Es war schon abend, als sie am letzten Tag dort ankamen, herbstlich, dunstig und regenstaubig. Sie waren stinknormale Touristen, ausser dass Dieter dabei war, der ihnen paar Sachen erklaerte.

Die Strassen hatten etwas geheimnisvoll Suedeuropaeisches, fand Richard, die Bayern deutsche Gesichter, ohne sich doch mit den bekannten ganz zur Deckung bringen zu lassen.

Die Surrealisten waren in den Naechten durch Paris gezogen, hatten die kleinsten Details in bizarre Formen uebersetzt, sie waren in die Dinge hineingekrochen. Er aber sah nichts als Regen, fahles Neon-, scharfes Quecksilberlicht, und stumpfe gammelige Fassaden. Er spuerte, wie seine Fuesse nass wurden.

Er war zufrieden damit. Wo die Dinge sich so bizarr entwickelten, brauchte man den Surrealismus nicht, und schon keine gigantischen Kunstammlungen wie die Pinakothek, deren Gemaeuer die schmale Lippe Abendrot am Himmel von Schwabing verdeckten. Man konnte zu sich selbst zurueckkehren, so dass das Herz wieder regelmaessig schlug. Man sah sich um und erkannte, wer man war. Man wusste, das grelle Licht muss fort und die Werbung und alles Moerderische, und im Schosse der Prostituierten wohnte kein magisches Moment.

So streiften sie durch die Nacht, und Dieter schlug diese oder jene Kneipe oder Disco vor, doch Richard und Georg stand nicht der Sinn danach, und Dieter war kompromissbereit, auch auf Kino haette er sich eingelassen, doch sie ignorierten alle Filmpalaeste, und erreichten schliesslich eine ruhigere Gegend, ein altes verlassenes Gewerbegebiet mit grossen dunklen Hallen und Hinterhoefen, die Strasse endete abrupt im Niemandsland, aber der Fussweg ging weiter, nach Westen, und wie von einer seltsamen Macht getrieben schritten sie voran, Dieter immer hinterdrein. Einmal stolperten sie ueber eine verbogene eiserne Leiter, die irgendein Trottel auf dem Weg liegengelassen hatte, und Dieter freute sich insgeheim ein bisschen, warum mussten sie auch hier wie die Idioten herumrennen.

Denn sie hatten ein Lichtschein gesehen, flackernde vielfarbene Helligkeit, eine Kunstausstellung, Avantgarde, und das war genau, was Georg und Richard jetzt brauchten. Die Ausstellung hatte erst nach 18 Uhr geoeffnet, man meinte, interessierte Studenten abends am ehesten zu erreichen. Doch sie waren die einzigen Besucher, die Gegend war einfach zu abgelegen, und drinnen war es fast so dunkel wie draussen, denn die Waende waren mit schwarzer Tuenche bestrichen, um die hellbunten Video- und Neon-Installationen gebuehrend zur Geltung bringen.

Erwartungsfroh gingen sie durch den Vorraum, bezahlten der einsamen Frau an der Kasse den geringen Eintritt - und wurden schnell enttaeuscht. Es war wie oft in modernen Museen, man stellte innerlich viel zu hohe Qualitaetsansprueche. Manches war langweilig, anderes laecherlich unprofessionell und vieles wuerde allein darum untergehen, weil es von den technischen Moeglichkeiten ueberholt wurde. Wen interssierte im naechsten Jahrtausend noch Computergraphik aus den 70er Jahren?

Sie schlichen herum, beaeugten ernsthaft und von allen Seiten die paar gelungenen Objekte, die ihre Phantasie entfachten, und waren froh, als sie hinter einer schweren Schiebetuer unverhofft wieder auf der Strasse standen; denn das ganze Museum bestand nur aus drei mittelgrossen Ausstellungsraeumen.

Einen Moment standen sie ratlos herum. Dieter glaubte schon, die Anderen seien von ihrem Kultureuphorie herunter und sagte hoffnungsvoll: "Lasst uns zurueckgehen, es ist genau die richtige Zeit, einen drauf zu machen, in Schwabing faengt das Leben erst nach Mitternacht richtig an." Doch gerade die Enttaeuschung ueber die Ausstellung befeuerte ihre Diskussionswut, und ohne ihn weiter zu beachten und waehrend des ganzen Rueckweges, auf dem sie zu seinem Verdruss immer langsamer wurden, schallten ihre Stimmen durch die Dunkelheit, und liessen sich von seinem Lamento so wenig wie von den zahlreichen Liebespaaren ablenken, die sich auf den Gehsteigen tummelten, man konnte echt truebsinnig werden, fand er, wenn man mit solchen Leuten loszog.

"Eigentlich sollte klar sein, es kann heutzutage nur noch moderne Kunst geben", sagte Richard, "alles andere ist provinziell und rueckstaendig, man muss sich nur die ganze Gebrauchskunst anschauen, die bei den Leuten ueberall herumhaengt, oder die Imitationen beruehmter Werke, egal aus welcher Epoche, das ist vielleicht was fuer den Flur oder fuers Klo, aber nichts fuers Bewusstsein. Wenn Kunst eine Bedeutung haben soll, muss sie modern sein, muss unbegrenzt experimentieren und die alten Methoden ueberwinden.

Ich gebe ja zu, man darf kein besonderes 'Kunsterlebnis' erwarten, wie es uns manche Kulturstrategen und Museumsdirektoren versprechen, das wuerde der urspruenglichen Intention moderner Kunst zuwiderlaufen. Aber was wir eben gesehen haben, war einfach deprimierend, es war lahm, kraftlos, eine fade Sauce, da wurde zwar experimentiert, aber in absolut dilettantischer Manier." Er sagte 'Manier', und dabei konnte man an seiner Stimme hoeren, er meinte, "ich wuerde es besser machen".

Georg ignorierte die Arroganz. "Ich bin nicht sicher, ob die Unterscheidung zwischen modern und den aelteren Stilen wirklich vernuenftig ist", sagte er. "Die jeweils zeitgenoessische Kunst war doch in den meisten Faellen immer auch 'modern' ..."

"Aber mit dem Begriff 'modern' werden ganz bestimmte Richtungen der Kunst aus unserem Jahrhundert belegt", erwiderte Richard, "die uebrigens eindeutig an die jeweiligen historischen und oekonomischen Bedingungen gebunden sind und zu einer anderen Zeit gar nicht haetten entstehen koennen. Adorno und andere haben sie geistesgeschichtlich so eingeordnet, dass 'moderne' Kunst sich dadurch auszeichnet, dass sie vor den immanenten Schrecken und der Entfremdung der buergerlichen Welt nicht ins Naive ausweicht, sondern beides in sich aufnimmt und verarbeitet, ihrer Form nach wie auch nach den Inhalten. In der Form nimmt sie das Kunstfremde auf, das ist bei der modernen Kunst eigentlich zum ersten Mal zu beobachten, dass man die Materialien genauso verwendet und in die Kunstwerke einbaut, wie sie auch im Alltagsleben auftreten. - Und derart provoziert sie eine Imagination und eine Kritik beim Betrachter, die auch eine Kritik an den Verhaeltnissen ist. Denn die in unserem Bewusstsein entstehenden Bilder machen den Unterschied zwischen dem deutlich, was ist und dem, was sein koennte.

Und die Pop-Art laesst sich da nahtlos einbeziehen, jedenfalls soweit sie nicht kommerziell ist. Die Kommerzkunst hat in unserem Alltagsleben natuerlich ein enormes Gewicht, besonders durch die Medien, aber als Kuenstler halte ich ihre Heroen fuer bedeutungslos, auch wenn die Massen sie feiern und zu Goetzen stilisieren, so bleibt zuletzt doch nur das Geldverdienen.

Die Pop-Avantgarde aber fuegt sich in die Moderne ein, das wenigstens konnte man eindeutig in der Ausstellung erkennen. - Wobei sie zwei Komponenten hat, eine zivilisationskritische, da versuchen Kuenstler, mit Plastikmuell politische Aussagen zu machen, und eine in der Tradition des Dadaismus."

"Ich stimme insoweit mit dir ueberein", sagte Georg. "Man kann natuerlich 'modern' so definieren wie du es tust. Und wenn irgendwo, ist bei der Kunst die Form allein das zentrale Element (in allen anderen Bereichen wuerde ich das bestreiten), bei der Kunst transportiert die Form die Inhalte (wenn es denn Inhalte zu transportieren gibt), weil sich Kunst nur durch die Form vom blossen Dasein abheben kann.

Aber Kuenstler haben zu allen Zeiten die jeweils modernsten Produktionsformen gewaehlt, das ist ganz natuerlich so, warum soll man eine Fackel anzuenden, wenn man eine Gluehlampe hat?, und heute sind es eben die unglaublichen Moeglichkeiten der Druck- und der Filmtechnik usw.

Wenn wir schon ueber den tieferen Sinn der Kunst diskutieren, moechte ich hier 2 Thesen in den Raum stellen, die mir von Zeit zu Zeit durch den Kopf gegangen sind und fuer mich die wahre Achse der aesthetischen Theorie bestimmen. Erstens, und damit wirst du garantiert uebereinstimmen, wie ich dich kenne, zumindest wenn ich es so formuliere, also erstens, KUNST VERSETZT IN EINE ANDERE WELT, in der andere Gesetze zu gelten scheinen als in der Realitaet, und zweitens KUNST SCHOEPFT DIE MOEGLICHKEITEN UNSERER WAHRNEHMUNG VOLLSTAENDIGER AUS ALS DAS ALLTAGSLEBEN, welches vor allem grau und immer gleich ist, mit nur paar wenigen Farbtupfern. In dem Sinne ist sie vollkommener als die Wirklichkeit; denn in der Wirklichkeit hoeren wir einmal im Jahr, im Fruehling, ein paar Vogelstimmen zwitschern und gruenes Laub bricht aus den Zweigen, aber in der Kunst, im Konzert oder auf der Leinwand haben wir hundertfaches Singen und hundertfaches Gruen, und Blau und Rot dazu, soviel wir wollen.

Dieser zweite Punkt scheint mir die hauptsaechliche Antriebsfeder fuer die meisten Kuenstler, der Grund, warum ein Kunstwerk ueberhaupt geschaffen wird. Natuerlich meine damit nicht l'art pout l'art, und bin auch nicht so naiv zu glauben, Kunst diene keinem Zweck ausser dem Genuss des Betrachters, ein altes Maerchen, dazu muss man Abstand halten.

Mit meiner zweiten These bereitet es auch keine Schwierigkeiten, den Begriff des Schoenen zu erweitern, wie heute allenthalben ueblich, so dass er alles umfasst, was sich zur Schau stellen laesst, auch Arrangements von umgestossenen Muelltonnen, Portraits von nackten, mit schrillen Neonfarben bemalten Toten oder zusammengeleimte Altholzhaufen, bei denen einer seine Notdurft verrichtet, mit anderen Worten, alles was du alltaegliche Materialien genannt hast.

Das Problem ist doch, Kunst, ob modern oder traditionell, hat einen Anspruch, Bedeutung zu haben, etwas mit Wahrheit zu tun zu haben, in Bereichen, in denen die Wissenschaften kapitulieren. Und zu der einen oder andern Erkenntnis mag sie den Betrachter auch inspirieren. Aber es gibt kein wirklich festes Band zur Wahrheit, von sich aus ist in keiner Kunst Gut oder Boese enthalten, und oft reflektiert sie nur irrationale, beliebige und wertlose Beduerfnisse, wie etwa die Kommerzkunst mit den Monstrositaeten der Musikindustrie - aber nicht nur die.

Du weisst, ich bin durchaus kein Ideologe der Ratio, der neben der Vernunft nichts anderes gelten laesst. Doch die Kunst hat ihrem Wesen nach keine Richtung, sie befriedigt vornehmlich die Beduerfnisse des Stammhirns, und vielleicht noch die Eitelkeit, und den Geldbeutel. Nur selten antizipiert sie Zukunft.

Spaeter haengt sie im Museum. Dort ist alle Kunst tot, oder bestenfalls Geschichte.

Einer alten Fabel zufolge wird die Welt erst dann wahrhaft versoehnt, wenn sie zur Kunst sich erhebt, wenn Kunst und Leben eins sind - einfach schoen. Diese Hoffnung basiert auf mehreren Irrtuemern, zuallererst auf dem der Einheit von Schoenem und Gutem, worueber schon die Alten mehr als genug geschrieben haben, dass es mir seit meiner Schulzeit zum Halse heraushaengt. Kunst hat aber nichts Goettliches, sie ist nicht faehig, die Menschen von ihrer Beschraenktheit zu erloesen. Nur in einer Ueberwelt, die sich der menschliche Geist kuenstlich konstruiert, deutet sie auf etwas Uneingeloestes. Doch jene ist selber irreal. Zum real Jenseitigen kann keine Kunst gelangen.

Das ist der Grund, warum ich mich nur bis zu einem bestimmten Punkt mit Kunst beschaeftige. Die ganze aesthetische Theorie scheint mir wie eine Schimaere, ueberspitzt formuliert koennte man sagen: Es gibt keine Theorie der Aesthetik, weil es keine Aesthetik gibt." Das letzte sagte er besonders abwertend, sollte Richard sich ruhig angegriffen fuehlen.

Der aber nahm Georgs Darlegung als Aufforderung, nun seinerseits loszulegen: "Ich verstehe deine Logik nicht", sagte er, "du hast es doch selber in deiner ersten These formuliert, Kunst geht auf eine andere Welt, auf Unbekanntes, (noch) nicht Seiendes, sie ist eine Moeglichkeit, ueber die bestehenden Verhaeltnisse hinauszugehen, indem sie dem Betrachter eine Ahnung davon vermittelt, was sein koennte, und damit ist sie vielleicht das einzig wahrhafte Band, welches uns mit der Utopie verbindet.

Die moderne Kunst liefert fuer diesen Umstand genauso viele oder sogar mehr Beispiele als die klassische. Nimm zum Beispiel die abstrakte Malerei. Dort unterscheide ich eine real-abstrakte und eine irreal-abstrakte Richtung. Die erste ist abstrakt, indem sie Reales auf ein Wesentliches, Abstraktes reduziert. Die zweite experimentiert in der Luft, ist die Abstraktion einer (noch) nicht existierenden Welt. Beide erfuellen vielleicht nicht deine Ansprueche, aber sie unterscheiden sich von den abstrakten Begrifflichkeiten des technokratischen Denkens durch eine zusaetzliche Dimension, das heisst, die abstrakte Kunst ist eigentlich gar keine Reduktion, das habe ich falsch ausgedrueckt, im Gegenteil, sie ist eine Erweiterung, wenn sie auch den hoeheren Zustand der Gesellschaft nur ahnen, fuehlen, und niemals genau beschreiben kann.

Und damit geht sie auf Unerfasstes und moeglicherweise gar nicht oder nur in einer zukuenftigen Gesellschaft Erfassbares, und steht jede Kunstinterpretation unter dem Vorbehalt, dass die Ratio der Kunst niemals voellig gerecht werden kann, es bleibt eine Differenz, da mag die Ratio noch so flexibel sein, es bleibt eine Differenz zwischen dem Kunstwerk und seiner Auslegung, und in dieser Differenz ist etwas Subversives enthalten, an die keine Interpretation herankommt, all das wohlfeile Geschwafel in den Feuilletons, gleich ob es aesthetisierend oder sozialkritisch daherkommt, stoesst niemals zum Kern eines Kunstwerkes, das ist so aehnlich wie in der Wissenschaft: so praezise wir die Natur auch untersuchen, mit all unseren Bezeichnern und Apparaten, ihre Substanz werden wir nie ganz begreifen koennen.

Man kann dasselbe noch von einer anderen Seite aufspannen. Kunst hat - ueber die erwaehnte Abstraktion - zwar mit dem Allgemeinen zu tun, aber nur in sehr vermittelter Weise. In der Kunst vermischen sich naemlich Objektivitaet und Subjektivitaet, Allgemeines und Besonderes. Sie agiert auf einer Urstufe des Bewusstseins, auf der es gewisse Unterscheidungen noch gar nicht gibt - ohne aber, wie die Mythologie, zu beanspruchen, wirklich zu sein.

Die heutige Welt steht zunehmend unter der Herrschaft des Allgemeinen (vor allem des die Natur zur Ware degradierenden Geldes), und das Kunstwerk eruiert die Moeglichkeiten des Besonderen in einer solchen Welt, es rekurriert auf Natur, aber nicht in einer naiven romantizierenden, sondern in einer der Unfreiheit Rechnung tragenden Weise. Es kapriziert sich auf das Besondere und gibt ihm den Platz zurueck, welchen es in der Warenproduktion verloren hat, und ergreift damit Partei fuer die Individuen und gegen die Institutionen.

Mehr noch, wir haben das neulich schon diskutiert, die Bewegung zum schlecht Allgemeinen ist eine Bewegung zum Nichts, zur Vernichtung, von welcher Individuen und Natur gleichermassen bedroht sind. Die Kunst vermag das aufzuhalten!"

"Ich weiss nicht, wie du zu solchen Aussagen kommst, mir sind solche Kunstwerke noch nie begegnet", versuchte ihn Georg zu unterbrechen, "alles was ich sehe ist ..."

"Bitte lass mich ausreden", sagte Richard. "Also, Kunst vermag das aufzuhalten, und dabei ist es ganz egal, ob sie abstrakt ist und dadurch die unterschwelligen Risse der hermetischen Realitaet hervorhebt, oder realistisch. Auch die Fotografie und die Filmkunst, die die Wirklichkeit absolut treu abbilden, koennen im Prinzip diesem Anspruch gerecht werden.

Natuerlich sind die meisten kommerziellen Filme positivistisch, das heisst sie sind zwar nah an der Realitaet dran, aber in ihren Themen spiegeln sie nur die Herrschaft und Logik des schlecht Allgemeinen - wenn auch auf gekonnte Art und Weise.

Wahre Kunst unterscheidet sich davon, sie laesst sich zwar auch auf die Wirklichkeit ein, macht aber jene Differenzen sichtbar, von denen wir vorhin gesprochen habe.

Ich denke dabei nicht nur an die bildhafte Kunst, auch in der Literatur ist das ganz deutlich zu erkennen. Natuerlich gibt es die Sprache als Sozialkitt, die uns allen im Kapitalismus zu ueberleben hilft. Und ausserdem ist Sprache das Resultat eines abstrakten Reduktionsprozesses, mit allen negativen Begleiterscheinungen, die wir zu Hause in Hamburg schon oft diskutiert haben, alles richtig; und dennoch: manches, was wir mit Sprache formulieren, zum Beispiel, wenn wir Fragen nach Glueck und Tod, Nichts und Unendlichkeit stellen oder zu beantworten versuchen, scheint nicht zu der Welt zu passen, an die wir jene Fragen richten. Und daher meine ich, eine allzu konkrete, absolut praezise Sprache, waere etwas Fuerchterliches. Eine reibungslose Sprache, welche vollstaendig in der Welt aufginge, wuerde niemals mit den kreativen Utopien der Veraenderung zusammenspielen, wie es grosse Literatur vermag ... aeh, also, ich weiss nicht, ob du mich verstehst ... aber Literatur, Filme, Bilder, Musik, sie alle haben - als Kunst - dasselbe gebrochene Verhaeltnis zur Wirklichkeit.

Kunst moechte sagen, was sich mit den Mitteln, die ihr oder die ueberhaupt zur Verfuegung stehen, gar nicht sagen laesst, und sie ist daher viel sensitiver und tiefsinniger als Politik oder Philosophie, deren Gedankengaenge sich, wenn auch teils notgedrungen, viel zu intim mit der Wirklichkeit einlassen."

Im Bezug auf die Philosophie meinte Georg, eine Spitze zu erkennen, und er war durchaus in der Stimmung, den Fehdehandschuh aufzunehmen. "Ich bin in allem voellig anderer Ansicht als du", sagte er grimmig. "Und ich sehe jetzt, es war ein Fehler, meine erste These so missdeutig zu formulieren. Kunst, die in eine andere Welt versetzt - pah. Diese andere Welt ist keine zusammenhaengende Realitaet, sondern nur eine gefaellige Illusion. Und die anderen Gesetze, die dort gelten sollen, sind gar keine Gesetze, es sind beliebige Festlegungen, zumeist widerspruechlich und inkontingent. Der Kuenstler denkt sich irgendwas aus und schon hat er seine 'andere Welt' ..."

"Doch, das ist so!" insistierte Richard, "zwar ist das Kunstwerk nur tote und scheinbar beliebige Materie, doch durch die Wahrnehmung dringt es in unser Gehirn ein, und dort tun wir etwas hinzu, etwas Eigenes, denn Kunst weckt Erinnerung und befoerdert die Phantasie, aber auch ein Erkennen von noch nie dagewesenem ist darin, worueber ich vorhin sprach.

Was wir hinzutun, kann in etwas menschlich kollektives und etwas individuelles unterschieden werden, wobei letzteres meist nur ein kleines Epsilon ist, bei mancher modernen Kunst aber den Hauptaspekt ausmacht. Das waere meine Definition der modernen oder abstrakten Kunst, vulgaer ausgedrueckt, dass sich jeder Betrachter etwas anderes dabei denken kann.

Beide Momente sind in jedem Kunstwerk als Keim angelegt, und danach, welches Feuerwerk an Assoziationen es in uns ausloest, liesse sich seine Qualitaet beurteilen."

"Aber die Assoziationen, die in uns geweckt werden, sind vorgegaukelt, eine irreale Verfuehrung", erwiderte Georg erregt, "als Kunst kann jeder alles deklarieren; im Gegensatz zur Technik braucht sie nicht zu funktionieren, bei der Technik muss jedes Steinchen mit dem anderen zusammenpassen, Kunst arbeitet mit amorphem, funktionslosen oder inkommensurablen Entitaeten, die erst vom Geist des Betrachters in einen Scheinzusammenhang gefuegt werden. Wenn sie nicht weiterkommt, kann sie aus einer Idee jederzeit aussteigen und sich einer anderen zuwenden."

"Etwas von dem, was du sagst, ist sicher richtig", gab Richard zu, "Beliebigkeit ist der eine Pol der Kunstproduktion, aber es gibt eben auch den Aspekt der Bewusstseinserweiterung, zu dem man anders gar nicht gelangen koennte. Kunst ist imstande, in unserem Bewusstsein ein ganzes neues Universum zum Leben zu erwecken."

"Nein, nein, und nochmals nein", schrie Georg so laut, dass ein entgegenkommender Passant zusammenzuckte und vorsichtshalber die Strassenseite wechselte. "Wenn du von irgendwelchen Welten redest, wer sagt dir, welche Qualitaet sie haben? Bekanntlich herrscht in der Kunst die Diktatur der Schoenheit und des Gefallenwollens, sie ist so voller Fallstricke und Vorurteile, dass sie mit der Tyrannei der wohlfeilen Worte und des scharfen Verstandes mehr als mithalten kann, in der Versklavung der Menschen. Die schoene Erscheinung hat keinen anderen Sinn als den, uns zu taeuschen. Wahrheit ist jenseits aller Erscheinung, jenseits voller Lippen, himmelblauer Augen, oder koerperlicher Unmittelbarkeit", und dabei kam ihm unvermeidbar ein Bild Annas in den Sinn, das er jedoch mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseitefegte. "Erst wenn unser innerstes aesthetisches Empfinden voellig zerstoert ist, so dass uns die Schoenheit nicht mehr manipulieren kann, werden wir wirklich sehen koennen."

Hier mischte sich ploetzlich Dieter ein. "Du hast gesagt, dass der Kuenstler sich alles erlauben kann, ohne sich wie ein Ingenieur um die Funktionsfaehigkeit seiner Maschine kuemmern zu muessen. Aber ist das nicht gerade ein wichtiges Argument fuer die Kunst, dass sie solche Beschraenkungen nicht kuemmern muss, ist das nicht ein Aspekt von Freiheit, sich ueber geltende Gesetze hinwegsetzen zu koennen? Kunst hat doch gar nicht den Anspruch zu funktionieren, sondern sie will etwas anruehren in uns, etwas wecken, wie Richard schon sagte, und wenn sie die Regeln bricht und auf die Freiheit hinauswill, achte ich sie auch. - Ueberhaupt wundere ich mich, dass du solche Ansichten vertrittst, Richard ist doch von euch beiden der Ingenieur."

"Du stellst dir das mit der Freiheit zu einfach vor", erwiderte Georg verächtlich. "Kunst und Wissenschaft sind frei", hoehnte er. "Aber diese Freiheit ist doch nur Schein und Beliebigkeit. Kunstwerke muessen nur aesthetisch sein, nur gefallen, und daher sind sie wie Potemkinsche Doerfer, reine Fassaden ohne Bedeutung.

Aber nicht nur Kunst, alles Herumgedenke und Herumgerede, sind sprunghaft, sie koennen es sich leisten, sprunghaft zu sein, und damit die tollsten Sachen an die Wand projizieren, und reichlich unerfuellbare Hoffnungen wecken. Denn anders als die Technik, die Produktion und die Natur muessen sie sich nicht bewaehren.

Die Schwaeche des Denkens, sein Chauvinismus, sein Totalitarismus und sein Ausweichen vor den wahren Problemen, folgen nicht aus der Abstraktion - DIE hilft, Zusammenhaenge klarer zu verstehen! - sondern aus seiner Sprunghaftigkeit. Die Sprunghaftigkeit ist uns anerzogen, oder angeboren, weil sie uns beim Schwatzen nutzt, und weil in den modernen Zeiten mit den immer komplizierter werdenden Lebensbedingungen sich vieles gar nicht mehr verstehen laesst, so dass wir uns mit Meinungen und Halbwahrheiten zufrieden geben, die wir munter weiterverbreiten.

Und ich glaube auch, die meisten Kunstwerke dienen ganz anderen Zwecken als den von Richard hochgehaltenen, mit denen sie sich selbst beweihraeuchern, viel profaneren Zwecken naemlich, sie sollen nur den Status des Kuenstlers in der Kunstgemeinde aufwerten.

Natuerlich gibt es die Ausnahmen, Picasso, van Gogh usw, aber der Rest, der sich um sie schart ... nur unfaehige Eitelkeiten!

Mir hat neulich mal ein Bekannter erzaehlt, wie das in der Kunstszene ablaeuft. Es gibt ein paar Galeriebesitzer und Kulturbuerokraten, die verteilen das Geld und entscheiden nach Gusto, was gute Kunst ist, und die Kuenstler muessen sich ihnen unterordnen, und diese Unterordnung ist genauso rigide wie im Betrieb, wo du dem Chef gehorchen musst, oder noch schlimmer, weil du noch weniger Verlaesslichkeit hast, ob du dir die Geneigtheit dieser launischen Herrschaften erhaeltst; denn sie brauchen dich nicht, sie koennten leicht auf dich verzichten, du weisst es und sie wissen es, und es warten genug andere, deinen Part zu uebernehmen. Und daher habe ich von Scheinfreiheit geredet, denn so ergibt sich in der Kunst, wo die Freiheit die besten Moeglichkeiten haette, die allergroesste Unfreiheit."

"Ich glaube nicht, dass es bei einem guten Kunstwerk darauf ankommt, unter welchen sozialen Bedingungen es entstanden ist", sagte Richard unbeeindruckt, "das Werk hat eine objektive Bedeutung, die ueber seinen Erzeuger hinausgeht, und man muss es losgeloest vom Kuenstler als Teil der objektiven Geschichte betrachten. Ich gehe sogar soweit zu sagen: da sie tief in unser Bewusstsein eindringt, kann Kunst die Geschichte beeinflussen, denn die Historie wird nicht nur von der Materie beeinflusst, sondern auch von der Psychologie der Massen.

Das mindeste ist, dass uns von der Schoenheit eines Kunstwerkes Gluecksgefuehle vermittelt werden, und hier moechte ich die Schoenheit gegen dich verteidigen, und bleibe auch dabei, sie ist es - oder ist wenigstens Teil davon - die uns inspiriert und einen Hinweis gibt, was in der Welt vielleicht moeglich waere ...

Gewiss, Schoenheit ist etwas Aeusserliches, die Umschreibung, Umhuellung eines wahren Kerns, meist laesst sie sich recht einfach produzieren, sie muss nicht funktionieren, das ist richtig, nur eines wird von ihr verlangt, dass sie aesthetisches Empfinden in uns ausloest. Auch laesst sie sich nicht, wie was gut sei, aus einem einzigen uebergeordneten Prinzip ableiten. Von den vielen Idealen der Schoenheit ist keines vernunft- oder moral-bestimmt.

Aber Kunst ist Form, das hast du immerhin bestaetigt, und bleibt ihrem Material notwendig aeusserlich, soweit wuerde ich dir recht geben, was aber widerum vermittelt ist, da die Kunst das Material benutzt, um den Aeusserlichkeiten einen Sinn zu geben, der eben ueber das Material hinausgeht.

Und doch gibt es ein inhaltliches Universalis des Aesthetischen, welches in jedem Kunstwerk, in allem, was als schoen empfunden wird, enthalten ist, ohne sich allerdings daraus extrahieren zu lassen.

Ein Bildnis, welches weniger aus sich selbst schoen ist als aus dem, was es darstellt, macht einen Schritt auf jenes abstrakt-schoene zu, verliert aber zugleich; denn vom Absoluten ist nach Voraussetzung im Dargestellten mehr enthalten.

Allenfalls kann man abstrakte Malerei als Intermittenten zwischen den Antipoden der konkreten und der universellen Schoenheit betrachten.

An die Stelle einfacher dialektischer Figuren tritt hier ein DIALEKTISCHES KONTINUUM, dessen Multidimensionalitaet die Bedeutung von Kunst ausmacht."

"Ich verstehe dich nicht", sagte Georg, "deine Worte sind wie Nebelbomben, die meine Gedanken verwirren; mit dem Vorbewussten, und wohl auch Instinktmaessigen, welches die Kunst in uns ansprechen soll, kann ich nichts anfangen, denn sicher, Aesthetik spricht Gefuehle an, die unter der Ratio liegen; aber das ist genau das Problem, ich glaube, darin liegt eine grosse Luege; Und die Dialektik halte ich inzwischen sowieso fuer einen Humbug, nur Erstsemester und philosophische Amateure lassen sich von ihr beeindrucken. Ich schreibe gerade an einer Arbeit, wo ich zeige, dass man alle dialektischen Wendungen ohne weiteres mit der gewoehnlichen Logik verstehen kann."

"Fuer mich ist Dialektik kein logischer, sondern ein gesellschaftlicher Begriff", unterbrach ihn Richard.

"Dann steht es mit dir schlimmer als ich dachte", sagte Georg herausfordernd, "solche Aussagen sind doch Vulgaermarxismus."

"Lass mich bitte ausreden", beharrte Richard, "nehmen wir irgendein dialektisches Problem, zum Beispiel, aeh, die Frage, ob die Wahrheit dadurch sinnlos ist, dass die Menschen nichts mit ihr anzufangen wissen (seis weil sie nicht ihren Interessen entspricht oder weil sie ausserhalb ihres Wahrnehmungs- oder Erkenntnishorizontes liegt); oder mit anderen Worten: gibt es eine objektive, kosmische Wahrheit ausserhalb der menschlichen Bewusstseine?

Dieses Problem ist dialektischer Natur; denn einerseits, wenn es niemanden gibt, der eine Wahrheit erkennt, ist sie bedeutungslos, aber andererseits gibt es sicher viele objektive und auch bedeutsame Tatsachen, die bisher nicht in unsere Gehirne gelangt sind. Das faengt bei unverstandenen Naturphaenomenen an - in den Wissenschaften gibt es so vieles, was niemand versteht - und endet bei dem menschlichen Hang, das Fremde auszusondern, zu benachteiligen oder gar umzubringen."

"Das hoert sich schoen dialektisch an, aber nach meiner Meinung kommen solche Effekte einfach deshalb zustande, weil die Menschheit eine Fehlkonstruktion ist, und zwar nicht einfach eine Fehlkonstruktion, sondern eine boesartige Fehlkonstruktion. Die sich natuerlich aus darwinistischen Zwaengen ergeben hat; ... aber nun ist der Geist da, und koennte zu den groessten Hoehenfluegen ansetzen, aber die Schlechtigkeit, die Raubtierhaftigkeit, die Steinzeit fesselt ihn an den Boden."

Richard widersprach. Georg rede zu viel von den Menschen und zu wenig von der kapitalistischen Gesellschaft. Und keiner mochte nachgeben, im Gegenteil, die Diskussion wurde immer hitziger gefuehrt, und zuletzt wurden keine Argumente, sondern nur noch Provokationen ausgetauscht.

Bevor eine bestimmte Grenze ueberschritten wurde, hielten sich beide dann doch zurueck - denn man soll mit seinem besten Freund nicht grundlos einen existentiellen Streit vom Zaun brechen - und waren froh, als Dieter wieder damit anfing, in welche Disko man jetzt gehen sollte.

Sie kamen zurueck nach Schwabing, in den Lichtschein der vielen Laedchen und Bierkneipen, am Hauptkino des Constantin Verleihs vorbei, einem Flachbau mit grosszuegigem Innenhof, wie auf einer mexikanischen Hacienda, wo jeder neue Film immer zuerst gespielt wurde, und nur einmal, ehe er um die Welt ging; und bevor sie endgueltig in den Vergnuegungstempeln und Tanzpalaesten abtauchten, holte Georg einen Zettel aus der Tasche und einen Kugelschreiber und schlug versoehnlich vor, jeder, auch Dieter, solle einen Satz ueber die Kunst aufschreiben, reihum, und dann umknicken, man duerfe jeweils nur die letzte Zeile lesen, an der muesse man sich orientieren, so hatten sie als Kinder oft irrwitzige Geschichten erfunden, aber diesmal kam, ueberraschenderweise, ein kohaerenter Text zustande:

1.Die Welt ist klar, wie kompliziert ihre Gesetze auch sein moegen. Alles Mysterioese kommt durch den Menschen.

2.Der einzig realexistierende Mythos ist die Kunst. Kunst entsteht durch eine irrationale Umsetzung der Realitaet und generiert eine reale, emphatische Differenz zwischen Seiendem und Moeglichem.

3.Kunst ist die Verwirklichung ihrer eigenen Utopie.

4.Es gibt falsche und boesartige Mythen. Sie entstehen, wo dem Denken die Freiheit genommen ist und sind der Urgrund vieler Uebel. Mit ihnen kann die Wissenschaft fertigwerden; denn

5.Die Wissenschaft hat ein mythologisches Fundament.

Als das Papier fertig war, blickte Georg sich suchend um. Seine Augen fielen auf das grosse dunkle Gemaeuer zur Linken, die Pinakothek. "Das passt ja", sagte er und fuehrte seine Freunde um den Bau herum, wo niemand sie sehen konnte, zu einem der hinteren Tore, und im halben Licht einer Laterne gelang es ihm irgendwie, den Zettel daran zu befestigen.

Die Tuer war aus hellbraunem, feingeschnitzten Eichenholz und mindestens 3 Meter hoch. Darueber befanden sich in regelmaessigen Abstaenden zugemauerte Fensterrahmen. Georg hob den Kopf, formte seine Haende zu einer offenen Muschel und rief: "Seht her, ihr eingemauerten Musen, das hier ist unsere Antwort auf all eure Fragen, auf alle Mythen und Mysterien der Welt."

Dann lachte er irre und fuehrte einen seltsamen Tanz auf, eine Art Schuhplattler, der bei seinen Gefaehrten kein geringes Befremden ausloeste. "Was soll das", fragte sich Richard, "eben hat er noch den Sinn der Metaphysik bestritten, und jetzt fuehrt er hier so eine Art magisches Spektakel auf". Aber er hielt den Mund und liess ihn gewaehren, er ahnte ploetzlich, dass dieses Ritual nicht der Kunst sondern ihrer Freundschaft galt.

Was ihnen in den Diskotheken begegnete, ist nicht erwaehnenswert, schoene Frauen gewiss, doch unerreichbar, soviel sie auch tanzten, blieben sie auf ihrer Insel, und endlich hatte auch Dieter die Nase voll und trieb sie zum Aufbruch.

So streiften sie durch die Nacht, im Geist weitere Listen des Dringlichen zusammenstellend (oder des Marginalen, je nach Standpunkt und Charakter) und langsam fand man sich in Schwabing zurecht und eh man sichs versah, daemmerte der Morgen, der Regen hatte aufgehoert und die Luft war klar wie an einem sonnigen Wintermorgen trotz des noch immer verhangenen Himmels.


Im folgenden eine ziemlich praegnante Erlaeuterung des Begriffs der Aesthetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Zwei Punkte sind dabei kritisch zu sehen:

Ansonsten aber wird die Kunst hier unter einem verwandten Blickwinkel betrachtet wie in meinem Dialog.

AESTHETIK

Diese Vorlesungen sind der Aesthetik gewidmet; ihr Gegenstand ist das weite Reich des Schoenen, und naeher ist die Kunst, und zwar die schoene Kunst ihr Gebiet. Fuer diesen Gegenstand freilich ist der Name Aesthetik eigentlich nicht ganz passend, denn 'Aesthetik' bezeichnet genauer die Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens, und hat in dieser Bedeutung als eine neue Wissenschaft oder vielmehr als etwas, das erst eine philosophishe Disziplin werden sollte, in der Wolffischen Schule zu der Zeit ihren Ursprung erhalten, als man in Deutschland die Kunstwerke mit Ruecksicht auf die Empfindungen betrachtete, welche sie hervorbringen sollten, wie z.B. die Empfindungen des Angenehmen, der Bewunderung, der Furcht, des Mitleidens, und um des Unpassenden oder eigentlich um des Oberflaechlichen dieses Namens willen hat man denn auch andere, z.B. den Namen Kallistik zu bilden versucht. Doch auch dieser zeigt sich als ungenuegend, denn die Wissenschaft, die gemeint ist, betrachtet nicht das Schoene ueberhaupt, sondern rein das Schoene der Kunst. Wir wollen es deshalb bei dem Namen Aesthetik bewenden lassen, weil er als blosser Name fuer uns gleichgueltig und ausserdem einstweilen so in die gemeine Sprache uebergegangen ist, dass er als Name kann beibehalten werden. Der eigentliche Ausdruck jedoch fuer unsere Wissenschaft ist 'Philosophie der Kunst' oder 'Philosophie der schoenen Kunst'. Durch diesen Ausdruck nun schliessen wir sogleich das Naturschoene aus. Solche Begrenzung unseres Gegenstandes kann einerseits als willkuerliche Bestimmung erscheinen, wie denn jede Wissenschaft sich ihren Umfang beliebig abzumarken die Befugnis hat. In diesem Sinne aber duerfen wir die Beschraenkung der Aesthetik auf das Schoene der Kunst nicht nehmen. Im gewoehnlichen Leben zwar ist man gewohnt, von schoener Farbe, einem schoenen Himmel, schoenem Strome, ohnehin von schoenen Blumen, schoenen Tieren und noch mehr von schoenen Menschen zu sprechen, doch laesst sich, obschon wir uns hier nicht in den Streit einlassen wollen, inwiefern solchen Gegenstaenden mit Recht die Qualitaet Schoenheit beigelegt und so ueberhaupt das Naturschoene neben das Kunstschoene gestellt werden duerfe, dagegen zunaechst schon behaupten, dass das Kunstschoene hoeher stehe als die Natur. Denn die Kunstschoenheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schoenheit und um soviel der Geist und seine Produktionen hoeher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel auch ist das Kunstschoene hoeher als die Schoenheit der Natur. Ja, formell betrachtet ist selbst ein schlechter Einfall, wie er dem Menschen wohl durch den Kopf geht, hoeher als irgendein Naturprodukt, denn in solchem Einfalle ist immer die Geistigkeit und Freiheit praesent. Dem Inhalt nach freilich erscheint z.B. die Sonne als ein absolut notwendiges Moment, waehrend ein schiefer Einfall als zufaellig und voruebergehend verschwindet aber fuer sich genommen ist solche Naturexistenz wie die Sonne indifferent, nicht in sich frei und selbstbewusst, und betrachten wir sie in dem Zusammenhange ihrer Notwendigkeit mit anderem, so betrachten wie sie nicht fuer sich, und somit nicht als schoen.

Sagten wir nun ueberhaupt, der Geist und seine Kunstschoenheit stehe hoeher als das Naturschoene, so ist damit allerdings noch soviel als nichts festgestellt, denn hoeher ist ein ganz unbestimmter Ausdruck, der Natur- und Kunstschoenheit noch als im Raume der Vorstellung nebeneinanderstehend betrachtet und nur einen quantitativen und dadurch aeusserlichen Unterschied angibt. Das Hoehere des Geistes und seiner Kunstschoenheit der Natur gegenueber ist aber nicht ein nur relatives, sondern der Geist erst ist das Wahrhaftige, alles in sich Befassende, so dass alles Schoene nur wahrhaft schoen ist als dieses Hoeheren teilhaftig und durch dasselbe erzeugt. In diesem Sinne erscheint das Naturschoene nur als ein Reflex des dem Geiste angehoerigen Schoenen, als eine unvollkommene, unvollstaendige Weise, eine Weise, die ihrer Substanz nach im Geiste selber enthalten ist. - Ausserdem wird uns die Beschraenkung auf die schoene Kunst sehr natuerlich vorkommen, denn soviel auch von Naturschoenheiten - weniger bei den Alten als bei uns - die Rede ist, so ist doch wohl noch niemand auf den Einfall gekommen, den Gesichtspunkt der Schoenheit der natuerlichen Dinge herauszuheben und eine Wissenschaft, eine systematische Darstellung dieser Schoenheiten machen zu wollen. Man hat wohl den Gesichtspunkt der Nuetzlichkeit herausgenommen und z. B. eine Wissenschaft der gegen die Krankheiten dienlichen natuerlichen Dinge, eine materin medica, verfasst, eine Beschreibung der Mineralien, chemischen Produkte, Pflanzen, Tiere, welche fuer die Heilung nuetzlich sind, aber nach dem Gesichtspunkte der Schoenheit hat man die Reiche der Natur nicht zusammengestellt und beurteilt. Wir fuehlen uns bei der Naturschoenheit zu sehr im Unbestimmten ohne Kriterium zu sein, und deshalb wuerde solche Zusammenstellung zuwenig Interesse darbieten, sie zu unternehmen.

Diese vorlaeufigen Bemerkungen ueber die Schoenheit in der Natur und Kunst, ueber das Verhaeltnis beider und das Ausschliessen der ersteren aus dem Bereich unseres eigentlihen Gegenstandes sollen die Vorstellung entfernen, als falle die Beschraenkung unserer Wissenschaft nur der Willkuer und Beliebigkeit anheim. Bewiesen sollte dies Verhaeltnis hier noch nicht werden, denn die Betrachtung desselben faellt innerhalb unserer Wissenschaft selber und ist deshalb erst spaeter naeher zu eroertern und zu beweisen.


In allen Diskussionen auf dieser Seite ist die Darstellung des traditionellen Form-Inhalt Problems zu kurz gekommen, ja, es wurde (teilweise zu recht) gegen jede Kunst polemisiert, da sie tendenziell nur schoene Form ist. - Im folgenden Kleists ziemlich extreme, ich moechte sagen utopische Haltung zur Form-Inhalt Problematik, die durch ihr utopisches Element, indem sie naemlich die Form voellig dem Inhalt unterwirft, meiner Polemik entkommt. So sollte Kunst, so sollte Schoenheit sein! So ist sie nicht!

"Mein teurer Freund!

Juengsthin, als ich dich bei der Lektuere meiner Gedichte fand, ruehmtest du mich auf eine Art, die mich beschaemte, um so mehr, als dein Gemuet hier auf Vorzuegen verweilt, die ihren groessten Wert dadurch bewiesen haben wuerden, dass du sie gar nicht bemerkt haettest. Wenn ich beim Dichten meine Gedanken ergreifen und ohne weitere Zutat in dein Bewusstsein legen koennte, so waeren alle Forderungen meiner Seele in einmal erfuellt. Und auch dir bliebe zu wuenschen nichts uebrig. Dem Duerstenden kommt es auf die Schale nicht an, sondern auf die Fruechte, die man ihm darin bringt. Nur weil der Gedanke, um zu erscheinen, mit etwas Groeberem, Koerperlichem verbunden sein muss, nur darum bediene ich mich der Rede. Sprache, Rhythmus, Wohlklang usw, so reizvoll diese den Geist einhuellenden Dinge sein moegen, so sind sie doch an und fuer sich nichts als ein wahrer, obschon natuerlicher und notwendiger Uebelstand; und die Kunst kann, in Bezug auf sie, auf nichts geben, als sie moeglichst verschwinden zu machen. Ich bemuehe mich aus besten Kraeften, dem Ausdruck Klarheit, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben zu geben, aber bloss damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein der Gedanke, den sie einschliessen, erscheine. Denn das ist die Eigenschaft aller echten Form, dass der Geist augenblicklich und unmittelbar daraus hervortrete, waehrend die mangelhafte ihn, wie ein schlechter Spiegel, gebunden haelt, und an nichts erinnert als an sich selbst. Wenn du mir daher die Form meiner Werke lobst, so weckst du in mir die Besorgnis ..."

Kleists Sorgen sind begruendet, doch sie betreffen nicht ihn allein, sondern alle Kunst: In Sprache gegossen aendern sich Farbe und Richtung jedes Gedankens. An seine urspruengliche Guete kommt keine Literatur heran.


© Copyright: B. Lampe, 2002

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