Holzminden, im Januar 1987
Langsam fuellt sich der grosse Festsaal bei Hein. An diesem Ort haben ueber 20 Jahre lang - von 1957 bis 1979 - SPD Versammlungen stattgefunden. Die Lokalgroessen der Partei haben hier Podiumsdiskussionen geleitet und bekannte Bundespolitiker - von Schuhmacher bis Schmidt - Wahlkampfreden gehalten. Vergilbte Tapeten und Gardinen aus den 60ern, Mobiliar aus allen Jahrzehnten und Kulturepochen seit dem Krieg und verstaubte Trockenblumenarrangements auf den Tischen zeugen ebenso von der Vergangenheit des Raumes wie davon, dass er keine Zukunft hat.
Heute tagen hier nur noch einige Untergliederungen der Partei, der Seniorenbund natuerlich und gelegentlich die AFA, waehrend alle groesseren Versammlungen in der modernen Kreishalle stattfinden. Der kleine SPD Fuehrungszirkel, mit den lokalen Landes- und Bundes-tagsabgeordneten, trifft sich im Buero des Oberkreisdirektors Buchholz, der zugleich Landrat und oertlicher Parteivorsitzender ist.
Welch ein Fortschritt! Von der ewigen Oppositionspartei der 50er Jahre zur absoluten Mehrheit in den 70ern und 80ern! Schon lange gibt es im ganzen Landkreis kein offizielles Amt, das nicht mit einem SPD Mitglied besetzt waere.
Heute ist ein grosser Tag fuer die Holzmindener SPD; der 80. Geburtstag des langjaehrigen Kreisvorsitzenden August Hoeppner wird gefeiert. Er hat, wie Buchholz in seiner Rede sagen wird, den Grundstein fuer ihren dauerhaften Erfolg gelegt.
Der Jubilar steht neben der breiten Fluegeltuer. Leicht gebeugt und auf einen Stock gestuetzt, laesst er es sich nicht nehmen, jeden einzelnen seiner Gaeste stehend zu begruessen. Dabei umringt ihn eine Traube alter Genossen und etwas juengerer Partei-Wuerdentraegern.
Er ist froh, noch so ruestig zu sein. Er weiss, dass er so eine Feier in wenigen Jahren nicht mehr durchstehen wird. Die meisten seiner Freunde sind tot - dahin wie Doeding, der 1959 in seinem kleinen Kaff die meisten Neumitglieder ganz Niedersachsens geworben hat, wie Erich Seidel, der im Krieg ein Bein verlor und spaeter in staendigem Clinch mit allen Buergermeistern seines Dorfes lebte, und wie viele andere Ortsvorsitzende und Kassierer der Holzmindener SPD. Hoeppner hat ihnen Plakate und Broschueren zum Verteilen gebracht und bei Wahlkaempfen und der Organisation von Versammlungen geholfen. Im Kreistag haben sie unter seiner Leitung die CDU befehdet und dabei die Ohnmacht einer demokratischen Opposition erfahren.
Einen Gast begruesst er mit kalter Miene: Es ist Niermann, der ehemalige Landesminister und langjaehrige Landrat, ein beruechtigter Intrigant und Bauernfaenger, gegen den Hoeppner jede Wahl verloren hat. Als sich die beiden ehemaligen Kontrahenten gegenueberstehen, flackert etwas von ihrer vormaligen Streitlust auf. Ueber 2 Jahrzehnte, bis zur Rente, hat ihn Niermann von allen oeffentlichen Pfruenden ferngehalten. Einmal ist Hoeppner bis auf 85 Stimmen an seinen Gegner herangekommen und haette ihn sogar geschlagen, wenn nicht eine schmutzige Kampagne gegen ihn entfacht worden waere.
Wenig spaeter beobachtet er irritiert, wie Buchholz mit Niermann beiseitetritt und sich angeregt mit ihm unterhaelt. Landraete unter sich? Schnell siegt bei Hoeppner die aengstliche Devotheit des Alters ueber jeden Anflug von Aerger. Seiner Nibelungentreue zur SPD tut das Verhalten ihrer Amtstraeger ohnehin keinen Abbruch.
Der Alte hat waehrend der Begruessung seiner Gaeste immer wieder auf die Uhr geschaut. Nun macht er sich puenktlich zur vorher festgelegten Zeit auf den Weg zum Rednerpult, das auf dem Podium aufgestellt ist. Dahinter an der Wand haengen bordeauxfarbene alte Fahnen aus schwerem Seidenbrokat, die im Neonlicht glaenzen. Man hat die Banner mit Fransen, Kordeln oder Troddeln umrahmt und gueldene Texte wie 'Wir schreiten Seit an Seit', 'Brueder zur Sonne, zur Freiheit' oder 'SPD Ortsverein Holzminden' sorgfaeltig aufgestickt.
"Ich habe mir lange uebelegt, worueber ich heute sprechen koennte", sagt August Hoeppner mit klarer Stimme, "und habe mich dann entschieden, das Thema 'die SPD in schwerer Zeit' aufzugreifen. Fuer die Aelteren soll es Erinnerung sein, fuer die Juengeren eine Lehre."
Es ist nicht klar, ob er mit den 'Juengeren' seinen nicht mehr ganz jungen Amtsnachfolger meint, oder die richtige Jungend, die doch in diesem Saal gar nicht vertreten ist. Buchholz ist mit seinen 49 Jahren einer der Juengsten hier. Bevor er Berufspolitiker wurde, hat er 9 Jahre als Geschichtslehrer unterrichtet. Er braucht keine Belehrungen ueber den Nationalsozialismus, weiss aber, dass jene Zeit fuer die Alten ein Thema lebenslanger Aufarbeitung ist.
"Am 5.April 1933", faehrt Hoeppner fort, "also 14 Tage nach der Machtergreifung Adolf Hitlers, habe ich mit Egon Seifert, dem damaligen Ortsvositzenden unserer Partei, in der Holzmindener Ladenpassage Flugblaetter verteilt. Nach etwa einer halben Stunde sind wir von der SA in Gewahrsam genommen worden. Ich weiss noch genau, wie Egon die Braunhemden beharrlich beschworen hat, mich laufenzulassen, da ich ein gruener Junge sei, der nur die Kiste mit den Flugblaettern getragen habe. Es spricht fuer die grosse Persoenlichkeit dieses Mannes, dass er sie schliesslich ueberzeugte. Dabei war ich zu der Zeit wahrhaftig kein kleiner Junge mehr. Ich war Mitte 20 und seit ueber 10 Jahren Mitglied der SPD und im Reichsbanner. Ich wusste genau wie heute dass ich ein Roter bin.
Erst 5 Jahre spaeter habe ich Egon Seifert wiedergesehen, als er im Sommer 38 aus der Haft entlassen wurde. Kurz darauf ist er wieder festgesetzt worden und waehrend der Kriegszeit in Dachau umgekommen. Er liegt an einem unbekannten Ort in Bayern begraben.
Dieser Mann ist waehrend all der Jahre, in denen ich an der Spitze der Holzmindener SPD stand, mein Vorbild gewesen."
Waehrend Hoeppner diese und andere Geschichten erzaehlt, sieht man einige aeltere Frauen in der ersten Reihe weinen. Sie denken an ihre verstorbenen Gatten, die zwar alle keine Maertyrer waren, aber ihr Bestes fuer die Partei gegeben haben.
Neben ihnen sitzt Hoeppners Tochter samt Ehemann. Droste, der Schwiegersohn langweilt sich. Er hat die Geschichten aus dem 3. Reich schon zu oft gehoert und blickt melancholisch in dem verrauchten Saal umher, an dessen Einweihung in 1957 er sich genau erinnert. Vorher, also ab 46, hatten sich die Parteimitglieder bei Hein am Stammtisch getroffen. Indem der Gastwirt anbaute, wuchs mit der SPD auch ihr Lokal. Der neue Festsaal wurde mit dem 50. Geburtstag des Schwiegervaters in Betrieb genommen. Doeding, der alte Kaempe, hat damals die Feier organisiert und sich gleich zu Beginn hoffnungslos volllaufen lassen. Als der Photograph kam, konnte er nicht mehr stehen und setzte sich mit ausgestreckten Beinen vor die Phalanx der Gaeste. Wie zur Aufforderung an die Nachwelt schwenkte er dabei zwei Sektflaschen in der Hand.
Alles in dem Saal funkelte, glaenzte und strahlte - die Gesichter, das Mobiliar und Fenster und Waende. Die bunten Fahnen, dieselben, die heute hier haengen, waren der Garant fuer seine Zukunft als Versammlungsort der Sozialdemokraten. Auf Hoeppners riesigem Geburtstagstisch stapelte sich der Nippes der 50er Jahre und koerbeweise Blumen, Weine und Delikatessen aus allen Laendern Europas. Jede Minute erreichten den Jubilar Telegramme von Politgroessen der Bundes- oder Landes-partei.
Ueber dem Gedraengel der Gaeste herrschte Aufbruchstimmung; denn auch die Mitglieder der SPD waren am Wirtschaftswunder beteiligt. Niemand war arbeitslos und alles hoffte auf eine noch bessere Zukunft. Selbst die 50- und 60-jaehrigen waren wie jung und voller Elan.
Von all dem ist der heutige Tag nur ein mueder Abklatsch. Droste schaetzt das Durchschnittsalter der Gaeste auf ueber 60. Er weiss nicht, wieso, aber selbst die frischen Blumen machen einen verstaubten Eindruck auf ihn.
Ein Anflug von Wehmut angesichts der verlorenen Zeit? Das darf nicht sein. Er ist immer ein bisschen der Ausgeschlossene gewesen. Der oede Beruf in der Bauverwaltung, in dem er keine Befriedigung fand, der Schatten seines Schwiegervaters und die Gattin, die ihm mit ihrem Ehrgeiz im Nacken sass. Und schliesslich jener 50. Geburtstag, der mit einem Eklat endete. Er hat die Feier nach einer Stunde verlassen, so sehr hat ihm seine Frau zugesetzt.
"Jetzt geh doch mal wenigstens zu dem Heimann hin, er ist doch einer von uns", hat sie gefluestert. Heimann ist damals das einzige SPD Mitglied unter den hoeheren Chargen der Kreisverwaltung gewesen, ein Mann, mit dem die CDU gut leben konnte, weil er keine eigene Meinung hatte. Droste ist ihm immer aus aus dem Weg gegangen.
Als seine Frau zum 3. Mal zischte: "Geh endlich zu ihm hin. Unterhalt dich mit ihm. Vielleicht kann er doch etwas fuer deine Karriere tun", platzte ihm der Kragen und er rief entnervt: "Karriere! Karriere! Warum machst du nicht selber Karriere? Du findest dich doch viel besser zurecht in diesem Affenkaefig, den man Gesellschaft nennt. Ganz die Tochter deines Vaters!" Dabei wusste er, dass der Vorwurf, Hoeppner sei ein Karrierist, nicht zutrifft. Sein Schwiegervater ist nach dem Krieg, als unbescholtene Politiker rar waren, in eine Position hereingerutscht und hat sie gehalten, ohne danach einen Millimeter voranzukommen, weder in seiner Partei noch im Staat.
Droste hat dann die Feier verlassen. Zu Hause hat er an seinem Buch weitergeschrieben, er weiss es noch wie heute. Ja, ein Bauinspektor, der Buecher schrieb und in einer Kriegsruine Skulpturen goss! ... der abends wie ein Gehetzter aus dem Buero kam und sich in seine kuenstlerische Arbeit stuerzte, die doch nur verhoehnt wurde.
Er verstand seine Frau nicht! Wozu sich langmachen? Ueber die Leitung des Baureferats war doch laengst entschieden, und den Beamtenposten konnten sie ihm schlecht wegnehmen - trotz der verpatzten Verwaltungspruefung. Auf Draengen seines Schwiegervaters hatte Droste an einem Lehrgang teilgenommen. Anstatt die Abende zur Nachbereitung zu nutzen, war er jedoch weiter seinen kuenstlerischen Neigungen nachgegangen und prompt durch das abschliessende Examen gefallen. den SPD-Gegnern in der Verwaltungsspitze kam das als Argument gegen Hoeppners Kandidaten gerade recht. Ihm selber passte es eigentlich auch. Er begnuegte sich gern mit dem einfachen Dienstrang. Wozu sich mit Verwaltungsstuss stressen? Wozu fuer weitreichende Entscheidungen mitverantwortlich sein? Wozu staendig dem Landrat und dem Kreistag Rede und Antwort stehen? Das Leben hatte hoehere Genuesse zu bieten!
So in Gedanken versunken verpasst Droste den groessten Teil von Hoeppners Rede. Nachdem der Applaus fuer den Schwiegervater verklungen ist, tritt der Landrat ans Pult. Als die beiden Politiker kurz zusammen auf dem Podium stehen, sieht man deutlich, dass sie mehr als zwei Altersgenerationen trennen. Buchholz, der Nachnachfolger von Hoeppner als Parteivorsitzender, ist ein studierter Mann und brillianter Redner, eine ehemalige Sportskanone und eine gepflegte Erscheinung. Er ist ein makelloser Gewinnertyp und ausserdem ein guter Schauspieler, der fuer jede Situation die richtige Rolle bereithaelt. Gegen ihn wirkt der Alte in seinem schlechtsitzenden Anzug und mit den ungelenken Bewegungen wie der ehemalige Waldarbeiter, der er ist.
Buchholz beginnt seine Rede, indem er sein Parteibuch hochhaelt. Hoeppner habe ihn vor 20 Jahren als Mitglied geworben! Bei der Gelegenheit habe er dem Geschichtsstudenten Buchholz im Kreisbuero eine alte Kladde gezeigt - die handschriftlichen Protokolle der ersten SPD Kreisverbandssitzungen nach dem Krieg. Diese Kladde werde auch heute noch aufbewahrt. Er, Buchholz, werde jetzt daraus zitieren: 'Protokoll vom 30.1.1946. Der SPD Kreisverband Holzminden findet sich zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Anwesend: Doeding, Hoeppner, Seidel, Weber, Spilker.' - "ein kleines Haeuflein, wahrlich die Maenner der ersten Stunde," ergaenzt Buchholz, dann weiter: 'Zuerst wurden der Vorsitzende und der Kassenwart gewaehlt. Die Aufgaben wurden einstimmig August Hoeppner und Erich Seidel uebertragen.' Buchholz macht eine Pause. Dann sagt er: "Weiter unten im Protokoll heisst es: 'Ziel des Kreisverbandes ist es, den Wiederaufbau des demokratischen Gemeinwesens in Deutschland aktiv zu gestalten.'"
Nachdem er die politischen Stationen Hoeppners seit dem Krieg und sein Engagement fuers Gemeinwesen in den hoechsten Toenen gelobt hat, kommt der Landrat auf die Tagespolitik zu sprechen: "Viele Jahre lang hat unsere Stadt mit dem Verkehrsengpass leben muessen, den die CDU in den 50er Jahren hinterlassen hat. Wenn es nach dem Visionaer August Hoeppner gegangen waere, haetten wir schon damals eine Autobahnverbindung nach Frankfurt und nach Hannover bekommen. Gut, sie haette vielleicht die heutigen Umweltstandards nicht erfuellt. Das Schicksal einer strukturschwachen Region mit vielen Arbeitslosen und wenig Einfluss im Land waere uns aber erspart geblieben. Sogar die Bundesregierung war damals bereit, viel Geld in ein solches Projekt zu investieren. Die lokale CDU entschied sich dagegen, mit Argumenten, die niemand nachvollziehen kann."
Drostes Augen gleiten vom Redner ab auf die Reihe der Fenster, sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Er denkt ironisch: "Ja, wenn ich damals Chef des Baureferats gewesen waere!" Im Kreistag gab es bei der entscheidenden Abstimmung ein Patt zwischen Gegnern und Befuerwortern der Autobahn. Bei Stimmengleichheit gab die Verwaltung den Ausschlag, so war die Regel. Der neue Leiter des Strassenbauamtes, hat fuer den Ausbau der Landstrasse votiert und damit die Sache entschieden. Knoost hatte schon das ganze Jahr hindurch vehement gegen die Fernstrasse polemisiert und sogar noch einige Abgeordnete auf seine Seite gezogen.
Droste war Anhaenger des Autobahnprojekts gewesen - hauptsaechlich aus Loyalitaet zu seinem Schwiegervater. Heute denkt er: "Welch ein Segen fuer die Weserauen war doch die damalige Entscheidung!" Wie man sieht, war es aber nur eine Atempause. Droste ist sicher, das Gerede ueber Umweltschutz ist nur Kosmetik. Man wird ein paar Laermschutzwaelle bunt anmalen, aber den wesentlichen Schaden, die Zerteilung des Tales, kann man nicht vermeiden. Uebrigens ist der Fluss nicht die einzige Naturschoenheit, die von dem Vorhaben beeintraechtigt wird. Das ganze Bergland ringsherum werden sie verschandeln!
Andererseits versteht er die Politiker. Die B79 als einzige Nord-Sued-Verbindung ist hoffnungslos ueberlastet. Scharen von Pendlern stecken morgens und abends in immer laengeren Staus. Industriekonzerne draengen auf schnelle Wege zu ihren Anlagen. In der Bevoelkerung sind nur noch ein paar Bauern gegen die Autobahn, an deren Hoefen sie vorbeifuehren wird.
Auch der ehemalige CDU Landrat hat waehrend der letzten Redepassage aus dem Fenster geblickt. Niermann wuenscht sich jene Tage zurueck, in denen er bei Buchholz' Worten aufgesprungen waere und widersprochen haette. Jetzt ist man alt und muss alles ueber sich ergehen lassen. Er troestet sich mit dem Gedanken, dass auch Buchholz in wenigen Jahren ein alter Mann sein wird.
Niermann erinnert sich gut an die turbulente Sitzung des Kreistages, in der gegen den Bau der Fernstrasse entschieden wurde. Der Autobahnminister und die wichtigsten Leute im Verkehrsausschuss des Bundestages hatten ihm mitgeteilt, ob man die A51 baue oder nicht, das haenge ganz von den Holzmindenern ab. Man werde eine negative Entscheidung des Kreistages respektieren, da es genuegend andere Autobahnprojekte in Deutschland gebe, die dringend realisiert werden muessten.
Die Kreistagssitzungen fanden damals im alten Landratsamt statt, einem massiven wilhelminischen Prachtbau, der in den 60er und 70er Jahren fuer den Kreis zu klein wurde, so dass man ihn durch einen Neubau am Stadtrand, an den Haengen des Solling, ersetzte. Seither wird das Gebaeude von der Stadtverwaltung genutzt. Die staedtischen Bediensteten wissen das Klima in dem alten, efeuumrankten Gemaeuer zu schaetzen.
Man hatte in einem Rechteck zusammengesessen, an ausgemusterten Schulbaenken des Holzmindener Gymnasiums. Er, Niermann, sass tuerseitig, rechts und fensterseitig seine Fraktion. Links scharte sich das Haeuflein der SPD Abgeordneten um Hoeppner. Insgesamt wohl an die 30 Stimmberechtigte und dazu - mit ihm am Kopfende - Vertreter der Verwaltung, die von Fall zu Fall zugeladen wurden. Fuer ein paar adlige Gutsbesitzer konzipiert, die ueber das Schicksal einer kaum voelkerten Region bestimmten, platzte der Raum unter demokratischem Verhaeltnissen aus allen Naehten.
Niermann war mit gemischten Gefuehlen in die Sitzung gegangen, denn er hatte sich im Vorfeld dem Druck Knoosts und einiger Lobbyisten gebeugt und die lokale CDU auf den Ausbau der Landstrasse festgelegt.
Seine Partei hatte damals im Kreistag eine komfortable Mehrheit. Dass die Abstimmung so knapp ausging, hing damit zusammen, dass sich einige CDU Vertreter mit denselben Argumenten, die jetzt Buchholz vorbrachte, dem Fraktionszwang widersetzten.
Hoeppner, der sich profilieren wollte, hatte zuvor
eine hitzige Diskussion entfesselt, in der es um regionale Entwicklung
und um Beschaeftigung ging. Er, Niermann, hatte dagegengehalten, die Auftraege
fuer den Autobahnbau wuerden an nationale Konzerne vergeben, die ihre Arbeiter
von ueberall, nur nicht aus Holzminden rekrutierten. So wuerden keine Arbeitsplaetze
in der Region entstehen. Wer Wachstum wolle, muesse den Ausbau der B79
unterstuetzen, dann habe man es in der Hand, lokale Baufirmen zu beauftragen,
dafuer werde er als Landrat schon sorgen, das sage er hier ganz offen.
Im Konferenzsaal waren tuerseitig Holzwaende eingelassen, die unter anderem ein Waschbecken und eine Telefonzelle verkleideten, wie auch mehrere Schraenke voller Kleiderbuegel. Nach der Sitzung, als die uebrigen Abgeordneten den Raum verlassen hatten, wollte er sich dort die Haende waschen. Dabei fiel die Tuer der Schrankwand hinter ihm zu.
"Wieder kein Wasser in der Leitung!" stellte er aegerlich fest. Er wusste aber um Abhilfe und machte sich unter dem Becken zu schaffen.
Da vernahm er eine holzgedaempfte Stimme aus dem Telefonschrank, die frohlockend sagte: "Hallo Herr Becker, hier Knoost. Die Kreistagssitzung ist gerade zu Ende. Die Abstimmung ist in unserem Sinn ausgegangen. Sie koennen die Sektkorken knallen lassen!"
Der Beamte sprach offenbar mit dem lokalen Strassenbauunternehmer, einem guten Bekannten Niermanns und Foerderer der CDU, dem man viele Wahlkampfspenden verdankte. Becker hatte die Partei und besonders ihn, Niermann, in den letzten Wochen wiederholt bedraengt und schliesslich ueberzeugt, fuer den Ausbau der B79 zu votieren. Wie es schien, hatte er auch bei Knoost interveniert.
Der Landrat stand still und horchte. Wieder die Stimme, die sich jetzt vor Erwartung ueberschlug: "Ja richtig, das ist wirklich eine positive Entwicklung. ... und fuer mich erst! Wir sollten sofort einen Termin ausmachen, damit sie mir die zweite Tranche unserer Abmachung aushaendigen."
Niermann hat damals wegen des mitgehoerten Telefongespraechs offiziell nichts unternommen. Waehrend eines Empfangs hat er Knoost auf die Seite gezogen und geraunt, man solle es mit den guten Beziehungen zu einheimischen Baufirmen nicht zu toll treiben. Ihm seien Geruechte bekannt geworden .... Knoost solle sich von dubiosen Machenschaften fernhalten, das sei die beste Voraussetzung fuer eine gedeihliche Zusammenarbeit in der Zukunft, andernfalls koenne er fuer nichts garantieren.
Ob Knoost sich daran gehalten hat? Niermann weiss es bis heute nicht. Er weiss nur, dass er nicht mehr viel Zeit hat, bevor sie ihn mit Fahnen und Trompeten zu Grabe tragen.
Copyright: B. Lampe, 1999 zurück