eine geschichte ueber traurigkeit, ueber die ignoranz der wissenschaft und die irrelevanz der erkenntnis
es regnet; nebel und ein grauer wintertag. pollwein ist auf dem nachhauseweg. er ist 35 und meist arbeitslos. er wohnt in einer stickigen engen bude am stadtrand, und oft ist er krank vor einsamkeit.
aber er ist auch ein verfechter der fantasie, ein glimmender. er liest und er schreibt, und immer wenn ich ihn besuche, liegen stapel mit kleiner schrift eng beschriebener manuskripte zwischen ueberquellenden aschenbechern auf seinem schreibtisch, der zugleich kuechentisch ist.
pollwein ist schmaechtig und leicht zu uebersehen, er geht gebueckt, hat ganz gelbe zaehne und trinkt literweise kaffee. er ist kein sonnenmensch; gewoehnlich steht er erst gegen 15 uhr auf, und spaetabends trifft man ihn in seiner stammkneipe, wo er lange sinnend vor seinem bier sitzt.
waehrendalldem schreibt er, er laesst sich das denken durch seine desolate lage nicht verdriessen; ganz ohne besessenheit schreitet er fort, wandert von schule zu schule; und wuerde gern auch ueber seine erkenntnisse sprechen, allein er hat schwierigkeiten, sich den menschen verstaendlich zu machen, sie verunsichern ihn. dabei ist er wahrhaftig wie wenige.
jetzt ist dezember und pollwein ist unzufrieden. der freundliche junge mann vom arbeitsamt, mit dem man sich auf keinen fall anlegen darf, sowenig wie mit dem verstaendnisvollen psychologen von der fuersorge, von dem er sich beinahe verstanden fuehlt, weil jener beinahe seine sprache spricht, der freundliche junge mann hatte ihm arbeit in einer umfrageagentur vermittelt, und gemeint, damit sei pollweins existenz als fabriksaisonarbeiter lagerkistenschlepper beendet, dort koenne er seine talente entfalten; und pollwein war dem kleinendickenalerten chef dankbar, dass er ihn eingestellt hat.
doch die arbeit ist stressig oder langweilig, und die freiheit hat hier sowenig raum wie in der fabrik. man hat ihm ein kabuff am ende des korridors zugewiesen. es gibt viel leerlauf. wenn keine kunden kommen, schlurft pollwein manchmal ins pompoese wartezimmer und blaettert in den illustrierten, den gesammelten weisheiten und dummheiten der werbebranche, wo faekalien in schoene rahmen gefasst werden und das boese gut heisst. die beiden nagelfeilenden sekretaerinnen beaeugen ihn misstrauisch durch die glaswand.
auch spiegel und bildderwissenschaft liegen herum, sie sind zuallererst werbetraeger, es geht ihnen nicht um politik oder wissenschaft, es geht ums geldverdienen, jeder weiss das, trotzdem verschwenden wir unsere zeit mit ihnen, wir sind nicht zu retten, so wenig wie die menschheit zu retten ist, jeder weiss das.
gebannt liest pollwein einen artikel ueber y-strahlen. fuer ihn ist die naturwissenschaft ein teil der philosophie, oder mindestens wirken ihre paradigmenwechsel auf die philosophie zurueck, und er verfolgt sie mit neugierigem interesse. er weiss nicht, dass die wissenschaft schon lange tot ist und auf ihrer leiche eine gewaltige ab-massnahme durchgefuehrt wird, die maden gerieren sich als ihre herren.
er liest, y-strahlen koennen jetzt mit extrem hoher intensitaet und kohaerenz hergestellt werden (durch beschuss von kaonen mit polarisierten elektronen), so dass dem bau von y-lasern nichts mehr im wege steht. abends sitzt er in seiner stubekuechearbeitszimmer, er hockt im dunkeln, er hat das licht nicht angemacht, und da funkt es bei ihm. mit diesen strahlen kann der genetische code entschluesselt werden!
pollwein bleibt ganz ruhig, er ist nicht aufgeregt. schliesslich ist diese idee auch nicht besser als all die anderen wahrheiten, die er auf tausenden zetteln verstreut hat. sie alle werden systematisch zuendegedacht, niedergeschrieben und dann faehrt man mit der naechsten fort, so geht das alle tage. das problem sind nicht die wahrheiten oder die irrtuemer ... doch welchen sinn macht es, seine meinungen zu veroeffentlichen, wenn man das publikum nicht leiden kann?
so liegen seine einsichten ueber die y-strahlen wochenlang ungenutzt herum, und die gefahr ist nicht eben klein, das er selbst sie vergessen wird.
2.
pollwein ist niemals leidenschaftlich. seine unzufriedenheit oder gar verzweiflung sind von zurueckhaltender natur.
nur eines morgens im januar, man weiss nicht warum, da ist er leidenschaftlich und seine verzweiflung ist gar nicht mehr zurueckhaltend. zwar, er kann das unrecht, welches ihm geschieht, nicht quantitativ benennen, ist nicht einmal sicher, ob ihm ueberhaupt unrecht getan wird. wenn die schweigende mehrheit mit autos und flugreisen, mit denen sie ihre persoenlichkeit zur entfaltung bringt, ressourcen und umwelt vernichtet: wer soll sie hindern, da sie als kollektiv vorgeht und festlegt, dass dies kein verbrechen, sondern das normale leben ist? wenn pollwein an diesem leben nicht teilnimmt, so what! und wenn er sich von ihr an die wand gedrueckt fuehlt, ist das sein problem. sie zweifelt nicht an ihrem recht auf genuss und bequemlichkeit und ist ohne weiteres bereit, die waffen zu finanzieren, die ihre regeln und gesetze durchsetzen.
heute jedenfalls ist pollwein nicht ausgeglichen, er hadert mit dem schicksal. nach dem fruehstueck (muesli und fertigkaffee) kramt er in seinen papieren und findet die notizen ueber y-strahlen. er wendet sie hin und her und entschliesst sich spontan, einen y-strahlen-experten aufzusuchen, einen gewissen professor z. von der universitaet, der in der zeitschrift erwaehnt worden ist.
pollwein besteigt den bus, linie 112, zum campus. unterwegs fasst er seine argumente zusammen, er weiss jetzt schon, es wird schwierig, den mann zu ueberzeugen. er wird sich nicht trauen, laut und deutlich zu sprechen und nachdruecklich seine meinung zu vertreten. der andere wird ungeduldig werden und sich von einem amateur ohnehin nicht belehren lassen wollen ...
die gebaeude der hochschule erinnern pollwein von ferne an ein ueppiges monstroeses antikes grabmal, im innern sind sie ein labyrinth. endlich findet er z.'s buero in flur r iv 17, er klopft an, und um die geschichte abzukuerzen, nehmen wir an, z. ist anwesend und streunt nicht gerade auf einem kongress in hamburg, genf, siena oder santa barbara herum. er oeffnet selbst und nun stehen sich 2 menschen gegenueber, wie sie charakterlich nicht verschiedener sein koennten; z. auf dem hoehepunkt seiner karriere; pollwein voller lampenfeiber, mit dem einzigen ziel, sein vorhaben nicht zu verpatzen, stockend bittet er um einen augenblick gehoer.
z. meint diesen menschen mit einem blick zu begreifen, doch komplimentiert er ihn nicht gleich hinaus, er spuert ein fluechtiges interesse an pollweins aermlich-exotischer erscheinung.
pollwein spult seine einleitung herunter, noch waehrend er an z.'s besprechungstisch platz nimmt. er taete gut daran, sie etwas pronouncierter zu wiederholen; denn b. ist ein mann der wohldurchdachten einleitungen; nur in der einleitung, meint er, ist gewissheit.
doch pollwein ist viel zu aufgeregt, seine plaene sprudeln wie ein sturzbach aus ihm hervor, als muesse er sich von einer schweren last befreien. z. blickt ihm in die augen, mit starrer wissender miene, und immer schneller redet pollwein, ein unvermutetes gefuehl von inferioritaet treibt seine saetze voran, auch der neutralste beobachter koennte ihm nun nicht mehr folgen.
z. versteht nur ein paar stichworte, und um irgendetwas zu sagen, unterbricht er den anderen einmal mit einer gelehrten bemerkung. pollwein aber faehrt ihm gleich ins wort - ja - ja! - und dies! - ja - und bald ist er am ende mit seinen ausfuehrungen.
z. streicht sich gedankenvoll uebers kinn und blickt an pollwein vorbei durchs fenster auf die fernen haenge des gebirges. er denkt an alles andere als y-strahlen, eigentlich denkt er an gar nichts, oder ans mittagessen oder die besprechung mit dem dekan. von pollwein hat er genug gehoert. die idee klingt reichlich sonderbar und abenteuerlich; nach allem, was er ueber y-strahlen weiss, kann sie nicht stimmen. er erhebt sich. ihre vorschlaege sind interessant, mehr kann ich dazu im moment nicht sagen, muss sie erst genauer studieren. ich empfehle ihnen, dieunddie artikel zu lesen - er drueckt dem arglosen einen stapel papier in die hand - und ihre vorschlaege mehr im detail auszuarbeiten - er laechelt hintersinnig. pollwein ist entlassen, er geht, mit der leisen furcht, z. koenne ihm seine idee stehlen, zugleich aber in dem triumphierenden bewusstsein, endlich sich einmal oeffentlich gemacht zu haben.
diese empfindungen halten sich ein paar tage, dann verfliegen sie, es bleibt eine seltsame leere.
von z. hat er nie wieder gehoert.
er hat sich aber auch nie wieder an ihn gewandt - z. ist zu 'marginal', findet pollwein - und geht weiter zielstrebig seiner gedanklichen taetigkeit nach, der ausflug mit linie 112 hat fuer ihn nie stattgefunden. -- z. aber erschoepft seine zeit mit reisen und meetings, die ihm, der satt ist von anerkennung, den endgueltigen durchbruch bringen sollen, und wird bis zum schluss nicht verstehen, dass er die falschen kontakte pflegt, die falschen orte bereist. der weg zur wahrheit ist
Copyright: B. Lampe, 1999 zurück