Aus meiner Kindheit
Omma hatte im Garten ganz viele Blumen, Krokosse und Tulpen im Fruehling, Rosen im Sommer und Dahlien und Astern im Herbst. Den Flieder vor ihrer Terasse hat sie am meisten geliebt. Wenn ich mittags von der Schule kam, habe ich unten bei ihr gegessen. Ich bin durch die beiden Flure gegangen, dann durch das Esszimmer mit dem ins rosa gehenden grossen Geschirrschrank und dem Radio hinten in der Ecke und darueber das Portrait von meiner Mutter, in die kleine Kueche hinein, wo ein Esstisch fuer 2 Personen stand und wo sie schon die Kartoffelpuffer fertig hatte. Von denen habe ich ein paar gegessen. Hinten war noch ein kleiner Vorratsraum, von immer geringerer Bedeutung, seit sie den Kuehlschrank hatten.
Oppa hat derweil meist auf dem Sofa gelegen. Er war ein relativ junger Grossvater und hat noch gearbeitet, kam aber mittags zum Essen nach Hause und hatte auch noch Zeit fuer seinen Mittagsschlaf. Seine Hauptarbeit war oft abends, er musste auf Versammlungen und hat sich dort vom vielen Zigarettenqualm eine chronische Bronchitis geholt. - Dafuer konnte er morgens laenger schlafen.
Ich glaube, sie hat sich gefreut, dass ich bei ihr gegessen habe. Mein Dasein war der zentrale Punkt in ihrem Herzen, und ich bin von ihr geliebt worden wie sonst von keinem Menschen. Sie hat ihre Trauer ueber mein Weggehen nicht so gezeigt wie Mamma, aber es muss ihr genauso an die Nieren gegangen sein.
Ich bin nach dem Abitur aus Luebbecke weggezogen, weil ich dachte, meine Ziele nur in einer grossen Stadt erreichen zu koennen, und habe dabei in Kauf genommen, dass ich die Zeit und Umgebung meiner Kindheit unwiderruflich verlieren wuerde, ohne dass mir dieser Verlust damals besonders ins Bewusstsein getreten waere, weil er ein Schleichender gewesen ist. Denn ich bin alle paar Wochen nach Luebbecke zurueckgekommen, um meine Familie zu besuchen, und das hat mich ueber das Verlierengehen hinweggetaeuscht, hat es natuerlich auch aufgehalten, und ich habe es genossen, fuer kurze Zeit wieder der umsorgte Sohn zu sein. Aber hauptsaechlich habe ich es benutzt, um Kraefte zu sammeln fuer meinen letztendlich vergeblichen Kampf.
Wenn man mich heute fragen wuerde, was ist wichtig im Leben ... ich weiss es nicht. Auf jeden Fall sollte man nicht so viel Zeit mit Sinnlosigkeiten und Perspektivlosigkeiten verbringen wie ich, man sollte sich immer vorher ueberlegen, welche Ziele es wert sind und welche ueberhaupt erreicht werden koennen. Ansonsten sehe ich keine Alternative, man sollte sein Leben fuehren, wie ich es getan habe, mit Genuss arbeiten und sich vielleicht etwas mehr um die geliebten Menschen kuemmern.
Ich haette mehr Zeit mit Omma verbringen muessen, so sehe ich es heute, aber damals war ich halt auf meine Interessen gepolt und auf die (fuer mich ziemlich schwierige) Suche nach der richtigen Frau, und habe mir die Zeit fuer sie einfach nicht genommen, obwohl ich damit sicher mehr vom Glueck meiner Kindheit ins Erwachsenenleben haette retten koennen.
In einer anderen Weise bin ich wahrscheinlich zu lange Kind geblieben. Weil es naemlich immer zwei Generationen vor mir gab, die schon alles richten wuerden, habe ich viel Zeit mit Ideen verbracht, die weit ueber das Mass des gesellschaftlich moeglichen hinausgehen, ich glaubte es mir leisten zu koennen, und die notwendig daraus resultierenden Rueckschlaege haben mich spaeter permanent frustriert.
Ein weiteres Problem ist, dass mir zuhause praktisch alles abgenommen wurde. Um mich abzunabeln und eine gewisse Unabhaengigkeit aufzubauen, musste ich also den Sprung nach ganz weit weg tun. Wenn ich in Luebbecke eine interessante Perspektive gesehen haette oder mir Raum fuer eine Perspektive gelassen worden waere, die ich als interessant fuer mich haette entdecken koennen, waere ich vielleicht geblieben oder nach dem Studium wieder zurueckgekehrt.
Oppa und Pappa haben uns Kinder nicht so beachtet, und ich habe auch spaeter keinen engeren Draht zu ihnen entwickelt, weder emotional noch intellektuell, wir waren alle drei zu verschieden (wenn ich auch von Oppa die Leidenschaft fuer metaphysische Ziele und von Pappa die Leidenschaft geerbt habe, sie zu verfolgen), und keiner hat je genau verstanden, was in dem anderen vorgegangen ist. Vielleicht ist sowas auch zuviel verlangt, dass sich Menschen voellig verstehen, das wichtigste im Leben ist, einmal so eine uneingeschraenkte Liebe zu erfahren, wie sie Omma fuer mich aufbrachte.
Oppa ist immerhin mit uns (= Omma, Mamma, Sigrid und mir) auf Reisen gegangen und hat sich gefreut, uns die Welt zu zeigen, wie wir sie vorher nur aus dem Fernseher kannten. Besonders erinnere ich mich an Fehmarn, und spaeter, an der Grenze zur Jugend, an Suedtirol. Die Liebe zu den Bergen habe ich von ihm.
Aber wie gesagt, eigentlich schon seit dem Abitur ist das alles Vergangenheit. Ich habe mich damals so stark gefuehlt, Mensch habe ich mich stark gefuehlt, aber die meisten meiner Ideen und Vorstellungen liessen sich nicht verwirklichen; so habe ich mich mit den normalen Zielen zufrieden gegeben, Familiengruendung, Beruf usw - und, nicht zu vergessen, Geschichten zu schreiben.
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