IN ROTENBURG Der Wecker reisst den Mann hoch. Die Bilder eines Alptraums vor Augen greift er zur Pistole, die entsichert beim Telefon liegt. Im Handumdrehen hat er den Zeigefinger am Abzug; aber monoton und unbeeindruckt rasselt der Apparat weiter. Draussen ist es schon hell, doch im Zimmer herrscht Zwielicht. Ein einsamer Lichtspalt scheint als weisslackierter Balken zwischen den Vorhaengen durch. Vorsichtig schiebt der Mann die Store beiseite und spaeht hinaus. Der Hof wird von einem zwei Meter hohen Holzzaun begrenzt, hinter dem eine wenig befahrene Strasse voller Schlagloecher verlaeuft. Niemand zu sehen! Nur ein junger, staksiger Terrier schnueffelt mit eingezogenem Schwanz an den Muelltonnen. Der Mann kleidet sich mit bedaechtigen und praezisen Bewegungen an. Er glaubt, dass morgendliche Exaktheit sein Leben ueber den Tag retten wird. Zuletzt laesst er die Waffe im Sakko verschwinden. Er holt einige Papiere aus seiner Reisetasche und ueberprueft sie. Er verstaut alle Habseligkeiten und raeumt das Zimmer. In den Gaengen und im Treppenhaus blickt er sich sichernd um, wobei er die Nase hebt, als koenne er seine Verfolger wittern. Er hat sich die Wege auf dem Feuerfluchtplan seiner Kammer genau eingepraegt. Das Treppenhaus und die Flure laufen bei der Rezeption zusammen. Die Kassiererin bedenkt ihn mit glasigen Blicken. Um so munterer ist die Kellnerin, die ihm den Weg zum Fruehstuecksbuffet weist. In dem hellen niedrigen Raum sitzen die Gaeste, Geschaeftsleute und Paare meist mittleren Alters, allein oder in Gruppen zusammen. Waehrend er sein fahrig zusammengestelltes Muesli loeffelt, mustert er aufmerksam ihre Gesichter. Als er nach draussen kommt, muss er die Lider zusammenkneifen. Die Strasse liegt unter dem hellkalten Licht sommerlichen Fruehnebels. Muede haengen 2 Fahnen an ihren Gestaengen. Obgleich der Weg zum Bahnhof ihn durch den ganzen Ort fuehren wird, hat er das Angebot der Rezeptionistin, ein Taxi zu rufen, abgelehnt; denn die Stadt ist klein und schnell zu durchqueren, und er moechte die Zahl der Zeugen, die sich an ihn erinnern, moeglichst klein halten. Sein Weg fuehrt durch eine Art Industriebrache, an der einzigen Fabrik vorbei, hinter der ein Schlot im kalkweissen Himmel verschwindet. Vor einer Halle sind grosse Paletten mit Baumaterial aufgestapelt, auf denen eine dicke Staubschicht liegt. Am Tor liegen Zementsaecke herum. Daneben ein riesiger Haufen Schutt und Abfaelle, wie auf einer wilden Muellkippe. Die Zufahrt zum Verwaltungstrakt aber ist mit Magnolien bepflanzt und macht einen gepflegten Eindruck. Etwas spaeter schreitet er unter Plakatwaenden, auf denen ueberdimen-sionale Flachmenschen laechelnd Zigaretten und Waschpulver bewerben. Gleich dahinter beginnt eine Neubausiedlung. Als ein Jogger von hinten an ihm vorbeirennt, zuckt der Mann erschrocken zusammen. Er hat es nicht eilig und aeugt ueber Jaegerzaeune hinweg in gepflegte Gaerten und Haeuser, hinter deren Gardinen Gattinnen und Kleinkinder mit ersten morgendlichen Aktivitaeten beschaeftigt sind. Nun passiert er die groesste Kreuzung des Ortes. Er weiss, dass er rechts in die Hauptgeschaeftsstrasse einbiegen muss. Dutzende Menschen bewegen sich in alle Richtungen ueber den Platz. Fast wie ein Flaneur schlendert der Mann an den Schaufenstern vorbei. Jedoch missachtet er ihre Auslagen. Er haelt den Kopf starr geradeaus und verfolgt aufmerksam alles, was sich auf der Strasse bewegt. Ein paar hundert Meter weiter geht die Geschaeftszeile wieder in eine gewoehnliche Siedlung ueber. Ueberall karminrote Klinker und Ziegel. Es ist, als sei die ganze Stadt, einschliesslich der Fahrwege und Fabriken, von einem einzigen Architekten entworfen worden. Zur Rechten oeffnet sich ein Park voller Rosen und Kastanien, deren weites Blattwerk ueber den Buergersteig reicht. Ein Hund bellt laut, laesst sich indes nicht blicken. Die Strasse fuehrt nun geradeaus nach Norden. Nichts auffaelliges ist zu sehen. Es waere auch dumm von ihnen, hier offen herumzustehen. Der Mann schwitzt. Die Tasche kommt ihm ziemlich schwer vor. Er darf sein Sakko nicht ausziehen. Zum Bahnhof hin lichten sich Haeuser und Baeume und der laendliche Charakter der Gegend wird offenbar. Nichts als Wiesen und Felder, von Weiden und Drainagen umgeben, und hinten im Dunst, endlich, die Station, wie eine Fata Morgana, karminrot auch sie. Einmal ueberholt ihn ein Auto, ein Astra, und faedelt sich auf den Bahnhofsparkplatz ein, an dem der Fahrweg endet. Hier ist der Nebel dichter, bedrohliche dunkle Schwaden ziehen vorbei, waehrend er sich nach Osten aufhellt, als werde dort gleich eine geheimnisvolle Kraft hervorbrechen. An dem zweistoeckigen Bauwerk prangt ein grosses weisses Schild, auf dem in schwarzen Drucklettern 'ROTENBURG/WUEMME' steht. Unten befinden sich die Schalterhalle und eine Schaenke. Die sauberweissen Gardinen hinter den kleinen quadratischen Fenstern im Obergeschoss fallen um so mehr auf, als das Mauerwerk bei naeherem Betrachten fleckig und eher schmutz- als karminrot erscheint. Dem Mann ist klar, dass die Raeume im ersten Stock eine potentielle Gefahr darstellen. Er betritt das Erdgeschoss durch eine schwere eisenbeschlagene Tuer, die kraeftig hinter ihm zuschlaegt. Er zuckt zusammen. Er geht zum Schalter. Bis auf ein paar Blumen und eine Bank ist der grosse Raum leer. Der Fussbodenbelag ist frisch gebohnert. An der Wand haengen hinter Glas Plakate, die fuer Bahnreisen nach Italien und Oesterreich werben, sowie verschiedene Hinweissschilder. Er klingelt. Zweimal. Die Klingel ist in das Schalterbrett eingelassen. Mit dem schwarzen Plastikknopf und der oxydierten Messinghalbkugel erinnert sie ihn an eine obszoen dargebotene Frauenbrust. Er wartet. Der Beamte ist mit der Abfertigung eines Pendlerzuges beschaeftigt. Zerstreut greift der Mann nach einem der herumliegenden Faltblaetter, in denen die Abfahrtzeiten der Lokalbahn praezise aufgelistet sind. Als der Beamte kommt, verlangt er ein Ticket nach Hamburg, einfache Fahrt. Er steht am Bahnsteig unter der Anzeigentafel, von wo er das gesamte Areal ueberblicken kann. Von links, also von Westen, laufen 5 Schienenstraenge herein, von denen vier direkt an ihm vorbeifuehren, bevor sie einen Bogen nach Nordost machen. Der fuenfte, suedlichste Strang endet an einem Prellbock und ist ausser Betrieb. Einige seiner Schwellen sind herausgerissen, und Pendler haben Autos dort abgestellt. Nach Westen laufen die Schienen weit hinaus, bis sie im Nebel verschwinden. Im Norden grenzt das Gelaende an einen sturmgelichteten Nadelwald. Davor verlaeuft, parallel zu den Schienenstraengen, ein Drahtzaun. Der sandige, unfruchtbare Boden laesst die Baeume nicht gross werden. Auf Gleis 1 wird ein leerer Personenzug bereitgestellt, der dem Mann die Sicht nimmt. Er wendet sich nach rechts, wo die Bahnhofswirtschaft bereits ihre Pforten geoeffnet hat. Ein Kellner ist gerade dabei, zwei weisse Plastiktische herauszustellen. Anschliessend wischt er mit einem feuchten Tuch fluechtig ueber die Flaechen. Er ist ein fuelliger unverdaechtiger Mitfuenfziger, der ein bisschen wie ein Lebenskuenstler aussieht. Der Mann schlendert an den Tischen vorbei, als er ploetzlich von hinten ein laut schleifendes Geraeusch vernimmt. Ein Zug naehert sich auf Gleis 2 und stoppt. Fast alle Tueren oeffnen sich gleichzeitig und entlassen seine Passagiere. Es sind Pendler, die in Rotenburg umsteigen muessen. Minuten spaeter setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Ein Strom von Menschen verschwindet in dem Tunnel, der nordoestlich des Stationsgebaeudes unter den Gleisen hindurchfuehrt, und verengt sich an der Treppe. Als er wieder hoch kommt und auf den Mann trifft, brandet er auseinander und schliesst sich hinter ihm wieder zusammen. Die Pendler draengen hastig vorbei. Einige beginnen zu laufen, um sich die besten Plaetze in dem auf Gleis 1 bereitstehenden Zug zu sichern. Der Mann schlendert nach unten und inspiziert den Tunnel einschliesslich der Aufgaenge zu den Plattformen. Alle Aufgaenge sind mit grauem Wellblech ueberdacht. Sie dienen den Pendlern bei Regen als Unterstand. Der Mann geht die Stufen zu Gleis 4 hinauf. Dort ist niemand. Um nicht aufzufallen, verschwindet er gleich wieder im Tunnel. Langsam, wie widerwillig, und ruckartig, mit scheppernden Scharnieren, setzt sich der Zug auf Gleis 1 in Bewegung. Leergefegt sind nun die Plattformen, ueber die eben noch Dutzende Menschen eilten. Er kehrt zur Schaenke zurueck. Schlechte Luft schlaegt ihm entgegen. Der Kellner, es ist wohl der Wirt, hantiert immer noch an den Tischen. Mit ihrem dunklen Holzmobiliar macht die Bahnhofskneipe einen duesteren und trostlosen Eindruck - wie eine verwahrloste Wartehalle, in der nebenher Getraenke ausgeschenkt werden. Am Tresen luemmeln zwei fruehe Biertrinker, einander zugewandt besprechen sie sich, ungefaehrlich, mit haengenden Baeuchen, aeusserlich zwei Klone des Wirtes, doch ohne dessen lebendige Geschaeftigkeit. Die Tristesse der Szene spiegelt so unverhohlen seine eigene Ausweglosigkeit, dass der Mann im Freien Platz nimmt, obwohl er sich dort wie auf einem Praesentierteller vorkommt. Er waehlt den aeussersten, hinteren Tisch, weit weg von der Glastuer. Er raeumt einen Stuhl beiseite, der ihn stoert, und bestellt ein Kaennchen Tee. Auf der Toilette, wohin er die Reisetasche mitnimmt, haengen elektrische Leitungen offen herum. Anscheinend sind Elektroarbeiten im Gange, doch laesst sich kein Handwerker blicken. Der Mann holt drei Schriftstuecke aus dem Koffer und faltet sie so zusammen, dass sie in seine hintere Hosentasche passen. Im nordwestlichen Winkel des Gebaeudes befindet sich ein niedriger Raum mit breiter Fensterfront. Es ist die 'Kommandozentrale' des kleinen Bahnhofs, die der Beamte nicht verlassen darf, solange ein Zug auf den Gleisen steht. Wenn man von den Waschraeumen kommt, kann man einen Blick in diese seltsame Kammer werfen, in der die technische Geschichte des 20. Jahrhunderts wie in einem kleinen Museum beieinandersteht - die Mechanik, die Hydraulik und die Elektronik. Eine Reihe grosser Hebel zum Verstellen der Weichen stammt noch aus der Vorkriegszeit und fuellt den hinteren Teil des Raumes vollstaendig aus. Vorn, auf kleinen Simsen, sind Bildschirme und eine Funkanlage zur Signalsteuerung angeschraubt, zerbrechliche Miniaturen inmitten von Dinosauriern des Fortschritts. Dazwischen hantiert der Bahnhofsvorsteher, wie ein Kapitaen auf seiner Bruecke. An der Aussenwand haengt in Augenhoehe eine chrom-glaenzende Glocke, die sich in ihrer blitzenden Sauberkeit vom schwarzen Staub auf den Mauern abhebt. Ein rostiger Abfalleimer voller alter Zeitungen, klebriger Kaugummis und Eisverpackungen steht direkt darunter auf dem Boden. Der Mann sieht Ahmed aus der Tuer zur Schalterhalle treten. Er schlendert auf ihn zu, begruesst ihn mit kurzem Kopfnicken, und dann, wie um sich fuer eine Grobheit oder Taktlosigkeit zu entschuldigen, mit einem herzlichen Haendeschuetteln. Ahmed wirkt erschoepft und laechelt angestrengt. Er ist mit dem Auto bei Dunkelheit und dichtem Nebel von Diepholz heruebergekommen. Obwohl er die schnurgeraden Landstrassen Niedersachsens gut kennt, hat er sich zeitweise wie auf einem fremden Planeten gefuehlt. Jede Abzweigung, jedes Licht und jeder Baum haben erschreckend fremd und bedrohlich gewirkt. Einmal haette er in seiner Trance fast ein Reh ueberfahren, das schreckensstarr und wie ausgestopft auf der Strasse stand. Er ist bei seinem Vater in Syrien aufgewachsen und hat sich im Land seiner Mutter noch nie wohlgefuehlt. Der deutsche Wohlstand ist zwar angenehm, aber er verweichlicht die Menschen und macht sie blind gegenueber der Wahrheit. Ausserdem ist er nur den Einheimischen zugedacht und wird Fremden missgoennt. Gewiss, die Mutter sorgt sich um ihn. Heute ist sie um drei mit ihm aufgestanden, um ihm Fruehstueck zu machen und ihn vor der Witterung zu warnen. Aber das ist alles, was die Deutschen koennen: sich aengstlich kuemmern, dass der Status Quo erhalten bleibt. Sie setzen sich an den Tisch, auf dem noch das Teegeschirr steht, beide mit dem Ruecken zur Wand. Sie drehen ihre Koepfe um 45 Grad und mustern einander. Sie kennen sich schon ueber 10 Jahre. Sie moegen sich nicht. "Wie geht es dir?" fragt Ahmed. Eigentlich ueberfluessig, die Frage. "Ganz gut", sagt der Mann mit belegter Stimme. Er hat das Blitzen in den Augen des Syrers wahrgenommen und will sich keine Bloesse geben. Der Wirt bringt Ahmed ein Bier. Er laesst nicht erkennen, ob er sich ueber die Reisenden wundert, die in diesem verlassenen Nest fruehmorgens muessig herumsitzen. Der Mann schliesst muede die Augen und ueberlegt, wie der kleine dicke Wirt wohl leben mag. In jungen Jahren ist er vermutlich ein Taugenichts gewesen ist, mit Schulden und wechselnden Frauenbekanntschaften. Spaeter hat er die Wirtschaft gepachtet, und seither beherrscht er das Savoir Vivre in einer kleinen Stadt: das Wohlgefuehl der Sorglosigkeit, das 'man kennt sich' und die kleinen Gefaelligkeiten. Neidisch und resigniert starrt er auf die schmuddelige Kellneruniform. Wie gern er mit ihm tauschen wuerde! Wie gern er in Deutschland bleiben wuerde! Nur hier fuehlt er sich wirklich wohl. Er liebt die flache Landschaft, das milde Klima und das vertraute Platt, das hier gesprochen wird. "Wie hast du hergefunden?" fragt er seinen Tischgenossen. "War kein Problem", sagt Ahmed. Im Osten lichten sich die Nebel - wie wenn schwere Theatervorhaenge von einer unsichtbaren Maschine beiseite geschoben werden. Schweiss liegt in der Luft. Das schwuelheisse Wetter der letzten Tage hat die Menschen unwirsch und uebellaunig gemacht. "Hast du den Pass?" fragt der Mann ungeduldig. Ahmed laesst sich zu einem Kopfnicken herab. Er kann jederzeit nach Syrien und in seinen buergerlichen Beruf zurueckkehren. Er arbeitet fuer eine Exportfirma, die in Damaskus ihre Zentrale hat. "Dies ist der letzte Pass, den wir dir geben werden", sagt er und holt ein in dunkelrotes Leinen gebundenes Papier aus seiner Brusttasche. "Das Wetter aendert sich." Der Mann zuckt innerlich zusammen. "So vieles aendert sich", denkt er, "nur meine beschissene Situation bleibt wie sie ist." Fahrig blaettert er in dem abgegriffenen Dokument. Er weiss nicht, was er sagen soll. Ahmeds schmierige Zuege, die arrogante Mimik und der Nadelstreifenanzug erinnern ihn an einen Autohaendler, der ihn vor Jahren beim Kauf eines Gebrauchtwagens betrogen hat. "Ich haette nicht gedacht", sagt er, "dich einmal so reden zu hoeren." Ahmed schweigt. Frueher hat er anders ausgesehen, viel sympathischer. Aber was soll er machen. So geht es den meisten, wenn sie aelter werden. Er kann diesen Deutschen, dem das Selbstmitleid so deutlich ins Gesicht geschrieben ist, kaum noch ertragen. "Ihr habt euch hier das letzte Kaff ausgesucht", sagt er. "Wir haetten uns doch auch in Osnabrueck oder Bremen treffen koennen." Die Sonne bricht vor und erfasst strahlend die Tische. Zwischen den Gleisen und den Mauern der Schaenke, genau hinter des Syrers Silhouette, erscheint im Osten eine Welt aus Wiesen und Feldern in hellem Licht. Durch die Flure windet sich die Wuemme, in deren Wassern gleissend der Himmel sich spiegelt. Ein langer Zug laeuft quaelend langsam ein. Er ist fast leer. Nervoes blickt der Mann auf die Uhr. Eine kleine, schlanke Blondine mit Buerstenschnitt springt aus dem hintersten Wagen. Sie ist jung, etwa Mitte 20, und traegt eine grosse Schweinsledertasche ueber der rechten Schulter. Vorsichtig und geschmeidig, wobei sie sich nach allen Richtungen umsieht, als befinde sie sich auf dem Mittelstreifen einer vielbefahrenen Verkehrstrasse, kommt sie auf die Maenner zu. Sie setzt sich hin. Sie laesst ihre Tasche in den Schoss gleiten. Sie sagt: "Hoffentlich habt ihr nicht auf mich gewartet?" "Nein, nein, du bist auf die Minute puenktlich", sagt der Mann. "Ausserdem laesst es sich hier in der Morgensonne gut aushalten", sagt Ahmed und prostet ihr zu. Sie reagiert nicht auf diese Bemerkung. Sie nestelt am Verschluss der Tasche und uebergibt dem Mann einen braunen Briefumschlag. Er oeffnet ihn und zieht ein Buendel Banknoten heraus. Waehrend er zaehlt, achtet er darauf, dass aus der Schaenke niemand herueber sieht. "Nur 4000?" fragt er schliesslich vorwurfsvoll. "Wie soll ich damit 3 Monate lang auskommen? Weisst du, was allein das Hotel heute gekostet hat?" "Das ist alles, was ich im Moment habe. Dann muessen wir uns eben schon frueher wiedertreffen." "Du weisst doch, wie gefaehrlich das ist." "Fuer mich ist die Gefahr mindestens eben so gross", sagt sie achselzuckend. Der alternde Mann, der nur auf seine Sicherheit bedacht ist, geht ihr auf die Nerven. Von der Furcht und dem Fatalismus in seiner leisen Stimme fuehlt sie sich abgestossen. Sie empfindet sie als Angriff auf ihre gegenwaertige Lebenseinstellung - und vielleicht wie die Vorwegnahme der eigenen zukuenftigen Kapitulation. Ganz hinten, beim letzten Gleis, hantieren zwei Arbeiter an einer Rangierlok. Sie tragen Blaumaenner und Handschuhe, und knallgelbe Lederschuerzen vor der Brust. Wie selbstvergessen loesen sie Schrauben und Zahnraeder, die sie saeubern und schmieren, bevor sie sie wieder einsetzen. Ihre Bewegungen sind praezise und zeitlupenhaft langsam. Sie haben den ganzen Tag Zeit, um ihre Maschine in Schuss zu bringen. "Er hat gesagt, dass es bald vorbei ist mit den schoenen Paessen", sagt der Mann. Es ist der uneingestandene Versuch, die beiden gegeneinander auszuspielen. "Wie das?" fragt die Frau und sieht den Syrer befremdet an. "Ich wollte euch nur vorwarnen, dass solche Ueberlegungen im Gange sind", relativiert der seine Aussage. "Endgueltig entschieden ist noch nichts." Reine Provokation also, denkt der Mann. Wieder blickt er auf die Uhr. Es ist abgemacht, dass er sich mit dem naechsten Zug in etwa einer halben Stunde von hier absetzen wird, waehrend die anderen den Ort mit dem Auto verlassen. Dass die Strasse zum Bahnhof eine Sackgasse ohne Fluchtweg ist, empfindet er jetzt als Sicherheitsrisiko, das man bei der Wahl des Treffpunkts haette beruecksichtigen muessen. Der Verlust seiner Kontaktleute waere fuer ihn verhaengnisvoll. Bevor er abreist, muessen noch technische Details der naechsten Treffen und Neuigkeiten aus Berlin und Rom besprochen werden. Leider hat es sich der Wirt mit der BILD-Zeitung am Nebentisch bequem gemacht und bringt so das Gespraech zum Erliegen. Auf einen Wink serviert er Kaffee. Behutsam setzt er ihn auf die Tischplatte. Dann fragt er: "Haben Sie das gelesen?" und deutet auf die oberste Schlagzeile. "Die Regierung will die Renten kuerzen." Der Mann hat keine Rente zu erwarten. Reserviert, mit einem Anflug von Neid, beaeugt er den Wirt. Waehrend andere ihren Wohlstand mehren und Ruecklagen fuer ein sorgenfreies Alter bilden, muss er um sein taegliches Ueberleben kaempfen. Waehrend andere ihr Leben frei und behaglich gestalten, im Kreis ihrer Freunde, vermindert sich die Zahl seiner Mittelsmaenner von Monat zu Monat. In einer Welt fortschreitender Globalisierung ist er zunehmend auf sich selbst zurueckgeworfen. Er fuehlt sich vom Lauf der Dinge ausgeschlossen. "Man muss nicht alles glauben, was in der BILD-Zeitung steht", sagt die Frau. "Die trommeln schon seit Wochen gegen jeden Plan der Regierung und torpedieren damit alle wichtigen Entscheidungen." Sie hat ihre Lektionen gelernt. Wenn es so weitergeht, wird er bald gar keine Verbindung zur Aussenwelt mehr haben. Und wenn die Geldquellen versiegen, werden sogar unpersoenliche und rein geschaeftsmaessige Kontakte heikel. "Sind nicht all unsere Beziehungen geschaeftsmaessig?" faehrt es ihm durch den Kopf. "Zum Beispiel meine Gefaehrten ... Sie haben mich innerlich laengst auf die Funktion des ungeliebten Versorgungsempfaengers reduziert. Und die Freunde von frueher, die uns schon lange verraten haben? Von welcher Art waren denn die Beziehungen zu ihnen? Nichts als enttaeuschte Hoffnungen und truegerische Illusionen! Das duenne Eis der Freundschaft traegt nicht weit. Der Andere ist immer der Fremde." "Ist doch wahr", beharrt der Wirt, dem das Thema sehr am Herzen liegt. "Die Rententoepfe sind doch nur deshalb leer, weil mehr und mehr versicherungsfremde Leistungen daraus bezahlt werden. All die Russlanddeutschen, die angeblich in Kasachstan als Ingenieure gearbeitet haben. Bei uns bekommen sie fette Rente. Als haetten sie 40 Jahre eingezahlt. Und jetzt soll sogar eine Grundrente eingefuehrt werden. Das heisst, jeder Sozialschmarotzer, der nie einen Beitrag geleistet hat, wuerde mit versorgt. Eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel stinkt!" "Der Wirt scheint doch nicht der offene und weitherzige Lebenskuenstler zu sein, fuer den ich ihn gehalten habe", denkt der Mann. "Versicherungsfremde Leistungen hin oder her", sagt die Frau. "Sie muessen auch die demographische Entwicklung sehen. In Deutschland sind in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig Kinder geboren worden. Immer mehr Rentner werden von immer weniger Erwerbstaetigen versorgt. Wenn Sie ein stabiles Rentensystem wollen, muss das Rentenniveau unbedingt gesenkt werden. Eine Verringerung um 1 oder 2 Prozent, wie jetzt vom Kabinett beschlossen, ist auf laengere Sicht bei weitem nicht ausreichend. Das Problem ist doch eher, dass die bisherigen Regierungen aus Angst vor schlechten Wahlergebnissen vor solchen notwendigen Massnahmen zurueck geschreckt sind." "Was erwarte ich denn?" fragt sich der Mann. "Der Mensch ist von Natur ein hoch gezuechtetes Einzelwesen, das in erster Linie fuer sich selbst sorgt. Nur, wo es einen handfesten Vorteil sieht, schliesst es sich zu groesseren sozialen Einheiten zusammen. - Wie fliegende Fische springen die Individuen mit der Geburt aus dem Meer der Masse, leben und arbeiten, vergluehen am Licht der Tage, und tauchen in ihren Kindern und Kindeskindern wieder ins Dunkle hinab. - Bevor man aber zugrundegeht, hebt man wie Ikarus die Schwingen und zappelt ein bisschen." "Ausserdem", sagt die Frau, "bringen die Einwanderer ueberdurchschnittlich viele Kinder mit, die reichlich zur Rentenversicherung beitragen werden. So gleicht sich am Ende manche Ungerechtigkeit aus." Der Wirt schnaubt wie ein Pferd. "Ich sage Ihnen: wenn das Rentensystem sich auf seine eigentlichen Aufgaben beschraenken wuerde, waere die Finanznot nicht halb so gross. Die Regierung packt vorn alles falsch an und darf sich nicht wundern, dass es hinten falsch herauskommt." Die beiden Gestalten am Tresen haben anscheinend mitbekommen, worueber draussen geredet wird. "Die Re-henn-tenn sind si-hi-cher!", schallt es ploetzlich aus der Schaenke, und dann ertoent groelendes Gelaechter. Ahmed hat zu dem Thema nichts zu sagen. In Syrien gibt es nur fuer treue Staatsbedienstete ein Rentensystem. Um im Alter versorgt zu sein, gruenden die meisten eine grosse Familie. Die Scheinprobleme der Deutschen sind ihm zuwider. Nach dem Krieg haben sie alle geistig-moralischen Werte verloren. Mit ihrer rein materiellen Einstellung, davon ist er ueberzeugt, sind sie dem Untergang geweiht. "Laura sollte sich nicht so ins Zeug legen", denkt er. "Das verschafft uns nur unnoetige Aufmerksamkeit." Dabei will sie nur wie jeder x-beliebige Buerger erscheinen, der bei der Rentendebatte frei seine Ansichten aeussert. Sie glaubt, es waere verdaechtiger, wenn sie, wie ihre Begleiter, schwiege. Der Wirt wundert sich tatsaechlich, dass nur die Frau ihre Meinung kundtut, waehrend die Maenner still daneben sitzen. Er zuckt mit den Achseln und wendet sich ab. Irgendwie hat er begriffen, dass er hier draussen nicht erwuenscht ist; denn er verzieht sich mit seiner Zeitung in die Schaenke. So koennen die drei ihre geheimen Absprachen fortsetzen. Sie bemerken kaum, als ein einzelner Passant um die Ecke des Hauses kommt. Seltsam: er traegt einen bis zum Hals geschlossenen Regenmantel ... - Ploetzlich sind da Soldaten, breitschultrige Kampfmaschinen mit oliv-gruenen Schusswesten und Waffen unterschiedlichsten Kalibers, kleinen, handlichen Pistolen, klobigen Gewehren und Laserkanonen mit eleganter, futuristischer Formgebung. Der Mann fuehlt sich in den Set eines Science Fiction Films versetzt. So oft hat er diesen Augenblick innerlich durchgespielt, dass ihm gleich klar ist, wie unsinnig Widerstand waere. Er bleibt sitzen und hebt zum Zeichen der Kapitulation die Arme, die sofort ergriffen und ihm auf den Ruecken gedreht werden - so heftig, dass er vor Schmerz aufschreit und sein Kopf auf die Tischplatte stoesst. Ahmed ist aufgesprungen und will durch die Tuer ins Bahnhofsgebaeude fluechten. Doch haben sich in der Schalterhalle Bewaffnete postiert, die ihn gefangennehmen. Laura war schneller. Sie hat sich geduckt, gewunden und einen Haken geschlagen. Jetzt rennt sie nach Osten, der Sonne entgegen. Mehrere Soldaten setzen ihr nach, wie Kampfhunde springen sie vor. An der Treppe zieht sie eine Schnellfeuerpistole aus der Tasche. Sie stoppt, wirbelt herum und schiesst, ohne Vorwarnung. Sofort ziehen sich die Verfolger hinter das Gebaeude zurueck, 2 Tote oder Verletzte bleiben liegen. Sie schickt einen Kugelhagel ueber den Bahnsteig, der aus der Schalterhalle erwidert wird. Dann verschwindet sie im Tunnel. Unbeteiligte Reisende werfen sich, verspaetet, zu Boden. Ein Kind kreischt. Der Wirt stellt sein Tablett ab und trollt sich in die Schaenke. Humpelnd schleicht sie zu Gleis 3 hinauf. Obwohl am Knoechel getroffen, wirft sie sich wieselflink auf die Schienen und robbt mit aeusserster Kraftanstrengung der hellen Sonne entgegen. Alle Gliedmassen, einschliesslich des Kopfes, haelt sie so dicht wie moeglich ueber den Bohlen. Am Bahnhofsgebaeude entfalten sich hektische Aktivitaeten. Soldaten rennen mit schweren Stiefeln kreuz und quer und bergen die Verwundeten. Funkgeraete piepsen aufgeregt in hohen Tonlagen. Man hat die Frau aus den Augen verloren - die Plattform schuetzt sie vor den Blicken ihrer Verfolger. Es ist 8 Uhr 36. Die Sonne steht bereits hoch ueber den Koepfen. Der Himmel ist wolkenlos blau. Es wird ein heisser Tag. Waehrend sie auf den Schienen vorankriecht, sieht sie auf weites, voellig flaches gruenes Land. Wie in einem Stillleben liegen hie und da schwarzweisse Kuehe herum und lecken die Glieder. Ein paar Eichen spielen mit ihren Blaettern und Wipfeln im Wind. Dazwischen fliesst behaebig die Wuemme, 3, 4 Meter breit, und teilt die Besitzungen der Bauern. Weit hinten, bei fernen Tannen-schonungen, steht noch der letzte Nebeldunst. Nur die Masten, die den Bahnhof mit Strom aus Nienburg versorgen, stoeren das idyllische Bild. Einen Moment haelt sie inne. Sie schliesst die Augen und stellt sich vor, wie das Wasser bei starkem Regen anschwillt und sich der Wiesen bemaechtigt, um sie erst bei Trockenheit wieder preis zu geben. Vom Fluss wehen intensive Gerueche von Faeulnis herueber. In der Luft trillert eine Lerche und uebertoent sogar den Laerm der Verfolger. Da ploetzlich erblickt sie ihre Mutter. Die Mutter steht mit einer Nachbarin vor ihr und schuettelt den Kopf. "Das Kind ist viel zu ernst", sagt sie. Die Nachbarin beugt sich hinunter und fragt mit durchdringendem Blick: "Warum lachst du nie, mein Kleines?" Sie oeffnet die Augen, hebt den Kopf und kriecht keuchend voran. Der Wind kraeuselt die Oberflaeche des Flusses und entwirft Muster verschiedener Wellenformen wie auf einem Flickenteppich. Aus dem Fluss ragt der glatte Buckel eines Findlings, mit dem wohl ein Bauer nichts besseres anzufangen wusste, als ihn dort zu versenken. Weit hinten gewahrt man am rechten Ufer einen wackligen Pfahlbau aus Holz, Unterstand fuer die Kuehe. Sie erreicht den Punkt, an dem die schuetzenden Bahnsteige enden. Hier beginnt offenes Gelaende. Wuerde sie weiterkriechen, so waere sie den Blicken ihrer Jaeger preisgegeben. Bis zum Wald sind mindestens 200 Meter. Hektisch ueberlegt sie, was sie tun koennte. Ihr faellt nichts ein. Also bleibt sie baeuchlings liegen, stuetzt das Kinn auf die Handflaechen und wartet. Auf dem Dach postieren sich Scharfschuetzen, die die Gleisanlage ganz ueberblicken koennen. Sie erspaehen die Fluechtige, rufen ihre Kameraden an und weisen mit ausgestreckten Armen auf die still liegende Frau. Zwei Soldaten, die sich durch den Tunnel auf Gleis 3 vorgewagt haben, entdecken sie in der angezeigten Richtung. "Die kriegen wir", ruft einer von ihnen. In seiner Stimme mischen sich Wut und Rachegelueste mit etwas drittem, was Laura als Frau betrifft. Als die Verfolger gebueckt auf sie zu hetzen, realisiert sie, dass sie entdeckt worden ist. Muehsam stemmt sie sich hoch und fluechtet ueber die Gleise zum Wald. Einen Moment hoert man nichts ausser dem Keuchen rennender Leiber. Noch bevor sie den Zaun erreicht, haben die Soldaten sie eingeholt. Voller Wut wirft sich der eine auf sie und nimmt sie mit seiner schieren Koerperlichkeit gefangen. In wilder Raserei presst er ihren Kopf gegen die spitzen Schottersteine. "Du Schwein, du", ruft er und drueckt ihr die Pistole an den Hals. Er schiesst. Ihr letztes Gefuehl ist Wehmut. Sie hat die Augen geschlossen und noch die sommerlichen Duefte der Elemente in der Nase, die nun vom Geruch ihres Blutes verdraengt werden.