Hier sind viele, die das Gefuehl haben, dass sie verarscht werden


Erwin wohnt in einem Kotten bei Haar, Friesland. Waer' nich' der Deich, koennte er an klaren Tagen auf die Nordsee kucken. Aber der Deich macht auf 180 Grad den Horizont zu und so sieht er nichts als oede Felder und weites Grasland. Und ein paar schiefe Weiden. Und Moewen, die ihm die Saat wegfressen. Und hoert den Wind.

Ohne den Deich wuerde hier bei Sturmflut alles volllaufen. Wie 1908; aber daran kann er sich kaum erinnern, da war er noch zu klein. Die Moewen gehoeren zum Leben an der See wie der Schnee zum Winter gehoert und die Deichsel vor den Wagen.

Erwin ist 61. Den Sechzigsten hat er in der Dorfschenke gefeiert. Das ist eigentlich ein schoener Reinfall gewesen. Er haelt nichts von solchen Festen, er waere lieber Schaefer wie Huelsmeier, der sich das ganze Jahr oben auf dem Deich herumtreibt und um alle Siedlungen einen grossen Bogen schlaegt. Der sich von niemandem dreinreden laesst. Und auch keine Geburtstage feiert.

Aber weil sein Vater Knecht war, ist auch Erwin Knecht geworden. Er hat nie eine Frau gehabt, zu schlecht war er in das 'kulturelle' Leben des Dorfes integriert. Eine hat sich mal fuer ihn interessiert, aber die ist dann in die Stadt gegangen, und er hat sie nie wiedergesehen.

Vielleicht ist er auch zu lange im Krieg gewesen. Sie haben ihn damals gleich geholt, er war 29 und immer noch dabei, sich von seinem Vater freizumachen, wenigstens das Problem hat der Krieg geloest. In der Kaserne und auch spaeter hat er den Mund gehalten, obwohl er sie gehasst hat, die Obernazis. In Russland ist ihm dann schnell Hoeren und Sehen vergangen. Diese 6 Jahre, 3 als Sieger und 3 als Gefangener, sind heute der ganze Stoff seiner Traeume.

Als er zurueckkam, stand das Gut zum Verkauf, der Erbe war gefallen. Kurz darauf hat es Krause erworben und Erwin als Knecht eingestellt. 15 Jahre hat er dort gearbeitet, bis er 1963 die Kate und das Stueckchen Land kaufen konnte. Jetzt kann er sich ein anderes Leben als auf seiner eigenen Scholle gar nicht mehr vorstellen. Er hofft, dass ihm noch ein paar Jahre bleiben und es ihm nicht so geht wie Haselohs Heinz. Mit dem war er auf der Volksschule. Und neulich Schlaganfall, einfach so, und seither ist mit ihm nichts mehr anzufangen, die linke Gesichtshaelfte gelaehmt, sprechen kann er auch nicht mehr richtig, und vorletzte Woche noch ein zweiter Anfall. Nein der wird nicht mehr auf die Fuesse kommen.

Krause kommt aus dem Osten. Weiss der Schinder, woher er als Fluechtling das Geld hatte. Erwin hat sich immer gefragt, ob das wohl auch ein Nazi gewesen ist damals, so wie der immer ueber die Linken schimpft, hat aber natuerlich den Mund gehalten. Die jetzt im Osten regieren, sind auch nicht viel besser als Hitler.

Ist auch egal. Was ihn viel mehr beschaeftigt, sind die grausamen Erinnerungen. Er ist sicher, dass er keinen Russen umgebracht hat, trotzdem er hat mitgemacht.

Einmal hat er Partisanen an einem Baum aufgehaengt gesehen, und dieses Bild des kahlen einsamen toten Baumes in der Steppe laesst ihn bis heute nicht los. Leblose Koerper, wippend im Wind, akkurat festgeknotet. In Erwins Traeumen haben sie ausdrucksvolle menschliche Gesichter mit grossen weit aufgerissenen Augen. Er koennte schwoeren, dass sie noch heute dort haengen.

Was er sonst noch gesehen hat? Alles Dinge, die man nicht aufschreiben kann, so sehr sind sie ihm zuwider. Das war fast wie im Mittelalter, wo Soeldner mit den aufgespiessten Koepfen ihrer Feinde in der Gegend herumliefen und Tausende Unschuldige abgeschlachtet wurden. Hat er mal einen Film drueber gesehen. Unmoeglich diese Schweine, das waren Unmenschen, Bestien ... sicher kein Grund fuer die Russen, mit den Deutschen nachher genauso umzugehen.

Als er juenger war, kurz nach dem Krieg, haben ihn diese Gedanken auch schon heimgesucht, wenngleich nicht in dem Masse. Er hatte damals mehr Arbeit als heute und es haengt wohl auch mit dem Altern zusammen. Jetzt verfolgen sie ihn, an manchen Tagen bekommt er sie gar nicht heraus aus dem Kopf. Da ist es gut, dass er sich den Fernseher angeschafft hat.

Eigentlich haelt er ja nichts von technischen Neuerungen. Er hat zuerst herabgesehen auf Leute, die sich so ein Ding ins Wohnzimmer stellen, und gemeint, man gebe damit boesen unheilvollen Trieben nach. Aber dann wurde im Dorfkrug ein Apparat aufgestellt und er hat gemerkt, Fernsehen ist ganz unterhaltsam und hilft ihm, seine Probleme zu verdraengen.

In seinem aermlich-altertuemlichen Wohnzimmer, das laengst einmal neu tapeziert gehoert, besonders beim Ofen, wo der Russ des undichten Rohres die Waende geschwaerzt hat, nimmt sich der Fernseher befremdlich aus. Er ist so schoen, so perfekt, ein technisches Meisterwerk, von Anfang an hat er einen Ehrenplatz bekommen. Da summt er nun allabendlich vor sich hin, und Erwin luemmelt behaglich auf dem Sofa und laesst sich von der Phantasie der Filmemacher berieseln und von ihrer Weltlaeufigkeit einnehmen.

Am liebsten schaut er Komoedien - sie koennen ruhig ein bisschen anspruchsvoll sein wie 'Unser Mann in Havanna' - und Dokumentationen, zum Beispiel 'Ein Platz fuer Tiere' "mit Professor - Doktor - Bernhard - Grzimek", wie die Ansagerin respektvoll verkuendet. Auch Politik interessiert ihn sehr. Er findet, die beste Sendung ist 'Panorama'. Da erfaehrt man vieles, was die Nachrichten verschweigen.

Erwin aergert sich ueber die Parteien. Seitdem die SPD an der Regierung ist, und alles laeuft genauso weiter wie vorher, die Aufruestung, die Macht der Banken, und so weiter, geht er nicht mehr zur Wahl. Wenn er am Wahlsonntag aus dem Haus muss und dabei jemanden trifft, tut er so, als ob er schon gewaehlt haette.

Gut, vielleicht arbeitet er damit der NPD in die Haende, die die Demokratie destabilisieren will. Aber er hat sich ueber die SPD dermassen geaergert! Damals haben sie die Wiederbewaffnung abgelehnt, und jetzt stellen sie den Verteidigungsminister. Sie erhoehen den Wehretat und tun so, als ob nichts dabei waere. Kommt noch, dass sie die Argumente der CDU uebernehmen, "sonst wuerden uns die Russen ueberrennen" und aehnlichen Spinnkram.

Durch das Fernsehen weiss Erwin viel von der Welt, ohne dass die Welt von ihm wuesste. - Wenn er sich auch nicht wirklich vorstellen kann, wie die Figuren da draussen agieren, welche Umgangsformen sie pflegen und was sie alles anstellen, um ihre Pfruende und Machtpositionen zu verteidigen ...

Jetzt im Sommer hat er leider nicht so viel Zeit dafuer. Da steht er meist den ganzen Tag auf dem Acker und abends ist er zu muede. Maschinen hat er keine, und selbst das Pferd muss er sich leihen, wenn im Fruehjahr der Boden umgepfluegt wird. Hinterher wird gesaet, Kartoffeln, Gemuese, Roggen, und danach geht es den ganzen Sommer mit der Hacke durchs Feld, das Unkraut baendigen.

Erwin hat eine Kuh, die sonnt sich derweil auf der kleinen Wiese vor dem Haus, und ein paar Bienenkaesten. Die Landwirtschaft erhaelt ihn am Leben. Mit der Rente allein kaeme er nicht ueber die Runden. Letztes Jahr sind die Verkaufspreise fuer Kartoffeln und Getreide derart gefallen, dass er kaum noch die Stromrechnung bezahlen kann.

Naja, ganz so schlimm ist es auch wieder nicht. Es geht schon, wenn man eisern haushaltet. Er schafft sich nur selten neue Kleider und Geraetschaften an. Zuletzt eine Wolljoppe, weil er im Winter so gefroren hat. Das spart gleich wieder Geld, denn da muss er in Zukunft weniger heizen. Normalerweise flickt er alles so gut es geht zusammen, seinen abgtragenen Sonntagsanzug, das undichte Dach, die morschen Fensterrahmen. Lieber behaelt er das Geld in der Hand. Wer weiss was kommt. Wenn er krank wird, wird ers brauchen koennen.

Erwin mag die grossen Bauern in der Gegend nicht. Viele sind jetzt dabei, riesige Mastanlagen fuer Schlachtvieh hochzuziehen. Fleisch scheint die lukrativste Geldquelle fuer sie zu sein. Der Sohn und Erbe vom Krause uebrigens hat sein Land verkauft. Auf dem Gelaende ist ein privates Krankenhaus mit viel Beton und Glas gebaut worden. 'Zur Frauenklinik' steht in grossen Lettern auf einem Schild am Ortseingang und noch eins in der Mitte des Dorfes, direkt bei Claasens, dem Edeka-laden.


Nicole ist Pflegerin im Barmbeker Elisabethen-Hospital. Gewoehnlich arbeitet sie montags bis freitags von 6 bis 14 Uhr. Oder manchmal in der Spaetschicht. Und alle drei Wochen hat sie Nacht- und Sonntagsdienst.

Sie erledigt ihre Arbeit zufriedenstellend; doch puenktlich um 14nullnull ist Schluss mit lustig. Dann verwandelt sich die ziemlich unscheinbare Schwester in eine Sirene, die von der U-Bahn 14.05 in die Innenstadt befoerdert wird.

Dort hat sie seit vier Jahren eine eigene Wohnung, Zweizimmerkuechebad, wo sie sich wohlfuehlt. Sie ist stolz auf ihr kleines Reich. Mit einfachen Mitteln einen eleganten Tatsch erzielt, hat eine Freundin gesagt. Teuer genug, zugegeben. Monat fuer Monat verschlingt die Miete die Haelfte ihres Einkommens.

Die Einrichtung hat sie sich praktisch vom Mund abgespart. Das eine Jahr ist sie nicht in Urlaub gefahren, kein Mallorca, kein Ibiza, keine Costa del Sol. Stattdessen Ueberstunden! Jetzt ist alles, wie es sein sollte. Nur ein richtiger Freund fehlt ihr noch.

Die Eltern haetten es lieber gesehen, wenn sie bei ihnen geblieben waere, sie haben es ihr nicht leicht gemacht damals, aber Nicole ist hart geblieben. Solange sie in der Lehre war, hat sie es ja eingesehen, es hatte seine Vorteile bei den Eltern, im Schwesternwohnheim haette sie nicht wohnen moegen. Aber danach wurde ihr klar, dass sie ihre Freiheit brauchte und drauf und dran war, Manches zu verpassen. Zu Hause war es jedesmal ein Problem, wenn ein Junge bei ihr schlief. Und ueber Nacht fortbleiben, das hielt die Mutter schon gar nicht aus.

Sie hat dann mehrere Wochen lang nach der Arbeit Wohnungen besichtigt, auch selber Anzeigen aufgegeben, hat sich nicht entscheiden koennen, denn sie suchte etwas Besonderes, das aber den finanziellen Rahmen auch nicht sprengen durfte, und sie war schon nahe daran aufzugeben, als sie endlich diese Wohnung fand, vor der sie jetzt steht und deren Tuer sie soeben oeffnet, mit einer Tragetasche voller Lebensmittel auf dem Arm.

Eigentlich sollte Nicole Medizin studieren, aber in der Pubertaet gab es eine schwierige Phase, da hat sie sich voellig in sich selbst zurueckgezogen und dann mit 16 die Schule geschmissen. Damals war ihr alles egal, das Dasein ist wie ein grosser Sumpf gewesen, worin alles zu versinken drohte. Inzwischen bereut sie es. Wiewohl ihr dieses sonderbare Gefuehl grundloser Verzweiflung noch immer vertraut ist.

Endlich zuhause! Nicole packt die Einkaeufe in den Kuehlschrank und laesst sich in den Sessel fallen. Da sitzt sie nun gemuetlich und blickt aus dem Fenster auf ein fernes Buerogebaeude, auf die Siedlung und den Alsterkanal. Ploetzlich springt sie auf, rennt in die Kueche und kommt mit einem Glas kalter Milch und einer Apfelsine zurueck. Leo wird sie wohl nicht zum Essen einladen heute abend. Sie pellt die Apfelsine und passt auf, dass nichts auf den Teppich faellt.

Der Oberarzt wird immer unverschaemter. Es ist schoen und gut, wenn man auf viele Maenner attraktiv wirkt, es gibt einem so ein gewisses Machtgefuehl, aber es nervt auch. Wenn er sie nochmal anmacht, wird sie an die Decke gehen. Man darf sich nicht alles gefallen lassen, sagt ihre Freundin.

Wahrscheinlich wird es Zeit, dass sie heiratet. Sie macht auch staendig neue Bekanntschaften, aber nichts ist von Dauer, ein Mr. Right war bisher nicht dabei. Vielleicht stellt sie zu hohe Ansprueche.

Im Grunde weiss sie nicht, was sie will. Einerseits ist sie ganz haeuslich, sie mag auch Kinder und so, andererseits geht sie gern auf die Rollbahn. Maenner, die immer nur zu Hause hocken, findet sie todlangweilig. Da ist es viel aufregender, verschiedene Typen einfach auszuprobieren. Nicole legt sich zwei Stunden ins Bett, wie jeden Nachmittag, und freut sich auf den langen Kneipenabend.

Doch sie kann nicht einschlafen; ploetzlich faellt ihr ein, sie hat diesen Monat ihre Tage nicht gehabt. Also nachher noch in die Apotheke und einen Test machen lassen.


Die Gewissheit, schwanger zu sein verdirbt ihr den ganzen Abend. So etwas kann sie im Moment absolut nicht gebrauchen. Das ist die Katastrophe hoch fuenf. Was soll sie mit dem Kind anfangen? Es zu ihren Eltern bringen? Keine gute Loesung. Also Abtreibung?

Und dieser geistig-moralische Winzling, der da vor ihr sitzt ... Ohne die Schwangerschaft wuerde sie sein Geschwafel sicher ganz lustig finden. Aber jetzt hat sie andere Sorgen, und von dieser Warte findet sie die Beschraenktheit und Oberflaechlichkeit ihrer maennlichen Bekanntschaften unertraeglich.

Allein schon die Vorstellung, dass sie jetzt Mike anrufen sollte, der hat es ja mitzuverantworten, seit Wochen hat sie von ihm nichts mehr gehoert, und war auch ganz froh darueber.

Waehrend des folgenden Wochenendes verkriecht sich Nicole ins Bett und bruetet vor sich hin. Sie hat eingesehen, die Schwangerschaft ist allein ihr Problem, und sie muss es alleine loesen.

Sie will kein Baby. Okay, vielleicht wird es eines Tages zu spaet fuer Kinder sein, und dann wird sie diesen Schritt bereuen. Aber das laesst sich nicht aendern, im Moment geht es einfach nicht.

Soweit sie gehoert hat, ist es kinderleicht, eine soziale Indikation zu bekommen. Vorausgesetzt man ist nicht verheiratet. Man muss nur ein paar Termine abmachen und Gespraeche ueber sich ergehen lassen, in denen man versichert, eine Verbindung mit dem Vater des Kindes sei voellig ausgeschlossen, dann bekommt man eine Bescheinigung, die jedes Krankenhaus verpflichtet, den Abbruch vorzunehmen.

Leider erweisen sich die Gespraeche als nicht ohne. Besonders der zweite Frauenarzt, den sie nicht kennt und der so verstaendnisvoll tut - sie muss haarklein ihre Lebensumstaende vor ihm ausbreiten und hat dabei das Gefuehl, als ob sie nichts taugt.

Er versucht sie zu ueberreden, sie koenne sich durchaus ein Kind leisten, sei auch im richtigen Alter. Doch Nicole bleibt standhaft und endlich unterschreibt er das begehrte Papier.

Zum Schluss haelt er ihr noch einen laengeren Vortrag ueber Schwangerschaften und ihre Unterbrechung, aber Nicole hoert nur halb hin, und dann hat sie es hinter sich.

Zuhause sucht sie sich im Telefonverzeichnis erst mal ein Krankenhaus. Barmbek kommt natuerlich nicht in Frage, ebenso Altona und Eppendorf, wo sie Bekannte hat. Doch auch in allen anderen Kliniken bekommt sie keinen Termin. In ganz Hamburg scheinen die Betten fuer Abtreibungen voellig ausgebucht zu sein. Als sie sich bei einem ihrer Gespraechspartner darueber beschwert, bekommt sie zu hoeren: "Tscha junge Dame, da duerfen Sie sich nich wunnern, Schwangerschaftsabbruch, das iss man jetz die neue Verhuetungsmethode." Vielleicht hat er ja recht mit seinem Sarkasmus, aber was soll sie denn machen?

Da faellt ihr ein, vor kurzem hat jemand von einer neuen auf Gynaekologie spezialisierten Klinik erzaehlt, idyllisch am Meer gelegen. Nicht ganz einfach, die Telefonnummer herauszufinden, aber zu guter letzt klappt es wie am Schnuerchen. Ob sie schon uebermorgen frueh da sein kann? Nein unmoeglich, so schnell kriegt sie keinen Urlaub. Gut, also naechsten Montag. Abgemacht.


Erwins Grundstueck hat nach Osten hin eine malerische Zufahrt. Sie wird von mehreren hohen und weithin sichtbaren Eichen umrahmt, die der Vorbesitzer vor vielen Jahren angepflanzt hat. Im Osten liegt auch die Klinik, ein riesiger Quader aus Glas und Beton, und wenn Erwin vor seiner Einfahrt steht, kommt ihm der Anblick wie eine Fotomontage vor, wie ein UFO vor dem Hintergrund des platten Landes.

Zwischen den Baeumen nimmt er heute morgen noch etwas anderes wahr, eine Fee mit langem wehendem Haar und sonderbar strahlenden Augen, ein gebluemtes Sommerkleid umflattert ihren Koerper wie ein Schwarm Schmetterlinge.

Nein, es ist keine Fata Morgana; wahrscheinlich eine Touristin, die sich beim Spazierengehen verlaufen hat. Wie huebsch sie ist, denkt er eben, da hoert er von hinten lautes Gebell, und eh er seinen Hund zurueckhalten kann, ist der bereits bei der Dame. Die weicht zurueck, stolpert und faellt nach hinten. Da liegt sie nun, haelt sich den Bauch und verzieht das Gesicht vor Schmerzen. Oh, dieser bloede Koeter!

Nicole bleibt erstmal im Gras sitzen, damit sich ihr Unterleib beruhigt. Dabei fixiert sie den besorgten Alten, der jetzt herangekommen ist. Ob sie sich verletzt habe?

"Oh, nicht so schlimm", sagt sie endlich, "es ist nur ... ich hatte eine Operation", und da kapiert Erwin, dass sie von drueben kommt, von der Klinik, und ist jetzt wirklich beunruhigt.

Nicole aber blickt neugierig umher und tut als sei gar nichts passiert. Sehnsuechtig bemerkt sie: "Wie schoen Sie es hier haben!" Seit dem Eingriff ist sie in einer Stimmung, in der frau auch weniger romantische Orte als 'schoen' bezeichnen wuerde. Sie fuehlt sich seltsam allein und hilflos, wenn auch nicht so deprimiert, wie der Arzt vorhergesagt hat, mehr wie schwebend und losgeloest von der Wirklichkeit. Sicher liegt es auch an der Athmosphaere hier auf dem Land, wo du stundenlang herumlaufen kannst, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen, wo du tatsaechlich einsam bist, und sich nur der Wind mit dir unterhaelt. Wenn du dein ganzes Leben in der Stadt verbringst, wo alles so dicht gedraengt und eng und voller Menschen ist, kommt dir diese Gegend sonderbar irreal vor.

Ob der Bauer ganz allein hier wohnt? Ob er sich wohlfuehlt in dieser Umgebung, mit nur Feldern und Wiesen ringsherum? Das naechste Dorf ist mindestens 5 Kilometer entfernt. Er sieht gesund aus, braungebrannt und maennlich. Aber angezogen ist er wie ein alter Penner, Hose und Pullover aufgetragen und schmuddelig, normalerweise wuerde sie sich vor so was ekeln.

Trotzdem laesst sie sich ueberreden, mit ins Haus zu kommen, sie solle sich dort aufs Sofa legen und ausruhen, sicherheitshalber. Drinnen gelangen sie durch eine zugige Diele in eine duestere Kammer - das Wohnzimmer. Ihr ist nicht ganz geheuer, waehrenddem Erwin denkt: "Gut dass ich gestern aufgeraeumt habe." Er sagt: "Ich lass Sie jetzt mal ein paar Minuten alleine, damit sie sich erholen koennen, und mach' uns inzwischen einen ordentlichen Kaffee."

In der Kueche pfeift er vor sich hin. Er freut sich ueber das Maedchen dort auf seinem Sofa, das ist mal was anderes als die Besuche, die er sonst kriegt. Sie ist so anziehend und bezaubernd, zum Verlieben.

Nicole liegt auf der Couch und relaxt. Ein Sonnenstrahl faellt durch das kleine Fenster und verliert sich bei der Anrichte. Der Alte hat ihr den Kaffee gebracht und ist gleich wieder hinaus, er will die Wiese schneiden.

So liegt sie eine Zeitlang, und schliesslich springt sie auf und folgt ihm nach draussen. Sie geht auf ihn zu, aber nicht um sich zu verabschieden, sondern setzt sich ins Gras und beobachtet ihn bei der Arbeit. Keine Eile, in die oede Klinik zurueckzukehren, wo sie nur noch 'zur Beobachtung' herumhaengt, morgen wird sie sowieso entlassen.

Erwin ist gerade dabei, das letzte Stueck hohen Grases nahe beim Brunnen abzumaehen, hier liegen Steine im Gras, daher setzt er die Sense soegfaeltiger als auf den Freiflaechen.

Er ist jetzt nicht mehr verlegen und unterbricht seine Arbeit, um sie nach ihrem Namen zu fragen, woher sie kommt und was sie macht, und dabei blickt er sie so ruhig und freundlich an, dass Nicole ein bisschen warm wird. Dann wendet er sich wieder seiner Arbeit zu, und ploetzlich faengt er zu erzaehlen an, er spricht deutlich und eindringlich, waehrend er die Sichel gleichmaessig kreisen laesst.

Es seien schlechte Zeiten, das hoere man allenthalben im Fernsehen - die Inflation, die leeren Kassen und die Arbeitslosigkeit. Aber doch nichts im Vergleich zu den beiden Kriegen, die er erlebt habe, und zu der Nazidiktatur. Man duerfe wohl optimistisch sein, die heutige Jugend, vor allem in den Staedten, also nach dem, was er aus dem Fernsehen hoere, da stimme die Richtung schon.

Nicole ueberlegt kurz, was er meinen koennte, dann wird ihr klar, er weiss ueberhaupt nichts von der heutigen Jugend.

Erwin ist nicht mehr aufzuhalten, und sie will ihn auch gar nicht aufhalten, seine Stimme beruhigt sie und gibt ihr Kraft, sie spuert jetzt heilt etwas in ihrem Innern.

"Frueher war das schlimm." Viele seiner Altersgenossen seien allzugern in den Krieg gezogen, besonders am Anfang im jugendlichen Ueberschwang. Ihm habe schon die Ausbildung in der Kaserne gereicht; dieser gnadenlose Drill, die Aggressivitaet, er wusste, worauf es hinauslaufen wuerde. Dabei sei er schon immer gegen Gewalt gewesen, als Kind habe er Albtraeume gekriegt, wenn zu Hause ein Schwein geschlachtet wurde.

Nicole weiss dazu nichts zusagen, hoert auch nicht richtig zu, sondern horcht hauptsaechlich dem Klang seiner Stimme hinterher. Sie spielt mit den Grashalmen und gelegentlich blinzelt sie in die Sonne.

Wie oft der Alte wohl das Meer zu sehen kriegt? Oder interessiert ihn das gar nicht, hockt er immer nur auf seiner Scholle und vor dem Fernsehapparat? Faellt ihm da nicht vor Langeweile die Decke auf dem Kopf?

Aber nein, dem ist nicht langweilig. Der Himmel ueber den Marschen ist weit, und er kennt auch das Gefuehl verpasster Gelegenheiten nicht.

Erwin ist fertig. "Ich brauch jetzt erst mal ne Pause." Er stuetzt sich auf die Sense. Nicole steht auf und streicht ihr Kleid glatt. Wenn sie wuesste, welche Gefuehle ihr Anblick in ihm ausloest. Er wendet sich ab und bringt die Sense in den Schuppen.

Als er wieder herauskommt, will sie sich empfehlen, doch er ueberredet sie, noch dazubleiben, er holt Stuehle aus dem Haus, die stellt er in die Sonne, und Brot, und den Kaffee, und faengt neuerlich an zu erzaehlen, von seiner Kindheit, seiner Arbeit, von Russland, er spart nicht mit scheusslichen Details, und zum Schluss von der Wiederaufruestung, "auch schon wieder 15 Jahre her". Da sei er sogar mal in Hamburg gewesen. Mit dem Fahrrad die 30 Kilometer nach Lehrte und von dort mit dem Bus weiter zur Demonstration.

Nicole wundert sich ueber seine seltsamen Ansichten. Die Existenz der Bundeswehr ist so selbstverstaendlich, wie kann man sich darueber aufregen? Was solls, denkt sie dann, das Militaer interessiert mich nicht im geringsten. Sie wuerde gern die Augen zumachen und ein bisschen vor sich hindoesen, aber das waere unhoeflich, und so folgt sie weiter scheinbar interessiert seinen Ausfuehrungen.

Der Abschied ist dann eher gezwungen. Im der Klinik begibt sie sich gleich ins Bett. Bald schlaeft sie ein und vergraebt den Vorfall unter ihren Traeumen.

Erwin beschaeftigt sich noch wochenlang damit. Er ist unzufrieden. Im Rueckblick meint er, die junge Dame mit seinem Gerede gelangweilt zu haben.


Dienstag abend es klingelt. Ich fahre aus meiner gekruemmten Haltung (fast waere ich eingedoest!), schiebe mich mit dem Rollstuhl in den Flur und oeffne die Tuer. Da steht Manfred, der mich gleich zum woechentlichen Jusostammtisch bringen wird.

Ich sage ihm, dass ich noch aufs Klo muss und hangele mich herueber, waehrend Manfred in die Kueche geht und dort in der Zeitung blaettert. Durch die Wand hoere ich ihn mit sich selber reden, irgendeine Meldung, ueber die er sich wundert. Dann hoere ich nichts mehr, weil ich die Spuelung betaetige und den Hahn aufdrehe. Endlich kann ich mich wieder in den Rollstuhl fallen lassen. Manfred ist gleich bei mir, er wickelt mir eine Decke um den Rumpf und schiebt mich aus der Wohnung.

Er ist immer sehr hilfsbereit. Ich habe ein paar solcher Bekannten, auf die ich mich verlassen kann, aber leider niemanden, der mit mir zusammenleben moechte. Alle meine Kontakte sind durch die Behinderung vergiftet, nur ganz selten gelingt es mir und meiner Umgebung, diese Tatsache zu verdraengen.

Am liebsten waere es mir, wenn ich eine richtige Freundin haette. Ich sehne mich so nach weiblicher Naehe! - Obwohl ich sie sexuell nicht befriedigen koennte. Ich spuere mein Glied nicht mehr, es haengt funktionslos zwischen den Schenkeln.

Zum Beispiel Nicole, die gleich auch da sein wird. Sie ist ziemlich neu in der Jusogruppe und Krankenschwester. Das ist natuerlich eine besonders schwierige Situation, beruflich hat sie es ja staendig mit Faellen wie mir zu tun.

Aber sie gefaellt mir so gut! Neuerdings traegt sie ihr langes Haar gelockt. Wenn sie lacht, fliegt es aufgeregt hin und her. Ich schaue ihr gern auf den Hals, wie die weiche helle Haut unter ihrem Ausschnitt vreschwindet. Nicole traegt die schoensten Kleider, seidig glaenzend fallen sie an ihr herab. Und erst ihre Augen! Wie eine Katze und doch sanft.

Ich weiss nicht, ob sie einen Freund hat; im Gegensatz zu Ulla, die immer zusammen mit Guenter in die Gruppe kommt. Ich weiss nicht mal, warum sie bei uns ist, sie sagt wenig bei den politischen Diskussionen, und erst am Ende der Sitzung, sobald es in die Kneipe geht, wird sie etwas reger.

Wir brauchen nicht mit dem Auto zu fahren, der Treffpunkt liegt ganz in der Naehe meiner Wohnung. Manfred muss mich nur ueber die Strasse schieben, dann sind wir da. Wir sind die letzten, die Andern haben schon angefangen; ich muss mir angewoehnen, mich frueher fertig zu machen.

Manfred schiebt mich in eine Luecke zwischen zwei Stuehlen. Ich sitze Nicole schraeg gegenueber, und manchmal schaue ich sie an, aber nicht zu oft, ich will sie nicht irritieren.

Manfred setzt sich neben Olli, unseren Schatzmeister, das Organisationstalent. Er ist klein und gedrungen, aber ohne plump zu wirken, und hat neben Guenter die meisten Ambitionen. Mein Verhaeltnis zu ihm erschoepft sich in oberflaechlichem Geplauder, er ist mir zu farblos und hat ueberhaupt keine eigene politische Meinung.

Guenter ist der Wichtigste von uns. Er studiert, ich glaube, Soziologie oder Politik. Er ist der eloquenteste und hat eine unwahrscheinliche Praesenz, natuerliche Fuehrungsqualitaeten koennte man sagen. Er ist immer gut vorbereitet und aeussert zu fast allen Themen die richtige Ansicht. Er staerkt unser Selbstvertrauen und haelt die Beziehungen zu den lokalen SPD-Groessen.

Wie gesagt, Ulla ist seine Freundin. Obwohl sie meist strickend neben ihm sitzt, ist sie nicht dumm und auch nicht immer einer Meinung mit ihm. Als wir heute die Delegierten fuer die Landesjusokonferenz in vier Wochen bestimmen, gehoert sie mit dazu.

Und Inge. Inge ist Lehrerin an einem Gymnasium und die Aelteste in unserer Gruppe. Sie ist verheiratet, ihren Mann kenne ich aber nicht. Sie ist keine von den typischen jungen Lehrerinnen, die arbeitslos auf der Strasse stehen, sondern sehr selbstsicher, als ob sie eigenhaendig schon unendlich viele Konferenzbeschluesse herbeigefuehrt habe. Ich mag sie nicht, sie hat Mundgeruch, naechstes Mal will ich nicht neben ihr sitzen. Trotzdem waehle ich sie mit zur Delegierten, ich Schleimer.

Nicole laechelt mir aufmunternd zu. Ich blicke kurz zurueck, dann aber beiseite. Ich habe Angst, meine Gefuehle koennten sichtbar werden; es ist eine Schande.

Guenter liest aus dem Drogenpapier einer anderen Jusogruppe. Wir nicken zustimmend. Profite der Drogenmafia schmaelern. Staatliche Kontrolle des Rauschmittelkonsums bei gleichzeitiger Freigabe. Sehr richtig.

Da faehrt Manfred dazwischen. Wie koennten wir jemals glauben, eine realistische Haltung zu finden, solange wir die Substanzen nicht selbst ausprobiert haetten. Er ist unser Intellektueller. Oft gibt er ziemlich spinnerte Ansichten von sich, und meist verstehe ich nicht was er will.

Als naechstes haelt Guenter einen langen Informationsvortrag zu den Themen, die auf der Landesdelegiertenkonferenz abgehandelt werden. Er erinnert doch sehr an die beflissenen Karrieristen bei mir im Amt. Aber zugegeben, er ist nicht schlecht, er wird in jeder Lage die Uebersicht behalten.

Vor ein paar Wochen sind wir alle mit mehreren Autos zu einem Schulungskurs ins Bergischen Land gefahren. Ich habe neben Nicole auf dem Ruecksitz gesessen und mich wunderbar mit ihr unterhalten. Vorn sassen Guenter und Ulla, die Andern waren im Wagen von Olli vorausgefahren.

Vor dem Elbtunnel staute sich der Verkehr, aber danach ging es zuegig voran. Bei Kassel verliessen wir die Autobahn und kamen in eine Gegend, wo sich Fuechse und Hasen gute Nacht sagen. Ausgerechnet hier streikte der alte VW. Guenter wusste sofort: "Kolbenfresser! Wir muessen abgeschleppt werden." und machte sich mit Ulla auf den Weg, Hilfe zu holen. Vorher bauten sie noch meinen Rollstuhl zusammen, damit ich in der frischen Luft sitzen konnte.

Als die Beiden kaum eine Stunde weg waren, zog dichter kalter Nebel auf. Wir froren entsetzlich und verkrochen uns im Auto.

Wir mussten sehr lange warten. Der naechste Ort lag 30 Kilometer entfernt, fast einen Tagesmarsch.

Ich moechte nicht darueber sprechen, was in dieser Nacht zwischen Nicole und mir geschehen ist. Nur soviel: dafuer, ihr immer so nahe zu sein, wuerde ich meine beiden Arme geben. Sie sollten einmal abschaetzen, was das bei mir bedeutet.


Copyright: B. Lampe, 1999                                             zurück