti-Atombewegung war zugleich ein Ventil fuer
die Jugend,
indem sie die Lebensart des "Oekos" etablierte, einer
neuen Species,
die - in hellbraunen Latzhosen und Labberpullovern
- die Hallen
der Universitaet bevoelkerte. Sogar Ekharts Freund
Wolfgang,
ein Jurastudent, der mit ihm in der Eisenstrasse wohnte
und kein
reinrassiger Oeko war, hatte sich eine Latzhose gekauft,
eine
gepflegte Cord-Latzhose wohlgemerkt, in der man auch
Juravorlesungen
hoeren konnte. Die anderen Mitbewohner, Thomas und
Astrid, schwammen
schon laenger auf der Oekowelle, und es war daher
ausgemacht,
dass man gemeinsam zu dem Informationsabend gehen
wuerde, zu dem
die ueblichen Gruppierungen und die erstarkende "gruene"
Partei
eingeladen hatten. Thomas studierte Germanistik, doch
ohne
grosses Interesse, und ueberlegte, ob er in ein anderes
Fach
wechseln sollte. Astrid wollte Grundschullehrerin
werden.
Die Studenten kamen zu Dutzenden aus den U-Bahnschaechten
oder
ihren Schwabinger Quartieren, und draengten sich in
mehrere
Hoersaale, in die die Reden und Vortraege teils per
Video
uebertragen werden mussten. Prominente und weniger
prominente
Atomkraftgegner sprachen ueber die Plaene und Erfolge
der Bewegung,
spaeter informierten Physiker ueber die Technik der
Kernspaltung.
Zwischendurch gab es Kulturelles. Der bewegendste
Moment des Abends
kam am Ende, als Walter Mossmann auftrat und mit der
Stimme des
grossen Tenors das aus der 1848er Revolution adaptierte
Lied
"In Wyhl und auch in Baden, da waechst ein guter Wein"
vortrug.
Waehrend alle Lautsprecher im Gebaeude das Lied uebertrugen,
verliessen die Teilnehmer die Säle und sammelten
sich in der
grossen Haupthalle. Dabei wurden sie von einer kollektiven
Stimmung ergriffen, wie sie Ekhart noch nie erlebt
hatte,
voller Zukunftshoffnung und einem Gefuehl der Unbesiegbarkeit.
War das Massenbewusstsein? Oder war es Suggestion
und Selbstbetrug?
Als die Musik verklungen war, machte man sich nachdenklich
auf den Heimweg.
Ekhart war schon auf der Leopoltstrasse, als ihm einfiel,
dass er seine Handschuhe im Hoersaal vergessen hatte.
Er liess die Anderen weiterziehen und ging zurueck
ins Gebaeude,
das leer und verlassen wirkte. Durch die kuerzliche
Renovierung
einzelner Flure, die man rot gefliest hatte, war es
nicht
schoener geworden. Auf den Stufen zum 2. Stock, wo
die Treppe
nach links biegt, kam ihm ein lachendes Paar haendchenhaltend
und leichtfuessig entgegen. Er hob den Blick, um sicherzugehen,
dass er sich nicht taeuschte: das Maedchen war die
Kommilitonin
aus der Numerik-Uebungsgruppe und der Junge der Studentenvertreter
aus der Fulbright Kommssion. Die Drei erkannten einander,
doch sie gruessten sich nicht. Ekhart Blick verweilte
auf der Frau,
die ihn mit teils bedauernden, teils triumphierenden
Augen ansah.
Dann waren beide vorbei, und ihre Schritte verhallten.
IV. Ende Mai 1982
Knapp 3 Jahre spaeter, an einem Sonntag im Fruehsommer
1982, nahm
Ekhart wieder an einer Kundgebung teil, diesmal unter
freiem Himmel
auf dem Geschwister Scholl Platz. Er war zusammen
mit der AKW-Bewegung
aelter geworden und stand kurz vor dem Abschluss seiner
Diplomarbeit.
Sein Gesicht hatte weitgehend die jungenhaften Zuege
und seine Stirn
die meisten Haare verloren. Im Innern war er durch
eine wie er meinte,
ausgewogene, Mischung von positiven und negativen
Erfahrungen vom
Twen zum Mann gereift. Man wird gleich sehen, wie
sich
diese Veraenderungen auf sein Liebesleben auswirkten.
Morgens war er mit dem alten Opel nach Papferding gefahren,
einem kleinen Dorf etwa 50 km oestlich von Muenchen,
wo er mit
Richard Giesmann verabredet war. Richard war der Kommilitone,
der an demselben Diplomthema arbeitete und unter dem
Dach eines
alten Bauernhauses wohnte. Eigentlich hatte er Medizin
studieren
und nur die Zeit ueberbruecken wollen, aber die Jahre
waren
verstrichen, ohne dass ihm ein Studienplatz zugeteilt
wurde,
und so hatte er schliesslich wider besseres Wissen
mit den Pruefungen
in der Informatik begonnen. Sie hatten sich verabredet,
um letzte
Unklarheiten in den Texten zu bereinigen, doch hatte
Richard den
sonntaeglichen Termin entweder vergessen oder verdraengt;
denn als
Ekhart in die unverschlossene Wohnung trat, die keine
Klingel hatte,
fand er Giesmann noch im Schlafzimmer, auf seinem
zwei mal zwei
Meter grossen Bett, grinsend und anscheinend ohne
schlechtes Gewissen.
Neben ihm sass ein junges Maedchen, ungekaemmt und
freundlich laechelnd,
die Decke bis zum Hals hochgezogen.
Richard hatte ihm klargemacht, dass er sich den schoenen
Tag nicht
mit Formulierungsproblemen einer Informatik-Diplomarbeit
verderben
wollte, und so war Ekhart unverrichteter Dinge wieder
abgezogen,
mit dem festen Vorsatz, sich auf Verabredungen mit
Giesmann nicht
mehr einzulassen.
Spaetnachmittags brach er allein zu der Protestveranstaltung
auf.
Die WG gab es nicht mehr; Astrid war Referendarin
in Bayreuth,
Thomas studierte in Berlin und Wolfgang war Rechtsanwalt
und
machte Geschaefte.
Auf dem kleinen Platz standen die Leute dichtgedraengt
und hoerten
den Reden von Vertretern verschiedener Umweltorganisationen
zu,
die ueber die politische Situation referierten. Die
Regierung hatte
sich durch die AKW Proteste bei bestehenden Projekten
nicht beirren
lassen, war aber bei Neubewilligungen vorsichtiger
geworden, da sich
die Haltung durchsetzte, dass man mit konventionellen
Kraftwerken
genauso guenstig Energie erzeugen kann.
Auf solchen Veranstaltungen hoert man den ersten ein,
zwei
Reden, die gewoehnlich von Prominenten gehalten werden,
aufmerksam zu, dann schaltet man ab und laesst den
Blick
ueber Gebaeude und Menschen kreisen. Die helle Sonne
wich eben dem diffusen Licht eines Fruehsommernachmittags.
In groesserem Abstand von der Menge parkten einige
Polizeiautos.
Ein waermender Suedwind, im Mai hochwillkommen, strich
ueber den Platz. Viele hatten ihre Jacken ausgezogen.
Ekhart bemerkte eine junge Frau direkt neben sich,
die
ihm irdendwie bekannt vorkam. Sie war klein, hatte
einen blonden
Pagenschnitt und gefiel ihm. Nachdem sie ihn zweimal
angelaechelt
hatte, und der Tatsache eingedenk, dass sich die Demo
gleich
in Bewegung setzen und er sie aus den Augen verlieren
wuerde,
nahm er seinen Mut zusammen und fing ein Gespraech
mit ihr an.
Sie hiess Eva Hartmann, war Grafikerin, Ende 20 und
arbeitete
nach dem Kunststudium freiberuflich fuer verschiedene
Fernsehsender.
Ihre Aufgabe war die Erstellung von Abspannsequenzen
fuer aktuelle
Filmbeitraege, wofuer sie verschiedene graphische
Anwendungen
auf Apple PC's verwendete. Waehrend die Demonstration
am Englischen
Garten vorbeizog, kamen die beiden auf ihre Arbeit
und dann auf ihre
Freizeitaktivitaeten und Lebenseinstellungen zu sprechen,
und
stellten fest, dass sie sich wunderbar unterhalten
konnten.
Sie entschlossen sich spontan, aus dem Zug auszuscheren
und flanierten auf den chinesischen Turm zu.
"Wir koennten dort etwas essen oder trinken, oder wir
gehen
ein Stueck weiter zum Neuen Seehaus. Dort hat man
einen
wunderbaren Blick auf den Hesseloher See", sagte Eva,
"es scheint heute abend gar nicht dunkel zu werden.
Man merkt, dass der Sommer kommt."
"Eine gute Idee", meinte Ekhart, dem alles recht war,
was bewies, dass Eva gern den Abend mit ihm verbringen
wuerde.
"Ich wusste gar nicht, dass es hier einen See gibt."
Auf dem Weg dorthin kamen sie auf einen schmalen Pfad,
der von der Pracht des fruehen Sommers ueberstroemte.
Von beiden Seiten hingen schwere gelbe und rote Bluetendolden
unbekannter Gewaechse auf sie herab. Am Wegrand waren
breite Tontoepfe aufgestellt, in denen Massen von
Stiefmuetterchen und Narzissen bluehten. Die Luft
war voll
von Dueften, die Eva an glueckliche Kindheitstage
erinnerte.
Als sie auf den Hauptweg zurueckkamen, waren sie in
der Stimmung,
sich zu verlieben.
Das Seehaus ist eine Biergartenanlage, die
direkt an das Ufer angrenzt und kuerzlich renoviert
und vergroessert worden war. Nachdem sie Bier
und Salate in dem Self Service Restaurant gekauft
hatten, das zu jedem Biergarten gehoert, fanden sie
einen
Platz ganz nah am Wasser. Der See war wie ein
grosser Spiegel, in dem die untergehende
Sonne glitzerte. Enten schnatterten und warteten
auf Brotkrumen, und in der Ferne flog eine Schar Reiher
oder Gaense davon.
"Informatik ist sicher sehr schwierig. Man muss wohl
ziemlich gut in Mathe sein", sagte Eva. Sie trug einen
fuer die Jahreszeit zu kurzen Rock, schwarze Strumpfhosen
und darueber Wollstruempfe und Stiefelletten.
"Teilweise schon", erwiderte Ekhart, "aber es ist doch
anders
als Mathematik". Er hatte keine Lust, zu viel ueber
seine Arbeit
zu sprechen. Nachher hielt sie ihn fuer einen Fachidioten.
"Meine Schwester hat es eine Zeitlang studiert, aber
dann
aufgegeben. Jetzt ist sie in Amerika, weil es ihr
in
Deutschland nicht mehr gefallen hat; in Madison, das
ist eine
kleine Stadt in Wisconsin. Ich war ein paarmal dort,
weil ich ein ziemlich enges Verhaeltnis zu ihr habe,
und
daher kenne ich den Mittelwesten ganz gut. "
"Ich war auch kuerzlich in den USA, mit einem Freund,
wir sind
mit dem Auto von New York die Ostkueste hinaufgefahren,
bis nach Kanada. Es war letzten Sommer so warm, dass
man
im Atlantik baden konnte."
"Amerika ist eigentlich nicht mein Traumland, die Leute
sind
zwar freundlich, aber ziemlich oberflaechlich", sagte
sie.
Dabei blickte sie ihm unverwandt in die Augen. Die
Art, wie sie
schaute, war so charakteristisch, dass sie sich Ekhart
fuer alle Zeit einpraegte.
"Meins auch nicht", beeilte er sich zu versichern.
"Das Schlimmste ist die Architektur; die Vorstaedte
sind mit
Tankstellen und Supermaerkten kilometerweit verschandelt.
Aber ich finde die Natur und die Weite des Landes
toll.
Ich wuerde gern noch mal hinfahren. Vielleicht nach
Kalifornien."
Vor ihnen standen die schweren, fuer die bayrische
Gastronomie
typischen Bierhumpen und zwei Teller mit Kraut und
Brezen.
Der rostrot gestrichene Klapptisch war voller Broesel
und Bierpfuetzen.
Als die Daemmerung ueber den See hereinbrach, nahm
Ekhart
Evas linke Hand. Sie sagte: "Warum setzt du dich nicht
an meine Seite und waermst mich. Mir ist kalt."
So lernte er seine spaetere Frau kennen. Bevor sie
heirateten,
lebte das Paar 3 Jahre in einer Mietswohnung in Neuperlach,
wo Ekhart eine Arbeit in der Halbleiterindustrie gefunden
hatte.
V. Ende Juni 1986
Als Eva schwanger wurde, kauften sie sich ein Haus
auf dem Lande, weil sie meinten, dass ihnen die Wohnung
zu eng werde. Ein Neubau erwies sich finanziell
am vorteilhaftesten. In Perlach hatten sie sich ohnehin
nie
heimisch gefuellt, und so verliessen sie es innerhalb
eines
Vierteljahres, um mit anderen Paaren in aehnlicher
Situation eine Mondlandschaft zu bevoelkern, die ihnen
als
Siedlung von hoher Lebensqualitaet versprochen worden
war.
Haben Sie schon einmal in einer Neubausiedlung gewohnt,
in der erst ein halbes Dutzend Haeuser bezugsfertig
sind?
Waehrend des ganzen ersten Jahres waren von morgens
bis abends Bagger und Baumaschinen aktiv; bei Regen
verwandelten Lastwagen die provisorischen Zufahrtswege
in
Dreck und Morast. An Samstagen hantierten emsige
Heimwerker mit Motorsaegen und Betonmischern. In den
von
Dachlatten provisorisch umgrenzten Gaerten wurden
Obst- und Zierbaeumchen gepflanzt und erste Grashalme
sprossen aus der Erde. Ekhart sah wenig davon, da
er den groessten Teil des Tages im Zug und in seinem
Buero verbrachte. Eva, die alles hautnah erlebte,
liess
sich nicht beeindrucken und entfaltete unglaubliche
Aktivitaeten bei der Einrichtung des Hauses.
Am Tag der Hochzeit war es bereit. Die standesamtliche
Trauung
fand fruehmorgens und nur mit den Trauzeugen statt.
Das
Rathaus, ein umgebauter Bauernhof, in dem sich der
naechste Buergermeister so genierte, dass er einen
Neubau entwerfen liess, der sich noch haesslicher
erwies,
bot wenig hochzeitliche Athmosphaere. Spaeter, nach
der kirchlichen
Trauung, lud das Paar die Gaeste in einen der riesigen
Gasthoefe, die in jedem bayrischen Kaff in groesserer
Anzahl vorhanden sind. Dort finden fast staendig
Hochzeiten, Beerdigungsfeiern oder CSU-Parteiversammlungen
statt; in Bayern wird geheiratet, was das Zeug haelt
und
man sorgt sich, ob ihnen nicht bald die jungen Leute
ausgehen.
Bevor sie das Paar in den Saal fuehrten, versammelten
sich
die Gaeste auf dem grossflaechigen Parkplatz, schwatzten
und bildeten Gruppen, die sich nachher an den Tischen
wiederfinden wuerden. Niemand speist gern mit Leuten,
die
ihm gar nicht oder als maulfaul bekannt sind.
Um das Brautpaar hatte sich ein grosser Pulk von Leuten
gebildet. Die Sonne schien; ein leichter Wind liess
Eva's
hellgraues Seidenkleid rascheln. Ploetzlich kam ein
ockerfarbenes Mercedes-Taxi angefahren und setzte
eine
weibliche Person mit mehreren Koffern vor dem Portal
des
Gasthofes ab. Eva wandte sich um und lief auf ihre
Schwester
zu. Sabine kam direkt aus Amerika. Obwohl Ekhart ihre
Stimme
vom Telefon gut kannte, hatte er sie nie gesehen.
Als er sich umwandte, kamen die Frauen auf ihn zu.
Von weitem
fielen ihm zuerst die Unterschiede auf - Eva, die
Aeltere, war
kleiner und zierlicher als ihre Schwester - und, als
sie naeherkamen,
die Aehnlichkeiten - in der Art, zu gehen und sich
zu bewegen.
Sie waren 5 Meter entfernt, als Sabines Schritte stockten
und bei ihm eine sonderbare Irritierung, ein Herzflimmern
und eine
Erinnerung ausloesten ... sie war die Kommilitonin
aus seiner
Uebungsgruppe.
Als sie sich begruessten, und sich freundlich
anlachten, wussten beide ausser "Hallo" nichts zu
sagen.
Andere Bekannte, die sich dazwischendraengten,
nahmen den verlorenen Gespraechsfaden auf. Schliesslich
begaben man sich in den ueberdimensionalen Saal, wo
reichlich
gedeckte Tische, Musik und Getraenke die Gaeste empfingen.
Einige trieb es zur Bar; die meisten setzten sich
gleich an
die Tische und hoerten geduldig den Reden und Ansprachen
zu.
Dann wurde das Essen aufgetragen.
An einem entfernteren Tisch spotteten Astrid und Thomas
ueber den
Braeutigam. "Wer haette gedacht, dass Ekhart einmal
so endet."
Ihre Blicke gingen ueber den pomadig arrangierten
Tanzsaal
und das konventionell gekleidete Brautpaar zur Musik-Band,
die
nach dem Essen eine Reihe bekannter alter Popsongs
zum Besten
gab. "Wenigstens wird hier keine Volksmusik gespielt.
Das haette
noch gefehlt", sagte Astrid. Beide hingen in Gedanken
vergangenen
Stimmungen nach und fuehlten sich von Ekhart meilenweit
entfernt.
Die bayrische Dorfkultur, von der Manches im Saal
zeugte, war ihnen
fremd. Fuer Thomas war sie ein Grund gewesen, aus
Bayern wegzuziehen.
Eigentlich war klar, dass Ekhart den Gasthof mangels
besserer
Alternativen gemietet hatte. Thomas beobachtete die
Gaeste,
von denen viele grossstaedtisch wirkten, Ekharts Kollegen
und
ihre Frauen, die Tanten und Onkel der Verwandtschaft,
Evas Kollegen,
sie alle liessen sich gut unterscheiden und einordnen.
Kinder begannen
herumzutoben und wurden, von Ermahnungen begleitet,
zum Spielen
hinausgeschickt. Schliesslich liess er sich von der
Feststimmung
anstecken und tanzte in den Morgen.
Nach der Feier, um 5 Uhr morgens, fuhren die meisten
Gaeste nach
Hause. Einige Bekannte, die von weither kamen, wurden
in Hotels
einquartiert, waehrend Sabine im Haus der Reiter's
uebernachtete.
Sie wollte ein paar Tage bleiben und danach zwei Wochen
bei Freunden
in Muenchen verbringen.
Waehrend dieser Zeit wurde Eva krank. Sie bekam
eine schwere Gestose, eine Schwangerschaftserkrankung,
die auf eine Fehlfunktion der Nieren zurueckgeht.
Gestose wird
gewoehnlich von hohem Blutdruck und Wassereinlagerungen
begleitet
und ist fuer Mutter und Kind lebensbedrohlich.
Eva war im sechsten Monat und wurde sofort ins
Krankenhaus eingeliefert und unter staendige Beobachtung
gestellt. Sie behielt aber die Nerven und liess sich
auch von der Aussicht, die naechsten drei Monate dort
zu verbringen, nicht deprimieren.
Ausser von Ekhart, der nur an den Abenden Zeit hatte,
und zeitweise verreist war, wurde sie regelmaessig
von Sabine
besucht. Eines Tages sagte sie: "Du solltest bei uns
wohnen,
bis das Kind da ist. Dann hast du eine kurze
Anfahrt zum
Krankenhaus und faellst deinen Freunden nicht weiter
auf den Wecker."
"Oh, das ist kein Problem", meinte Sabine, "sie haben
akzeptiert, dass ich ein paar Wochen laenger bleibe."
"Ich finde schon, dass das ein Problem ist; du hast
doch erzaehlt, wie klein die Wohnung ist. Bei uns
ist
genug Platz. Ausserdem brauche ich dich in
meiner Naehe. Also ueberleg es dir bitte."
"Weisst du", sagte Sabine zoegernd, "es gibt etwas
zwischen
mir und Ekhart, das du wissen solltest. Wir kennen
uns
vom Studium. Ich fand ihn damals ... recht anziehend."
"Meine Guete, wenn ich jeder Frau, die ihn attraktiv
findet,
boese sein sollte, haette ich viel zu tun", erwiderte
Eva.
"Aber du wuerdest sie nicht in deiner Wohnung uebernachten lassen."
"Ehrlich gesagt, stoert mich dass ueberhaupt nicht.
Erstens vertraue ich dir, und zweitens, ... , weisst
du noch, wie wir uns Christian ... wie-hiess-er-noch
geteilt haben?"
"Ach komm, Eva, hoer auf, damals waren wir jung und bloed."
"Im Ernst, ich will dir sagen, ich bin deine Schwester
und
deine beste Freundin. Wer weiss schon, was geschehen
wird?
Du kannst in meinen Augen gar nichts Falsches tun."
Zweimal am Tag wurde der Herzschlag des Kindes gemessen
und
manchmal, wenn er den Aerzten zu schwach vorkam,
erwogen sie, die Geburt kuenstlich einzuleiten.
An solchen Tagen packte auch Eva die Angst.
Sie hatte sich medizinische Buecher geben lassen und
darin Einiges ueber die Krankheit gelesen.
"Jetzt sind wir aufs Land gezogen, haben viel Platz
im Haus und einen grossen Garten, und wofuer",
klagte sie. "Es ist fraglich, ob ich mit meinem Kind
jemals dort spielen kann. Frauen mit Gestose
bringen oft behinderte Kinder zur Welt, weil sie sie
nicht genuegend versorgen."
"Wer hat dir das erzaehlt. Davon haben mir die Aerzte
bisher nichts gesagt", sagte Ekhart, der gerade zu
Besuch war.
"Es ist aber so. Und genauso oft kommt es vor, dass
die Mutter oder das Kind sterben. Dann stehst du da
mit deinem grossen Haus."
"So darfst du nicht reden. Es wird schon alles gut
werden.
versuchte er sie zu beruhigen. "Schau, jetzt ist deine
Schwester hier, und wir koennen den Platz gut gebrauchen.
Es ist doch angenehm, wenn jeder ein eigenes Arbeitszimmer
hat und Platz fuer Gaeste ist." Er blickte sich in
dem
kalkweissen Zimmer um und setzte eine zuversichtliche
Miene
auf. Ganz wohl war ihm nicht in der Haut.
Neben der privaten hatte Ekhart berufliche Sorgen.
In seiner
Firma waren Umstrukturierungen im Gange, die fuer
ihn nichts Gutes
verhiessen. Der Abteilungsleiter, auf den er sein
Fortkommen stuetzen
wollte, war ueberraschend ausgeschieden. Es raechte
sich jetzt,
dass er jahrelang nur fuer interne Projekte hart gearbeitet
hatte,
waehrend Kollegen wie Johannes Dehler Kontakte zu
anderen
Abteilungen oder gleich zur Geschaeftsleitung knuepften.
Dehler war kaum 2 Jahre aelter als Ekhart und zum
Nachfolger
des Entlassenen ernannt worden. Er hatte so gute Beziehungen
zum Geschaeftsfuehrer Horn, dass ihn selbst die uebrigen
Abteilungsleiter mit Respekt und Vorsicht behandelten.
Leider hatte Dehler keine guten Beziehungen zu Ekhart.
Das ruehrte aus der Anfangszeit, in der sie gemeinsam
elektronische Schaltungen entwickelten und Ekhart
feststellte,
dass die meiste Arbeit an ihm haengenblieb, waehrend
sich Dehler
staendig in anderen Bueros mit dem "An-Denken" moeglicher
neuer Projekte beschaeftigte. Dehler war so freundlich
und
ueberall so beliebt, dass es unmoeglich war, sich
ueber ihn
zu beschweren. Nach kurzer Zeit wurde er von Jedermann,
d.h. den Abteilungsleitern, den meisten Kollegen,
dem Personalchef ("Der ist gut") und der Sekretaerin
des Personalchefs fuer fachlich versiert gehalten.
Er bewaehrte sich auch bei Praesentationen, bei denen
er im Gegensatz zu Ekhart einen kuehlen Kopf behielt,
und kam
irgendwie mit Horn ins Gespraech, der ihn bald als
kompetentesten
Mitarbeiter schaetzte.
Seit seiner Befoerderung war er nicht mehr ganz so
freundlich,
jedenfalls nicht zu Untergebenen, bei denen er Vorbehalte
gegen seine Person vermutete. Er trat nun dynamischer
und aggressiver auf und ordnete eine voellige Umstrukturierung
der
Abteilung an, in deren Verlauf Ekhart von allen wichtigen
Projekten ausgeschlossen wurde.
Kuerzlich hatten die alljaehrlichen Gehaltsgespraeche
stattgefunden.
Dabei setzten sich Horn und Dehler mit dem Mitarbeiter
zusammen,
um ueber seine Leistung und eine eventuelle Gehaltserhoehung
zu sprechen. Die Gespraeche fanden in dem geraeumigen
hellen
Buero des Geschaeftsfuehrers statt, das sparsam mit
teuren
Designermoebeln ausgestattet war. Fuer Ekhart war
es sehr
unangenehm gewesen, da sich Dehlers negative Haltung
auf Horn
uebertragen hatte. Trotz der guten Ertragslage des
Unternehmens
war ihm keine Gehaltserhoehung bewilligt worden, und
er stand nun
vor der schwierigen Entscheidung, ob er von sich aus
kuendigen
oder abwarten und auf eine Besserung hoffen sollte.
Bei dem
Durcheinander, das in der Abteilung herrschte, konnte
er sich
allerdings nicht vorstellen, dass jemals wieder eine
produktive
Athmosphaere einziehen wuerde.
VI. Anfang August 1986
Einige Wochen spaeter begann fuer ihn die Urlaubszeit.
In seiner Firma musste man die Ferien lange vorher
festlegen
und in grossen Bloecken nehmen. Dies Jahr war aus
verstaendlichen Gruenden keine Reise geplant, doch
neben den Krankenbesuchen gab es in Haus und Garten
genug zu tun.
Meist half ihm Sabine, so dass keine Langeweile aufkam.
Im Sommer kann es in Bayern mitunter wochenlang regnen.
An einem der wenigen heiteren Tage liess er die Innenarbeiten
liegen. "Was meinst du, sollen wir uns heute an die
Himbeeren
machen?" schlug er Sabine vor.
Der grosse Garten war zur Strasse von einem Drahtverhau
(der spaeter durch einen Jaegerzaun ersetzt werden
sollte) und
nach hinten durch einen Bach begrenzt, dessen Begruenung
wunderbarerweise erhalten geblieben war. Dazu gehoerten
auch mehrere Dutzend eng beieinanderstehender Himbeerbuesche,
die dringend gepflueckt werden mussten.
Sabine und Ekhart ruesteten sich mit Eimern, Schuesseln
und Wannen aus und machten sich ans Werk. Eine Zeit
lang
pflueckten sie wortlos und konzentriert. Ihre Haende
nahmen
die mattrote Farbe der Himbeeren an.
"Ich haette nie gedacht, dass man so etwas mit dir
machen kann",
sagte Sabine auf einmal. "Du schienst mir damals so
weltfremd
und nur an deinem Computerkram interessiert zu sein."
"Tja, in mir stecken noch viele unentdeckte Geheimnisse",
entgegnete Ekhart. Und als er merkte, dass ihr nicht
zum Scherzen
zumute war, sagte er ernst:"Ich haette nie gedacht,
dass ich
dich jemals wiedersehen wuerde."
"Ja, das ist wirklich ein wahnsinniger Zufall", sagte
sie,
und dachte bei sich: "Vielleicht auch nicht. Ich bin
meiner
Schwester ziemlich aehnlich. Er steht anscheinend
auf Frauen
wie uns."
Die naechsten 20 Minuten fuellte sich ein grosser Eimer
mit
Himbeeren. Dann konnte sich Ekhart nicht mehr zurueckhalten
und
fragte: "Was ist eigentlich aus dem Mann geworden,
mit
dem ich dich damals bei der AKW Veranstaltung gesehen
habe?"
"Welcher Mann?" tat sie unwissend. "Oh, du meinst Stefan.
Mit dem war ich nur ein Jahr zusammen." Und zoegernd:
"Er ist ein ... faehiger Politiker, ich glaube er
sitzt jetzt
im bayrischen Landtag ... aber es ist unmoeglich,
mit ihm zusammenzuleben, weil man nicht an ihn herankommt.
Er ist immer zu Allen freundlich und gibt ihnen das
Gefuehl,
dass er sie toll findet, aber man erfaehrt nie, was
er wirklich denkt. Auch zu Hause mochte er keine Konflikte,
und wenn, dann hat er sie schnell fuer sich entschieden.
Ich habe es nicht mit ihm ausgehalten und bin gegangen."
"Solche Leute kenne ich aus meinem Berufsleben", sagte
Ekhart.
"Man kommt gut mit ihnen aus, und das wird auch von
den
Vorgesetzten so gesehen. Sie sind immer die ersten,
die befoerdert werden." Dabei dachte er an seine juengsten
Erfahrungen. "Mir ist nicht klar, ob das nur eine
Masche
ist, oder ob sie wirklich so sind."
"Es ist eine Mischung von beidem. Stefan hat einen
ausgeglichenen Charakter und kann gut auf Andere
eingehen, solange sie ihm nicht zu nahe kommen.
Er ist sehr ehrgeizig, auch wenn man das nicht auf
den
ersten Blick sieht. Mich hat es gestoert, weil
es dazu fuehrte, dass er mir Verhaltensregeln
fuer den Umgang mit seinen Bekannten gab."
Damit schien genug ueber das Thema gesagt. Das Pfluecken
von Himbeeren ist eine Arbeit, die leicht unterschaetzt
wird.
Schwager und Schwaegerin wurden am Vormittag nicht
damit fertig. Ekhart erwog schon, die Haelfte
der Straeucher einfach herauszureissen, da er keine
Lust
hatte, sich jedes Jahr so zu schinden, aber Sabine
meinte, das solle er auf keinen Fall tun, weil es
die
einzigen Pflanzen waren, die im Moment in seinem Garten
wuchsen.
"Ausserdem sind Himbeeren sehr lecker. Man kann sie
einfrieren und spaeter Marmelade daraus kochen", sagte
sie mit einigem Hausverstand.
"Na gut", meinte Ekhart, "aber vielleicht sollte man
den Bestand wenigstens ausduennen. Dann kommt man
besser
an die Pflanzen heran und wird nicht so nass."
So machten sie sich am Nachmittag erneut zwischen den
feuchten Straeuchern zu schaffen. Waehrend sie arbeiteten,
erzaehlten sie einander von den vergangenen Jahren,
vermieden es aber, ueber ihre Studienzeit in Muenchen
zu sprechen.
"In Wisonsin habe ich mit mehreren Freunden in einem
grossen alten Holzhaus am Stadtrand gewohnt. Wir haben
fast
das ganze Jahr Fruechte aus dem Wald geerntet, Beeren
Nuesse, Pilze, und so weiter", erzaehlte Sabine.
"Wir haben alles eingemacht und hatten nur geringe
laufende Kosten, so dass wir mit wenig Geld gut
ausgekommen sind. Auf die Dauer wurde mir das Leben
aber zu eintoenig."
Danach erzaehlte sie von dem Getreide, das sie angebaut,
und dem Kleinvieh, das sie gehalten hatten, und dass
sie
nach Deutschland zurueckwolle. Wegen des nasskalten
Wetters
trug sie einen grauen Wollpullover mit weinroten und
blauen
Mustern. Wenn Ekhart sie anschaute und laechelte,
wurde ihr
warm ums Herz. Irgendwann am spaeten Nachmittag, als
in der
Siedlung nurmehr das beruhigende Zwitschern von Drosseln
und
Spatzen zu hoeren war, stellte er sich vor sie hin
und
legte beide Haende auf ihre Schultern. Sein Blick
glitt
von ihrem Gesicht am Koerper herunter und zurueck
zu
den Augen. Er erkannte dort etwas, das er schon bei
Ihrer
Schwester gefunden hatte.
Als er ihren Oberkoerper umfasste, nahm er die Weichheit
und nasse Kaelte des Pullovers und die Fuelle ihres
Busens
wahr. Sie kuessten sich zaertlich. Waehrend ihr Atem
sich
mischte, rollte schrankenlose Begierde ueber sie hinweg
...
Tage spaeter kam fruehmorgens ein Anruf aus dem Krankenhaus,
dass die Geburt eingeleitet werden muesse. Schwager
und
Schwaegerin fuhren sofort hin - Sabine am Steuer des
Wagens;
denn Ekhart war vor lauter Nervositaet speiuebel.
In den letzten
Tagen hatte er sich wie wild befriedigt und damit
seine Spannungen
teilweise abbauen koennen, doch nun verstaerten sich
die Angst
um seine Frau und das Bewusstsein seines Fehlverhaltens.
Obwohl sie sich nichts anmerken liess und Ekhart beruhigte,
"Es wird kein Drama geben", war auch Sabine nervoes.
Eva lag schon im Kreissaal. Sie hatte wehenausloesende
Medikamente
erhalten und war in heller Panik, so dass ihr Blutdruck
immer weiter
anstieg und der Oberarzt beschloss, eine Rueckenmarksnarkose
zu spritzen.
Sabine und Ekhart standen tatenlos herum und hielten
zuweilen die Hand
der Betaeubten.
Man befand sich in einem relativ kleinen Raum, voll
von hellem
Stahlmobiliar, in dem sich die verzerrten Koerper
der Akteure
spiegelten. Mittlerweile hielten sich eine ganze Reihe
von Weisskitteln
hier auf: der Oberarzt, der die Vorgaenge dirigierte,
sein
Assistent und um sie herum eine Schar von Schwestern,
die Sabine und Ekhart beruhigten. Zeitweise kam sogar
der
Chefarzt herein und erkundigte sich nach dem Fortgang.
Die Aerzte versuchten, dem Kind durch Pressen
voranzuhelfen. Spaeter brachten sie eine Saugglocke
ins Spiel, die sie an seinem Kopf befestigten, und
mit dem sie es aus Eva's Koerper herauszogen.
Es war eine entsaetzliche Quaelerei; und als Ekhart
seine Tochter mit dem durch die Saugglocke leicht
deformierten
Schaedel zum ersten Mal sah, hielt er sie fuer nicht
lebensfaehig. Doch lautes Gekreische belehrte ihn
eines Besseren.
Das Kind wurde gebadet und danach sicherheitshalber
in einen Brutkasten gelegt, obwohl nach den Aussagen
der
Aerzte alle Organe bereits ausgereift waren. Man beruhigte
Ekhart,
der vor Sorge immer noch ganz ausser sich war. Das
Maedchen sei
gesund und kraeftig und habe keine offensichtlichen
Behinderungen,
obwohl man natuerlich bestimmte Schaeden erst spaeter
erkennen koenne.
Auch die Mutter habe es anscheinend gut ueberstanden;
sie atme ruhig
und regelmaessig. Man solle sie ausschlafen lassen.
Dann werde es ihr
bald besser gehen.
Sabine und Ekhart blickten sich ueber Eva's Bett
erleichtert an. Er dachte: "Was habe ich nur getan!
Aber ich kann nichts dafuer; ich liebe sie beide",
und
indem er an seine Tochter dachte, "nein, alle drei."
Nach zwei Wochen ging es Eva und Lisa viel besser und
Ekhart
holte sie aus dem Krankenhaus ab. Er verschmaehte
die Trage,
die man ihm angeboten hatte, und wiegte Lisa in einer
Decke im Arm.
Seit der Geburt hatte er sie oft gesehen, doch jedesmal
war sie
fuer ihn ein kleines Wunder.
Als die drei nach Hause kamen, trafen sie Sabine in
dem kleinen
Flur, die dort neben ihren Koffern stand. Die
Zimmeraufteilung
war so konventionell und sinnvoll wie in irgendeiner
einfachen
Doppelhaushaelfte, die damals fuer junge Familien
mit wenig
Geld gebaut wurden. Unten ein Wohn-Esszimmer, die
Kueche
und ein Gaestezimmer und im ersten Stock Bad und Schlafzimmer
fuer Eltern und Kinder. Mit kuenstlerischer Hingabe
hatte Eva
aus jedem Raum das Beste herausgeholt. Den Flur hatte
sie durch
mehrere Spiegel optisch vergroessert.
"Was ist denn hier los? Willst du uns verlassen?" fragte
sie nun
ueberrascht.
"Bring mal erst die Kleine nach oben. Dann werd' ich
dir
alles erklaeren", erwiderte Sabine. "Oder lass es
Ekhart
machen, so dass wir uns in Ruhe unterhalten koennen."
Der Mann nahm die schlafende Lisa und legte sie vorsichtig
in
die lange vorbereitete Wiege. Waehrend er auf einem
Stuhl sitzend
seine Tochter beobachtete, fragte er sich beklommen,
wie Eva
die Wahrheit aufnehmen und welche Konsequenzen sie
ziehen wuerde.
Er hatte versucht, Sabine das Vorhaben auszureden,
seiner Frau
reinen Wein einzuschenken. Wenn sie eh abreisen wollte,
koennte
man doch alles fuer sich behalten. So aber musste
ihn
als Hauptbeteiligten (und Hauptschuldigen) Eva's ganzer
Zorn treffen.
Sabine fand es wichtig, Eva die Wahrheit zu sagen.
"Du wolltest wissen, warum ich abreise", begann sie,
als sie
ihr im Wohnzimmer gegenuebersass. "Also, ich habe
mit deinem
Mann geschlafen. Ich schaeme mich wahnsinnig."
"Mmh", meinte Eva und nach kurzer Pause:
"Ich habe dir ja schon in der Klinik gesagt, dass
mich sowas
zwischen dir und Ekhart eigentlich nicht stoert. Der
Grund
ist wahrscheinlich, dass ich euch beide sehr lieb
habe.
Das Wichtigste ist fuer mich, dass ich keinen von
Euch verliere.
Ih hoffe nicht, dass es in diese Richtung geht."
"Da kannst du ganz beruhigt sein", sagte Sabine. "Ekhart
hat so viel
von dir geredet, dass ich ihn im Verdacht habe, dass
er sich an mir
nur abreagiert hat."
Die beiden Frauen, noch immer in Jacken und Schuhen, blickten sich an.
"Ich glaube, im Moment ist das Hauptproblem, dass wir
zu wenig
ueber seine Gefuehle wissen", sagte Eva schliesslich,
"obwohl
andererseits will ich mir ueber ihn jetzt keine Sorgen
machen. Immerhin hat er mich betrogen. Er wird froh
sein,
einigermassen ungeschoren davonzukommen. Also: ich
will von der ganzen Geschichte im Moment gar nichts
hoeren, und vor allen Dingen: ich moechte, dass du
noch
ein paar Wochen hierbleibst, weil ich dich brauche.
Du solltest das als kleine Suehneleistung mir gegenueber
akzeptieren."
So arrangierte sich das Trio mit einer Situation, in
der
Vieles unausgesprochen blieb. Ekhart war zufrieden,
dass
Eva ihn nicht verliess und insgeheim erfreut, dass
Sabine
nicht abreiste. Auf Fragen wurde ihm empfohlen, die
Klappe zu halten und sich um Lisa zu kuemmern.
An einem Sonntagmorgen, es war ueber Nacht herbstlich
kalt geworden, schlich Sabine leise vom Gaestezimmer
ins Bad.
um die Anderen nicht zu wecken. Durch die offene Schlafzimmertuer
sah sie die junge Familie wach und aufrecht im Bett
sitzen.
Ekhart hielt seine Frau im Arm und Lisa lag an Eva's
Brust.
Sabine schluckte. Ihr war klar, dass sie es hier nicht
mehr lange aushalten wuerde. "Guten Morgen", rief
das Paar
im Chor ,"wie hast du geschlafen?"
"Eigentlich ganz gut, aber es ist entsetzlich kalt
geworden",
sagte die Angesprochene und strich sich ueber die
Oberarme,
zum Zeichen dass sie in ihr warmes Bett zurueckwollte.
Da meinte Eva: "Da unten bist du so einsam und allein.
Krabbel doch zu uns unter die Decke. Das Bett ist
breit
genug und schoen vorgewaermt."
Sabine zoegerte. Ekhart schwieg. Schliesslich ging
sie
zum Bett, hob die Decke, schloss die Augen und kuschelte
sich wie
selbstverstaendlich an Ekharts Seite. Der legte seinen
freien Arm um sie und sass jetzt mit 3 Frauen im Bett,
die er liebte und am liebsten nie losgelassen haette.
Im folgenden Sommer waren Eva und Sabine schwanger.
Im Ort
raetselte man nicht, wer der Vater war.
Copyright: B. Lampe, 1998 zurück