HERR CHENG TRÄGT KEINE BOMMELN

 

SCHAUSPIEL

 

Personen

Die Professoren:

LEHMANN und FISCHER, Ordinarien in Berlin

TOEPFER, Assistenzprofessor in Berlin

THOMA, emeritierter Ordinarius in Berlin

BOECK, Ordinarius in Heidelberg

KORWAS, Generaldirektor des CERN

WASSERBOTTEL, amerikanischer Nobelpreistraeger

Die Nachwuchswissenschaftler:

NIEMEIER, Assistent in Heidelberg

ALTENBACH, Postdoc in Berlin, Autor des Stueckes

NEUSEL, Postdoc am CERN

HASELSTEIN, BERG, weitere Nachwuchswissenschaftler

Sonstige:

SCHMALSTIEG, Regisseur des Stueckes

Stimme HUBERs, des ehemaligen Forschungsministers

Frau BAUER, Lehmanns Sekretaerin

Der staedtische KAEMMERER

 

 

Vorbemerkungen

Das Stueck spielt im Milieu der atomphysikalischen Grundlagenforschung, in verschiedenen Instituten der Kern- und Teilchentheorie, am CERN in Genf und am Otto-Hahn-Institut in Berlin. Zeit etwa 1995.

Die Physiker tragen Muetzen mit hochstehenden dicken, gelben Bommeln. Die Zahl der Bommeln entspricht ihrem Rang. Waehrend Postdocs (Wissenschaftler ohne Festanstellung) ganz ohne Bommeln auskommen muessen, besitzen einfache Professoren ein oder zwei, Institutsleiter drei und Nobelpreistraeger ganz viele Bommeln. Bei emeritierten Professoren sind die Bommeln grau und haengen schlaff herab.

Der Regisseur Schmalstieg ist staendig auf der Buehne anwesend. Meist am Rande, aber gelegentlich auch mittendrin im Geschehen.

Die beiden Telefongespraeche koennen durch Uebertragung der Stimme des Gespraechspartners dargestellt werden, eventuell mit Videoprojektion.

Besondere Merkmale einzelner Personen: Boeck redet militaerisch-zackig. Haselstein ist aengstlich und stottert. Altenbach macht beim Sprechen haeufige, unmotivierte Pausen, so, als ob er bestaendig etwas zurueckhalte. Toepfer redet ohne Punkt und Komma.

 

Genf, im Sommer

Leere Buehne ohne Vorhang. Die Zuschauer, wenn sie ankommen, sehen den Regisseur vorn auf der Buehne sitzen Er laesst die Beine herunter baumeln. Er redet. Im Verlauf seiner Rede faengt er an, die Szene aufzubauen: ein kleines enges Kabuff mit Tisch, 2 Stuehlen, Telefon und Laptop. Das Buero eines Nachwuchswissenschaftlers. Auf der anderen Seite der Buehne liegt ein Selbstmoerder in seiner Blutlache.

 

REGISSEUR Hallo. Ich heisse Schmalstieg. Bin der Regisseur dieses Stueckes, und soll hier etwas passendes von mir geben, ein paar einleitende Worte, und so weiter. Die Schauspieler haben mich darum gebeten. Sie wollten das nicht selber uebernehmen, meinten aber, ein paar Worte seien unbedingt angebracht. Sie sind zur Zeit ziemlich demotiviert. Also nicht wegen des Toten da hinter der Wand. Lassen Sie sich von dem bitte nicht irritieren. Der wird erst spaeter wichtig. An Tote sind wir hier sowieso gewoehnt. Nein, sondern weil unser Theater demnaechst geschlossen werden soll. - Tatsaechlich, so ist es. Da staunen Sie. Noch nicht davon gehoert? Echt nicht? Dann wird es aber Zeit, dass Sie sich das Geld fuer ihr Abo zurueckholen. Hoechste Zeit. Bevor der Kaemmerer zugreift und sich aus unserer Konkursmasse bedient. - In ein paar Monaten werden die meisten hier arbeitslos sein. Nur ein Notprogramm wird aufrecht erhalten, mit mir und zwei, drei handverlesenen Schauspielern. Wenn ueberhaupt. Sie koennen sich wohl vorstellen, was im Moment bei uns abgeht. Aber die Stadt hat eben absolut kein Geld mehr, und woran bekanntlich immer zuerst gespart wird, sind Kultur und Wissenschaft. Der Kaemmerer sagt, das Theater ist ein reiner Subventionsbetrieb. Ein schwarzes Loch, wo sein Geld hinein fliesst, aber nie auch nur eine muede Mark wieder heraus kommt. Hat er, von seinem Standpunkt, wohl auch recht damit. Theater, und besonders Schauspieler, sind im Grunde ueberfluessig. Sind, im Unterschied zur Wissenschaft, ohne Naehr- und Mehrwert. Das Leben wird auch ohne Theater weiter gehen. (Altenbach laeuft auf die Buehne) Was machst du denn hier? Du bist noch laengst nicht dran.

ALTENBACH Ich spiele in unserem Stueck den Bloedmann. Hallo ihr. (winkt dem Publikum zu) Da kann ich auch unzeitig ueber die Buehne laufen.

REGISSEUR Du hast getrunken.

ALTENBACH Na und. Siehst du, jetzt nuetzen deine Drohungen nichts mehr.

REGISSEUR Wieso ueberhaupt 'Bloedmann'? Der Altenbach ist ein ehrenwerter, wenn auch etwas erfolgloser Physiker.

ALTENBACH Etwas erfolglos? Hohoho. Etwas sehr erfolglos, wuerde ich sagen; und insofern bloed.

REGISSEUR Vor allem ist er trocken. Mit Alkohol hat er, im Gegensatz zu Niemeier, noch nie Probleme gehabt.

ALTENBACH Also haette die Rolle von Niemeier viel besser zu mir gepasst. Der harmlose Altenbach mit seiner taeppischen Arglosigkeit! Seine Rolle ist voellig unergiebig und ohne jede Herausforderung.

REGISSEUR Dir reicht sie natuerlich nicht. Aber ich sage dir, da kann einer noch so genial sein ...

ALTENBACH Bevor du hier auf die Standpauke haust, gehe ich lieber. (ab)

REGISSEUR (ruft im hinterher) Genau! Verzupf dich, bis du dran bist. - (zum Publikum:) Fuer die Truppe ist das alles natuerlich eine enorme Belastung, wie Sie sich vorstellen koennen. Zum Beispiel Rathausbesetzung, Sit-in und derartiges ... wurde alles erwogen. Auch Streik. Schliesslich sind wir doch noch mal in den Ring gestiegen, um Ihnen heute abend ein kleines, feines Kammerstueck vorzufuehren. Wirklich klein. Nichts Grossartiges, wie die Umgebung, in der das Stueck spielt, vielleicht erwarten laesst. Denn wir sind hier (beschreibt mit den Haenden einen Kreis, fluestert) am CERN, dem europaeischen Kernforschungszentrum. In der theoretischen Abteilung. Ja! Bitte leise. Wir wollen die Wissenschaftler nicht stoeren. Bedeutende Forschungsvorhaben sind hier im Gange, die die Welt erschuettern. Mehr oder weniger jedenfalls. Die Physiker, besonders die CERN-Physiker, nehmen sich selbst furchtbar wichtig. Was hier aber auch fuer lebenswichtige Dinge erforscht werden! Suche nach den kleinsten Teilchen, den letzten Geheimnissen, dem tiefsten Grund. Und erst die Ahnherren dieser Forschung, Einstein, Heisenberg, und so weiter. Das hat Namen, das hat Klang. Wer solche Ahnherren hat, darf sich mit Recht fuer wichtig halten. Dabei sind die Physiker von Natur aus eher prosaische Typen, die keineswegs staendig an den tiefsten Grund oder an Einstein oder Heisenberg denken, sondern sich mit ganz praktischen Dingen beschaeftigen, mit b-Quark Produktionsraten bei 30 GeV etwa - falls Ihnen das etwas sagt - oder wie sie ihren Computer bedienen muessen, damit er moeglichst perfekt ihre neueste Arbeit ausdruckt. Selbst hier in der theoretischen Abteilung, wo wirklich die Creme de la Creme versammelt ist, denkt jeder hoechstens 3 oder 4 mal am Tag an Einstein und Heisenberg. An Sex, zum Beispiel, wird garantiert haeufiger gedacht. Auch wenn sie es nicht zugeben wuerden. Wobei Sex nicht unser Thema ist. Bestimmt nicht. Von Sex soll ab jetzt nicht mehr die Rede sein. Versprochen. Hier geht es um viel wichtigere Dinge. Da vorn ist der grosse Ringtunnel, in dem Protonen beschleunigt werden. Weiter hinten schiessen sie mit Neutrinos um sich. Und nur ein paar Bueros weiter sitzt der Nobelpreistraeger So-und-so, der den Sommer immer hier in der Schweiz verbringt, weil er die Berge liebt und es ihm in seiner Heimat zu heiss ist. Mindestens zweimal will er heuer zum Mont Blanc und einmal das Matterhorn besteigen. Da drueben irgendwo verlaeuft die franzoesische Grenze. Einige der CERN Experimente sind so gross, dass sie nach Frankreich hineingehen. Das heisst, unterirdisch. Unter der Grenze werden Tunnel gegraben, in denen die Teilchen hin und her laufen. Viele Physiker wohnen auch privat in Frankreich, weil die Mieten dort niedriger sind. Besonders die kleineren Lichter. Der jetzt hereinkommt, ist auch so ein Billigheimer.

NEUSEL Was soll das? Willst du mich schlecht machen, oder was? (setzt sich, legt die Beine auf den Schreibtisch und macht keinerlei Anstalten. Schliesslich holt er eine Zeitung vor.)

REGISSEUR Was ist? Willst du nicht anfangen?

NEUSEL Was soll ich anfangen? Den Wissenschaftler mimen? Das tue ich gerade.

REGISSEUR Du sollst tun, was im Drehbuch steht.

NEUSEL Also nichts. Bloede herumhocken und auf Niemeier warten. Da lese ich lieber Zeitung.

REGISSEUR Im Drehbuch steht, du sollst tun, als ob du arbeitest.

NEUSEL Ich arbeite. Manche Leute arbeiten, waehrend sie Zeitung lesen. Und manche tun ihr ganzes Leben, als ob sie arbeiten. Regisseure, zum Beispiel.

REGISSEUR Ich wuerde dir raten zu tun, was im Drehbuch steht, wenn dein Job dir lieb ist.

NEUSEL Hoer mal. Damit machst du mir keine Angst. Ich kann zwei und zwei zusammen zaehlen.

REGISSEUR Was kannst du zusammen zaehlen?

NEUSEL Ich weiss genau, mit wem du kluengelst. Und wen du abschiessen wirst.

REGISSEUR Ich setze mich fuer jeden meiner Schauspieler ein. Kannst du mir glauben.

NEUSEL Dass ich nicht lache.

REGISSEUR Dann tu's wenigstens fuer die Kunst.

NEUSEL Ja, die Kunst.

REGISSEUR Im Drehbuch steht, der junge Wissenschaftler Neusel arbeitet am Computer.

NEUSEL Das ist doch langweilig. Ein arbeitender Wissenschaftler ist fuer das Theaterpublikum todlangweilig.

REGISSEUR Wieso das denn?

NEUSEL Wissenschaftliches Arbeiten laesst sich rein aeusserlich von der Taetigkeit ... zum Beispiel eines Versicherungsangestellten gar nicht unterscheiden. Wobei ich hier niemanden herabsetzen will.

REGISSEUR Wie auch immer. Wissenschaftler lesen waehrend der Arbeit keine Zeitung.

NEUSEL Woher willst du das wissen?

REGISSEUR Das weiss doch jeder. Wissenschaftler interessieren sich nicht fuer banales Tagesgeschehen. Wenn ueberhaupt, schalten sie sich nur in die wirklich wichtigen Welt-Themen ein. Ich meine, wenn irgendwo ein Krieg ausbricht und mal wieder eine Protesterklaerung zu unterschreiben ist...

NEUSEL Ach komm hoer auf. (vertieft sich wieder in seine Zeitung)

REGISSEUR Ausserdem kann man, wenn Wissenschaftler diskutieren, als Publikum ganz schoen was lernen.

NEUSEL Sagst du.

REGISSEUR Du hast wohl das Drehbuch nicht gelesen.

NEUSEL Dann pfeif doch endlich Niemeier herein, damit wir mit dem Diskutieren anfangen koennen.

REGISSEUR Ich weiss auch nicht, wo er bleibt. Muesste schon laengst da sein. Wahrscheinlich hat sein Zug Verspaetung.

NIEMEIER (kommt herein, Schmalstieg tritt beiseite) Hallo.

NEUSEL (legt die Zeitung beiseite) Komm nur rein.

NIEMEIER (deutet auf die Zeitung) Was Neues?

NEUSEL Ach, nur Summs. Interessiert kein Aas. Wollte nur Schmalstieg aergern.

NIEMEIER Ich bin seit Wochen nicht mehr dazu gekommen, Zeitung zu lesen. Wenn irgendwo der 3. Weltkrieg ausbricht ...

NEUSEL Keine Sorge. Korwas wuerde uns das schon mitteilen.

REGISSEUR Halt-stop. Wer ist Korwas.

NEUSEL Wenn du das nicht weisst.

REGISSEUR Ich weiss es durchaus. Das Publikum wuerde es auch gern wissen.

NEUSEL Ach so. Korwas ist unser Generaldirektor.

REGISSEUR Du meinst, vom CERN.

NEUSEL Ja sicher. Der kennt sich mit dem Weltgeschehen aus, kann ich dir sagen. Seit wir den haben, braucht hier keiner mehr Zeitung lesen.

NIEMEIER Ich bin echt geschafft, kann ich dir sagen.

NEUSEL Was ist los, Junge.

NIEMEIER Der Umzug. Aber nicht nur.

NEUSEL So schlimm?

NIEMEIER Jedes Mal, wenn ich umziehe, habe wir mindestens 50 Prozent mehr Klamotten zu transportieren.

NEUSEL Mach's wie ich. Ich schmeisse vor jedem Umzug die Haelfte weg. Das meiste Zeug brauchst du ohnehin nicht mehr.

NIEMEIER Du hast leicht reden.

NEUSEL Wieso?

NIEMEIER Meine Frau wuerde sich ganz schoen beschweren. Bei uns wird so schnell nichts weg geworfen.

NEUSEL Jetzt hast du erst mal 5 Jahre Ruhe.

NIEMEIER Ist eben der Vorteil, wenn man an einer kleinen unbedeutenden Uni den Assistenten macht. Allerdings auch der einzige.

NEUSEL So unbedeutend ist Heidelberg gar nicht. Ich meine, seit Boeck da ist.

NIEMEIER Ja, Boeck ist ziemlich rege.

NEUSEL Er ist mindestens so oft am CERN wie du.

NIEMEIER Ich weiss.

NEUSEL Und: wie kommst du mit ihm aus?

NIEMEIER Super.

NEUSEL Habe ich nicht anders erwartet.

NIEMEIER Wieso? Was meinst du?

NEUSEL Na, dass du mit allen Leuten gut auskommst.

NIEMEIER Von dir spricht er ziemlich zurueckhaltend.

NEUSEL Denke ich mir. Er, und leider auch Fischer, moegen meine Art nicht. Ich kann's nicht aendern.

NIEMEIER Das heisst nicht, dass sie unsere Arbeit nicht respektieren. Im Gegenteil.

NEUSEL Ich weiss. Ist nicht die fachliche, sondern die menschliche Ebene. Wobei die Menschliche wichtiger ist.

NIEMEIER Dafuer kommst du bei anderen gut.

NEUSEL Wen meinst du.

NIEMEIER Korwas, zum Beispiel.

NEUSEL Okay, okay. Habe ich mich beklagt?

NIEMEIER Du hast dich noch nie beklagt. Bist gar nicht der Typ dafuer.

NEUSEL Stimmt.

NIEMEIER Ich um so mehr.

NEUSEL Tu dir keinen Zwang an. Lass es raus.

NIEMEIER Siehst du. Das schaetze ich an Dir. Du verstehst mich ohne grosses Gerede.

NEUSEL Darum sind wir Freunde.

NIEMEIER Es gibt wenig genug Freunde in unserem Geschaeft.

NEUSEL Ausser Boeck und Fischer.

NIEMEIER Recht einflussreiches Gespann, muss ich zugeben.

NEUSEL Das mir gefaehrlich werden koennte.

NIEMEIER Das dir gefaehrlich werden koennte.

NEUSEL Also, was bedrueckt dich? Der Job laeuft gut. Den Umzug hast du hinter dir. Dann kann es nur die Ehe sein.

NIEMEIER Nein, nein. Mit meiner Frau ist alles okay. Es ist ...

NEUSEL Ja?

NIEMEIER Es sind wieder die Depressionen. So stark, dass sie mich von jeder vernuenftigen Arbeit abhalten.

NEUSEL Wieder wegen deines Vaters?

NIEMEIER Ja. Die Panik, dass es mir genau wie ihm gehen koennte.

NEUSEL Du hast wieder getrunken.

NIEMEIER Nein.

NEUSEL Dann brauchst du auch keine Angst haben.

NIEMEIER Mein Vater ist nicht am Alkohol zugrunde gegangen. Er hat sich uebernommen mit seiner Schnapsfrabik. Und keinen Ausweg gesehen.

NEUSEL Aber du hast Familie, waehrend dein Vater geschieden war.

NIEMEIER Familie ist auch kein Allheilmittel. Meiner Frau kann ich mit meinen Sorgen nicht kommen. Sie ist mit Haushalt und Kindern voll ausgelastet. Weiter geht ihr Horizont nicht. Ausserdem hatte mein Vater so massive Probleme, dem haette auch eine intakte Familie nichts genuetzt.

NEUSEL Alles nur, weil er zuviel gesoffen hat. So habe ich dich immer verstanden.

NIEMEIER Meine Depressionen kommen auch ohne Alkohol. Manchmal habe ich das Gefuehl, dass sie mit unserer Arbeit zusammenhaengen.

NEUSEL Keine Sorge. So riskant wie die Schnapsfabrikation ist die Wissenschaft nicht.

NIEMEIER Ach, du bist wieder in so einer Stimmung ... Dass man nicht mit dir reden kann.

NEUSEL Nein, nein. Bitte entschuldige ... Ab jetzt keine bloeden Bemerkungen mehr!

NIEMEIER Letzte Woche habe ich es kaum noch ausgehalten. Tagelang im dunklen Zimmer gesessen und vor mich hin gebruetet. Mich einsam gefuehlt. Nirgendwo heimisch. Nicht gewusst, wie ich weiter leben soll. Selbstmordgedanken. So weit geht es inzwischen. Volle Breitseiten dunkler Stimmungen, die in immer neuen Wellen gnadenlos ueber mir zusammenschlagen. Andere koennen das nicht nachempfinden. Nur der Depressive selbst weiss, was das bedeutet. Man liegt da und wird von dieser vollen Ladung Verzweiflung getroffen. Etwas ganz Schwarzes macht sich, von den Augenwinkeln aus, in deinem Gesichtsfeld breit. Verschlingt dich. Unausweichlich.

NEUSEL (Pause) Es tut mir leid. (Sie umarmen sich)

NIEMEIER Zum Teil haengt es echt mit der Arbeit zusammen. Wenn ich ein, zwei Tage am Schreibtisch gesessen habe ...

NEUSEL Das ist genau der Fehler. Arbeit am Schreibtisch, sage ich immer, nur minimal. Viel wichtiger ist, zu den Leuten raus zu gehen, zu diskutieren.

NIEMEIER Das weiss ich doch. Aber manchmal muss es sein ... und jedenfalls, wenn ich laenger am Schreibtisch gesessen habe, kommen die Aengste hoch.

NEUSEL Was fuer Aengste hast du konkret.

NIEMEIER Dass ich irgendwann arbeitslos werde.

NEUSEL Warum sollte das passieren?

NIEMEIER Na hoer mal. Wir, mit unseren befristeten Vertraegen ...

NEUSEL Bei jedem anderen ...

NIEMEIER ...und den wenigen permanenten Jobs. Ueberall Stellenstop, Haushaltssperren. Bei uns im Laendle bewegt sich gar nichts mehr. Irgendwas muss passiert sein.

NEUSEL Eure Landesbank hat 10 Milliarden in den Sand gesetzt. Hast du das nicht gewusst?

NIEMEIER Nein.

NEUSEL Mit Flugzeugen spekuliert, die keiner haben will.

NIEMEIER Wenn ich deprimiert bin, hoere ich keine Nachrichten.

NEUSEL Baden-Wuerttemberg steht angeblich kurz vor der Pleite. Jeder, der keine Beamtenstelle hat, muss zittern.

NIEMEIER Da hast du’s.

NEUSEL Bei dir sehe ich trotzdem kein Problem. Du bist doch nach aussen der totale Strahlemann, bei allen beliebt ... Du wirst garantiert bald einen festen Vertrag bekommen. Es muss ja nicht Baden-Wuerttemberg sein. Oder bist du auf Heidelberg fixiert.

NIEMEIER Gewiss nicht.

NEUSEL Also. Ich sage nur: Reuter. Wie du den neulich in Berlin um den Finger gewickelt hast. Er wird dir auf immer gewogen sein.

NIEMEIER Wie kommst du darauf?

NEUSEL Sowas vergisst man nicht. Wie du ihn gebauchpinselt hast! Ich habe dich beobachtet. Bist devot auf ihn zugegangen. Fehlte nur noch der Bueckling. Hast ihn in ein Gespraech ueber seine Arbeit verwickelt und dabei mit Floskeln wie "deine bahnbrechenden Beitraege" und "dein haeufig zitierter Artikel" vollgeschuettet, in dem gedaempften, warmherzigen Tonfall, in dem du dich immer an die Professoren heranmachst. Sie einlullst. Gut, zum Ausgleich hat er dich dann mit seiner Masche abgefuettert. Ich meine, die Stirn in bedaechtige Denkerfalten legen, und dann langsam und wohlueberlegt die Worte heraus pressen, so dass alles, was man sagt, klingt, als sei es von allergroesster wissenschaftlicher Bedeutung. Die Masche eben, mit der er vor Jahren in Berlin angekommen ist und bestimmt noch weiter aufsteigen wird. Du hast ihn ruhig ausreden lassen, hast ihn die ganze Zeit angehimmelt und bist dann zum Kern vorgestossen. Ich, hast du gesagt, organisiere dies Jahr das Heidelberger Kolloquium. Er muesse unbedingt kommen. Zum Vortrag. Herzlichst eingeladen sei er. Der ganze Fachbereich werde von seinen bedeutsamen Forschungen ungemein profitieren. Herrlich! Ich habe alles genau mitgekriegt. Aber klar, bei Kolloquiumsgaesten lassen sie sich nicht lumpen. Du kannst das grosse Programm starten. Freiflug, Abholen durch die Fahrbereitschaft, alle moeglichen Annehmlichkeiten. Ich kann mir auch genau vorstellen, wie es weitergegangen ist, als er da war. Du hast ihn als groessten lebenden Matador fuer Vielteilchen-Effekte vorgestellt, und warst dir dabei fuer plumpes Lob nicht zu schade. Waehrend des Vortrages hast du geschickt kritische Fragen unterbunden und mehrfach Bemerkungen eingestreut, die die Bedeutung seiner Arbeiten hervor hoben. Und abschliessend Besichtigungstour mit den Institutsleitern, so dass er in dem Bewusstsein zurueck geflogen ist, fuer wie wichtig man ihn in Heidelberg haelt. - Und jetzt, ich habe ihn neulich mal erlebt, lobt er dich seinerseits ueber den gruenen Klee.

NIEMEIER Eine Hand waescht die andere.

NEUSEL Er kriegt sich kaum noch ein, wenn von dir die Rede ist.

NIEMEIER Stell ihn nicht so unbedarft dar. Er ist ziemlich auf Zack.

NEUSEL Um so besser. Er wird sich fuer dich einsetzen, falls in Berlin eine Stelle frei wird.

NIEMEIER Stoert dich das?

NEUSEL Natuerlich nicht.

NIEMEIER Warum trittst du es dann so breit?

NEUSEL Ich wollte dir nur klarmachen, du bist der letzte, der sich Sorgen machen muss. Du hast es total drauf. Du weisst, wie man sich Freunde macht. Eines Tages wird sich das auszahlen.

NIEMEIER Objektiv hast du vielleicht recht.

NEUSEL Aber?

NIEMEIER Meine Aengste haben sich verselbststaendigt. Das ist eben, was du als psychisch Gesunder nicht nachvollziehen kannst.

NEUSEL Du solltest versuchen, die Dinge nicht so an dich heran kommen zu lassen. Verdraengung, wenn du verstehst, was ich meine.

NIEMEIER Versuche ich ja, und manchmal gelingt mir das auch. Besonders wenn ich in Gedanken an Methode X abschweife.

NEUSEL Hoer auf!

NIEMEIER Aber manchmal auch nicht.

NEUSEL Da ist dann eine Dienstreise die beste Ablenkung.

NIEMEIER Was glaubst du, warum ich hier bin?

NEUSEL Hier bist du immer willkommen.

NIEMEIER Auch wenn ich nichts vorweisen kann? Ich habe rein gar nichts geschafft von dem, was wir uns vorgenommen hatten.

NEUSEL Auch dann. - Hoer mal, wir machen uns eine schoene Zeit. Bergwandern, abends essen gehen und so weiter. Und wenn du dich wieder fit fuehlst, fangen wir zu arbeiten an. Ich habe einiges, was ich dir zeigen moechte. Zum Teil recht interessant.

NEUSEL Warum zeigst du es mir nicht gleich. Fuer interessante Sachen mit Perspektive bin ich immer in Form.

NEUSEL Nichts dagegen. (fischt nach seinen Akten) Schau. Wir wollten den Omega-Querschnitt.

NIEMEIER Ja, der Omega-Querschnitt. Das waere etwas.

NEUSEL Ich habe ihn im Smirnov-Modell ausgerechnet.

NIEMEIER (denkt nach) Ist das Smirnov-Modell hier ueberhaupt anwendbar?

NEUSEL Es ist viel zu naiv, ich weiss. Aber wie willst du es sonst machen.

NIEMEIER Stoerungstheorie.

NEUSEL Ja sicher. Aber das ist hoffnungslos. Es hat mich im Smirnov-Modell schon 3 Tage gekostet. Das aeusserste, was ich in eine Rechnung zu investieren bereit bin.

NIEMEIER Ich weiss nicht ...

NEUSEL Was weisst du nicht?

NIEMEIER Ich weiss nicht, ob sich das so toll machen wird. Smirnov-Modell ...

NEUSEL He, brauchst du Publikationen, oder was?

NIEMEIER Natuerlich. Sollte keine Kritik sein. Zeig mal her, das Ergebnis.

NEUSEL Wir muessen eben sagen: Smirnov-Modell. Also nur unter den und den Bedingungen anwendbar.

NIEMEIER Jetzt zeig einfach mal. (beugt sich zu ihm)

NEUSEL Schau. Ich habe die bekannte Formel aus dem Smirnov-Modell hier eingesetzt.

NIEMEIER Und wie bist du von hier nach hier gekommen?

NEUSEL Dirac-Transformation. (zeigt ihm die Rueckseite) Hier.

NIEMEIER Verstehe.

NEUSEL Und hier das Ergebnis.

NIEMEIER Sagt mir nicht viel. Hast du es numerisch ausgewertet?

NEUSEL Ja warte. Ich zeige dir die Kurve auf dem Bildschirm. (Der Bildschirm mit einer flachen Geradengrafik wird an die Wand projiziert.)

NIEMEIER Nicht gerade sensationell. Ziemlich flach das Ding.

NEUSEL Was hast du denn erwartet?

NIEMEIER Es ist genau, was ich erwartet habe. Aber das ist ja das Problem, dass da nichts Interessantes, nichts Ueberraschendes heraus kommt, sondern etwas, was jeder erwarten wuerde, der sich ein bisschen auskennt.

NEUSEL Was meinst du mit ueberraschend? Was stellst du dir vor?

NIEMEIER Naja, irgendetwas Unerwartetes, Sensationelles. Eine Kurve mit paar Bumps und Kicks. Wo die Leute was zu reden haben.

NEUSEL Wir koennten den Parameterbereich vergroessern. Dann bekommt sie automatisch staerkere Schwankungen.

NIEMEIER Davon halte ich nichts. Kuenstliches Aufblasen, das macht doch jeder heutzutage. Ich hoere schon das Gemecker. Und einen Bump kriegst du damit noch lange nicht rein.

NEUSEL Dann weiss ich nicht, was du willst.

NIEMEIER Ausserdem ist es nicht mehr als ein Zwischenergebnis. So ein Zwischenergebnis interessiert die Leute normalerweise wenig.

NEUSEL Und was interessiert deiner Meinung nach die Leute?

NIEMEIER Auf jeden Fall muss es was groesseres sein.

NEUSEL Sag halt.

NIEMEIER Ist doch im Grunde klar, was man benoetigt: den kompletten Querschnitt.

NEUSEL Omega und Zeta zusammen?

NIEMEIER Inklusive aller Nebeneffekte. Erst dann kann man Theorie und Experiment wirklich vergleichen.

NEUSEL Wie willst du das machen? Das geht nur mit Stoerungstheorie.

NIEMEIER Genau.

NEUSEL Dann viel Spass. Dafuer brauchst du mindestens 5 Mannjahre.

NIEMEIER Kann sein.

NEUSEL Dich moechte ich sehen. Wo du schon Schwierigkeiten hast, ein paar Stunden am Schreibtisch zu sitzen, und gleich Depressionen kriegst.

NIEMEIER Gerade ich muesste mal wieder etwas vorweisen koennen. Nachdem ich monatelang zu nichts gekommen bin.

NEUSEL Ich habe nicht vor, mir daran die Finger zu verbrennen. Kein Mensch hat heutzutage Zeit fuer so lange Rechnungen. Wissenschaftliches Harakiri waere das.

NIEMEIER Du meinst, wie Boeck, der vor Jahren getoent hat, er werde Confinement beweisen. Ein Riesenprogramm angekuendigt ...

NEUSEL Hat es dann aber lieber bleiben lassen.

NIEMEIER Oder Altenbach. Weisst du noch?

NEUSEL Der jahrelang den Tripol-Formfaktor berechnet hat.

NIEMEIER Jedes Jahr ist er ein Tickchen vorwaerts gekommen.

NEUSEL War stolz wie Oskar.

NIEMEIER Und wenn er dann vortrug, hat er sich gewundert, weil alle gegaehnt haben.

NEUSEL Wenn ueberhaupt einer hingegangen ist.

NIEMEIER Und als er fertig war, interessierte sich keine Schwanz mehr fuer den Tripol-Formfaktor.

NEUSEL Komplett aus der Mode, das Ding.

NIEMEIER Jetzt ist er Ende dreissig und tritt immer noch auf der Stelle.

NEUSEL Uns geht es auch nicht viel besser.

NIEMEIER Bisschen cleverer sind wir schon.

NEUSEL Hilft uns wenig. Auch Clevere gibt es mehr als genug. Wie du schon sagst: Was wir brauchen, ist irgend ein Hammer.

NIEMEIER Der die Leute vom Sofa reisst.

NEUSEL Aber nichts in Sicht.

NIEMEIER Ausser Omega-Zeta.

NEUSEL Zu aufwendig, und ausserdem zu theoretisch. Ein immenser Aufwand fuer Messungen, die fruehestens in 20 Jahren gemacht werden.

NIEMEIER Aber er interessiert die Leute. Interessiert sie maechtig. Omega-Zeta ist das Topic bei der letzten APS-Tagung in Seattle gewesen. Hat richtig Sex-Appeal, das Thema. Wenn du 'Omega-Zeta' sagst, kannst du davon ausgehen, dass 90 Prozent der Leute hinhoeren. Und einen Orgasmus kriegen. Jedenfalls im Moment.

NEUSEL Hast recht. Bei anderen Themen gaehnen sie nur. Siehe unsere Instanton-Arbeiten. Letztes Jahr noch gross in Mode. Heute redet keiner mehr davon.

NIEMEIER Vielleicht sollten wir Methode X anwenden.

NEUSEL Nicht schon wieder. Bitte nicht.

NIEMEIER Hat doch immer tadellos funktioniert.

NEUSEL Ich moechte es einfach nicht. Habe mir neulich fest vorgenommen, es nicht mehr zu machen.

NIEMEIER Schlechtes Gewissen, eh?

NEUSEL Wenn du so willst. Aber auch Angst, erwischt zu werden.

NIEMEIER Wie soll das moeglich sein?

NEUSEL Durch einfaches Nachrechnen.

NIEMEIER Du hast selbst gesagt: solche Rechnungen macht keiner.

NEUSEL Keiner, der bei Verstande ist. Bloedkoeppe gibt es ueberall.

NIEMEIER Nicht unter Wissenschaftlern. Die wissen, wo die Glocken haengen.

NEUSEL Und Altenbach?

NIEMEIER Selbst fuer den ist die Rechnung eine Nummer zu gross.

NEUSEL Ich dachte, du wolltest Methode X in Zukunft sparsamer verwenden.

NIEMEIER Wieso?

NEUSEL Um nicht an zu vielen Flanken verwundbar zu sein.

NIEMEIER Wir sind nicht verwundbar.

NEUSEL (Pause) Und wer wird uns glauben, dass wir so schnell sind?

NIEMEIER Alle. Wir sind, nicht zuletzt dank Methode X, in diesem Bereich bereits anerkannte Experten. Mann, sind die gut, wird jeder denken. Und schnell. Unheimlich schnell.

NEUSEL Nicht bei 5 Mannjahren.

NIEMEIER Okay, du hast recht. Wir muessen aufpassen. Das Projekt gut vorbereiten. Wir haben eben schon monatelang daran gearbeitet. Im Stillen, verstehst du? Und wir brauchen dann eine Ankuendigung, dass wir bald soweit sind. Am besten, naechsten Monat auf der Konferenz in LA. Wir sagen noch gar nichts, ausser, dass wir dran sind. Und dann.

NEUSEL Und dann?

NIEMEIER Im Herbst.

NEUSEL Im Herbst?

NIEMEIER In Paris.

NEUSEL Du willst es in Paris hinausposaunen?

NIEMEIER Etwas derart wichtiges.

NEUSEL Das Resultat koennte langweilig sein. Uninteressant.

NIEMEIER Warum sollte es? Da wir es selbst in der Hand haben. Schau her (faehrt mit ein paar Strichen ueber das Papier) So koennte, so muesste es aussehen. Das ist nicht voellig unwahrscheinlich, aber doch hochinteressant. Denn dieses Maximum hier hat Implikationen. Bedeutende Implikationen.

NEUSEL Ich will nicht.

NIEMEIER Ueberlege es dir.

NEUSEL Ich will nicht.

NIEMEIER Ich sehe doch, wie es dich juckt, dieses Maximum und seine Implikationen.

REGISSEUR (raeuspert sich) Ich weiss nicht, ob ich Euch richtig verstanden habe. Aber wenn es das ist, was ich denke, wuerde ich euch dringend raten, davon Abstand zu nehmen.

NEUSEL Auf deine guten Ratschlaege koennen wir, ehrlich gesagt, verzichten. Wie ihr unser Theater verraten und verkauft habt.

NIEMEIER Manchmal muss man eben unorthodoxe Wege gehen, um zum Erfolg zu kommen. Muesstest du doch verstehen.

REGISSEUR Das nimmt kein gutes Ende, sage ich euch.

NIEMEIER Im Gegenteil. Nur so nimmt es ein gutes Ende. Die Konkurrenz ist zu gross. Wer sich bloed und brav in die Schlange stellt, hat keine Chance.

REGISSEUR Konkurrenz ist doch keine Entschuldigung. Schauspieler, zum Beispiel, haben es genauso schwer.

NIEMEIER Meinst du, Schauspieler wenden solche Kniffe nicht an? Die haben noch ganz andere Tricks drauf. Voegeln mit Vorgesetzten, und so weiter. Was meines Wissens bei Wissenschaftlern eher selten vorkommt. (Es klopft. Lehmann tritt ein. Haelt ein Papier in der Hand.)

LEHMANN Hallo, meine Herren. Ich hoffe, ich stoere Sie nicht bei.

NIEMEIER (steht auf) Keineswegs.

NEUSEL Nur herein.

LEHMANN Bleiben Sie ruhig sitzen.

NEUSEL Schoen, Sie mal wieder zu sehen.

LEHMANN Ich bin die ganze Woche hier. Sitzung des wissenschaftlichen Beirats. Da moechte ich die Zeit nutzen und Sie mit ein paar Problemen belaestigen.

NEUSEL Um was geht es?

LEHMANN Ich habe ihre Arbeit vom letzten Jahr gelesen. Ueber Instantonen. Und haette ein paar Fragen.

NEUSEL Nur zu.

LEHMANN Ihre Arbeit ist wirklich interessant, muss ich schon sagen. Insofern passt es ausgezeichnet, dass ich Sie beide hier antreffe. Ich frage mich naemlich, ob man nicht mehr daraus machen koennte?

NEUSEL Mehr daraus machen?

LEHMANN Bezueglich moeglicher Anwendungen.

NEUSEL Anwendungen welcher Art?

LEHMANN Astrophysikalische Anwendungen.

NEUSEL Gut moeglich.

LEHMANN (rueckt seine Muetze mit den 3 dicken gelben Bommeln zurecht) Ich habe da ein paar Ideen. Wir in Berlin beschaeftigen uns intensiv mit der Temperaturverteilung in Galaxien. Das ist natuerlich kein so fundamentales, anspruchsvolles Thema wie die Instantonen selbst ...

REGISSEUR Nicht so schleimig, bitte. Ein bisschen mehr den Boss heraus kehren.

LEHMANN Ich soll doch erkennen lassen, dass ich von den beiden viel halte. Dass ich besonders Neusel sehr zugetan bin.

REGISSEUR Trotzdem bist du ihnen weit ueber. Du hast eine permanente Stelle, sie nicht. Mehr noch: du hast 3 Bommeln, die dich als Direktor eines Universitaetsinstitutes ausweisen, und Neusel gar keinen. (zum Publikum:) Ihr seht es. Alle Physiker tragen Muetzen. Mit oder ohne Bommeln. Die Zahl der Bommeln entspricht ihrem Rang. Ihrem Platz in der Hierarchie. In der Hackordnung. Gar kein Bommel heisst keine permanente Stelle. Ein Mann, der gar keinen Bommel hat, ist bedeutungslos. Er existiert praktisch nicht. 1 oder 2 Bommeln, das ist nicht viel, das sind untergeordnete Professoren, aber 3 Bommeln, wie Lehmann, das heisst schon etwas. Ein Mann mit 3 Bommeln kann sich sehen lassen. Ist Chef.

LEHMANN Neusel soll demnaechst am CERN eine permanente Stelle bekommen. Am CERN!

REGISSEUR Wer sagt das?

LEHMANN Andeutungen von Korwas.

REGISSEUR Ja und?

LEHMANN In dem Fall ist er mit mir fast auf Augenhoehe.

REGISSEUR Papperlapapp. Im Moment ist das nur ein Geruecht. Im Moment ist er ein ganz gewoehnlicher Post-Doc, der sich freuen muss, von dir ueberhaupt angesprochen zu werden. Wenn du damit Schwierigkeiten hast, stell dir einfach vor, du bist unser Intendant und er ein weithin unbekannter, schlecht bezahlter Schauspieler von ausserhalb, der dir von seinen bisherigen Engagements und seinen Zukunftsplaenen erzaehlt, und die ganze Zeit nimmst du im Weiss seiner Augen wahr, wie gern er von dir einen Vertrag bekommen wuerde.

LEHMANN Dann allerdings (wendet sich Neusel zu) ... Also, Auskunft bitte. Und schnell. Ich habe hier am Rand ein paar Notizen, die ihr euch mal ansehen sollt, und pruefen, ob ihr damit etwas anfangen koennt. (gibt Niemeier den Zettel)

ALTENBACH (kommt rein, begruesst Lehmann unterwuerfig) Ich wollte nur fragen, fuer wen soll ich Pizza bestellen?

NEUSEL Ich wuerde lieber nachher in die Kantine geben.

ALTENBACH Heute ist Freitag. Die Kantine hat zu.

NEUSEL Ach ja.

ALTENBACH Also, wer will Pizza? (alle ausser Lehmann bestellen eine)

LEHMANN (zeigt auf seine Uhr) Leider. Meine Sitzung faengt gleich an. Wenn ich morgen frueh wieder kommen koennte.

NEUSEL Kein Problem. Ab 8 bin ich da.

LEHMANN Also dann. (ab)

ALTENBACH Ich sage Bescheid, wenn sie da ist. (ab)

REGISSEUR Das war doch Altenbach, ueber den ihr vorhin gelacht habt.

NIEMEIER Gelacht ist uebertrieben. Auf einer bestimmten Ebene muss man ihn durchaus ernst nehmen.

NEUSEL Er ist einer von denen, die sich freiwillig ans Ende der Schlange stellen. Aber so funktioniert Wissenschaft nicht. In der Wissenschaft ueberleben nur die schnellsten und besten.

NIEMEIER (vertieft sich in den Zettel von Lehmann) Der will es aber ganz genau wissen.

NEUSEL Siehst du, er koennte uns gefaehrlich werden.

NIEMEIER Wieso.

NEUSEL Wenn er selber anfaengt zu rechnen.

NIEMEIER Seit wann rechnen Institutsdirektoren?

NEUSEL Oder einen Studenten darauf ansetzt.

NIEMEIER Ach komm. Lehmann mit seinen Pi-mal-Daumen Abschaetzungen. Dem fehlt doch das Know-How dafuer. Du hast doch gehoert, er will unser Ergebnis einfach uebernehmen und in seine Formeln einsetzen.

NEUSEL Da wird automatisch etwas interessantes herauskommen.

NIEMEIER Du meinst, weil unser Ergebnis interessant war.

NEUSEL Unerwartet und nicht vorher gesehen.

NIEMEIER Methode X eben.

NEUSEL Hoer bloss auf.

NIEMEIER Also, wenn dich dieser Besuch nicht ueberzeugt hat, was dann. Wir haben doch von allen Postdocs eindeutig das beste Standing. Die beste Performance.

NEUSEL Zumindest bei ihm.

NIEMEIER Wegen unserer sensationellen Arbeiten.

NEUSEL Dank Methode X.

REGISSEUR Was mich wundert: Warum sie euch nicht auf die Schliche kommen?

NIEMEIER Weil viele Rechnungen wahnsinnig kompliziert sind und nicht ohne weiteres nachvollzogen werden koennen.

NEUSEL Weil praktisch jeder was anderes macht; die meisten arbeiten auf ihrem Spezialgebiet still vor sich hin, und denken gar nicht daran, anderer Leute Ergebnisse nachzurechnen. Mit Nachrechnen ist kein Blumentopf zu gewinnen.

REGISSEUR Und wenn doch mal?

NIEMEIER Dann haben wir uns eben verrechnet. Kann ja mal vorkommen. (steht auf, reckt sich, geht zum Fenster, um hinaus zu sehen, stolpert dabei ueber ein Kabel, stuerzt) Scheisskabel.

NEUSEL Es liegt wohl eher an den Schuhen, wuerde ich sagen.

NIEMEIER Was du immer mit meinen Schuhen hast.

NEUSEL Mit so hohen Sohlen wuerde ich auch stolpern.

NIEMEIER Ich bin zu klein.

NEUSEL Das stoert doch keinen.

NIEMEIER Mich stoert es. Ich fuehle mich euch grossen Menschen unterlegen.

NEUSEL Die Schuhe geben dir ein Gefuehl von Groesse?

NIEMEIER Ja.

NEUSEL Nicht nur im koerperlichen Sinne?

NIEMEIER Nicht nur im koerperlichen Sinne.

NEUSEL Dann darfst du dich nicht wundern, wenn du stolperst.

NIEMEIER Aber darum geht es doch bei uns, um mentale Groesse. Gar nicht mal um Intelligenz. Jeder moechte beruehmt werden, oder wenigstens bekannt. Ins Gespraech kommen. Und dafuer bedarf es mentaler Groesse.

NEUSEL Und Durchsetzungsvermoegen.

NIEMEIER Das hast du. Und Einfuehlungsvermoegen. Soft Skills.

NEUSEL Die hast du.

NIEMEIER Wir sind das ideale Tandem. Ich wusste doch, du und das CERN, ihr holt mich aus meinem Tief heraus. Das heisst, das Kabel haette ich jetzt nicht unbedingt gebraucht.

NEUSEL Ich weiss auch nicht, warum sie es quer durch den Raum legen. Wahrscheinlich um die Tuer freizuhalten. Dabei benutzt die gar keiner.

NIEMEIER Was ist denn hinter der Tuer?

NEUSEL Da sitzt der Lothar.

NIEMEIER Tatsaechlich? Wunderbar. Da kann ich ihm gleich Hallo sagen. (oeffnet die Tuer, sieht den Toten in der Blutlache, bleibt starr vor Schreck stehen) Lothar? Lothar!

NEUSEL Was ist? (kommt heran, sieht den Toten) Ach du gruene Neune, der Lothar. Was ist mit dem passiert?

NIEMEIER Sieht nicht gerade appetitlich aus.

NEUSEL (geht zum Telefon) Hallo. Den CERN Notruf, bitte. - Kommen Sie schnell. Raum 338. Ein Selbstmord.

NIEMEIER (will Lothar untersuchen, laesst es aber) Definitiv hinueber.

NEUSEL Pass auf, dass du nicht in das Blut trittst.

NIEMEIER (macht angewidert die Tuer zu) Nicht zu fassen.

NEUSEL Allmaehlich nimmt das ueberhand. Neulich der ..., wie hiess er noch?

NIEMEIER Ich weiss, wen du meinst. In Hamburg und Berlin gab es auch zwei Faelle ... und jetzt der Lothar. Wird wieder ein Futter fuer meine Stimmungen.

NEUSEL Kein Grund zur Verzweiflung. Du musst das positiv sehen. Es erleichtert den Bewerberdruck.

NIEMEIER Stimmt aber auch bedenklich.

NEUSEL Oft ist es gerade das Bedenkliche, das uns erleichtert.

NIEMEIER Wieso bist du dir uebrigens sicher, dass er sich umgebracht hat.

NEUSEL Wir waren in letzter Zeit oft zusammen in der Kantine. Er hat es, durch die Blume, sage ich mal, durchklingen lassen.

NIEMEIER Und warum hast du nichts dagegen unternommen.

NEUSEL Man hat es nur unterschwellig herausgehoert.

NIEMEIER Aber wenn du schon stutzig geworden bist ...

NEUSEL Mensch, ich kannte ihn doch nur oberflaechlich. Ich dachte, das gibt sich wieder, und, er hat bestimmt Freunde, die ihm besser helfen koennen. Aber anscheinend ...

NIEMEIER Anscheinend hatte er keine Freunde.

NEUSEL Anscheinend nicht.

NIEMEIER Man haette ihn zum Arzt schicken muessen.

NEUSEL Wenn wir die ganzen Psychopathen, die hier herum laufen, melden wuerden, waeren die Kliniken aber voll.

NIEMEIER Laesst dich das wirklich so kalt?

NEUSEL Natuerlich nicht. Aber was erwartest du? Was soll ich tun?

NIEMEIER Der arme Lothar.

NEUSEL Er war nicht arm. Im Gegenteil, er ist, soviel ich weiss, ein reicher Erbe gewesen. Er war auch nicht krank, sondern kerngesund, ein Basketball-Crack. Er ist nicht verhungert und an keinem Mangel zugrunde gegangen, jedenfalls an keinem gewoehnlichen, sondern an einem sehr vermittelten Mangel, einem Mangel an Anerkennung, und an verletzter Eitelkeit, weil ihm die Anerkennung, die er, als Sohn eines reichen Mannes, voraussetzte, nicht zuteil wurde.

(Das Notfallteam kommt)

 

 

Genf, ein halbes Jahr spaeter

In der Vorhalle des CERN-Auditoriums. Links sind Kaffee- und Teetassen aufgebaut, rechts der Eingang zum Auditorium, nach hinten die Garderobe. Die Bueste Heisenbergs haengt wie ein Geweih an der Wand.

 

REGISSEUR Gleich wird's hier voller. Rappelvoll. Kommt richtig Leben in die staubtrockene Bude. Bisher, das war alles nur Vorgeplaenkel. Wissenschaftler, wenn sie zu zweit sind, koennen zwar ganz produktiv arbeiten. Um aber richtig Breitenwirkung zu entfalten, brauchen sie ein Forum. Seminare, Konferenzen, Tagungen etc, auf denen sie ihre Ideen ausbreiten und jeder dem anderen erzaehlt, was er die letzten paar Wochen gemacht hat. An welchen geistigen Schrauben, oder Schraeublein, sollte man besser sagen, er gedreht hat, und was dabei herausgekommen ist. Hat auch meist ein paar tolle bunte Kurven in der Tasche, mit denen er mutig hausieren geht. Wobei es auf die Qualitaet des Vortrages gar nicht so ankommt. Entscheidend ist, kritische Punkte geschickt zu umschiffen. Keinem der Leithengste, die das Thema besetzt halten, auf den Schlips treten, sondern, im Gegenteil, sich irgendwo ins Grosseganze hinein zu subsumieren, wenn ich das mal so sagen darf. Und nicht vergessen, die Leithengste zu loben. Wissenschaftler sind ja keine Systemkritiker. Sind zwar innovativ und durchaus einfallsreich. Jedenfalls innerhalb ihres beschraenkten Horizontes. Aber Systemkritiker sind sie nicht. Auf keinen Fall. (Niemeier kommt herein) Solche Veranstaltungen sind fuer den Nachwuchswissenschaftler der einfachste Weg, sich bekannt zu machen und einen Gesamteindruck zu hinterlassen, das heisst, waehrend des Mittagessens, bei Diskussionen und vor allem in den Tee- und Kaffeepausen. Er befindet sich permanent in einer virtuellen Bewerbungssituation, und zwar gegenueber allen anwesenden Professoren und Chefwissenschaftlern, weil es reiner Zufall ist, an welchem Institut mal ein Poestchen frei wird, und muss sich also moeglichst mit allen Liebkind machen, weil sich jede Aufmuepfigkeit, jeder falsche Ton, den er anschlaegt, unter den Chef-wissenschaftlern und Leithengsten schnell herum spricht. Chefwissenschaftler sind eine aeusserst empfindsame Spezies, das kann Ihnen Niemeier bestaetigen, die man sehr schonend behandeln sollte. Gut, man kann schon mal eine eigene Meinung aeussern. Eigene Meinungen sind durchaus erwuenscht. Aber nur in Massen, bitteschoen. Moderat. Nur im Rahmen dessen, was ein Chefwissenschaftler innerlich als eigene Meinung anerkennt. Nicht alle kennen diese Geheimnisse des Umgangs mit Chefwissenschaftlern. Sie benehmen sich steif, aengstlich, hektisch, oder gar aggressiv, eigensinnig oder sonstwie unerquicklich, verziehen im falschen Moment ihre Schnute oder machen unpassende Bemerkungen, beharren auf falschen, dem Chefwissenschaftler laestigen Ansichten oder sind einfach als Typ unsympathisch. Vom Aeusseren her. Die sind dann meist schnell weg vom Fenster. Nur eine Minderheit, die die Geheimnisse im Umgang mit Chef-wissenschaftlern aus dem Effeff beherrscht, die sie sozusagen bereits mit der Muttermilch aufgesogen hat, setzt sich in diesem brutalen Wettbewerb durch. Der am Ende nur die Faehigsten der Faehigen uebrig laesst. Und diese wenigen, die haben natuerlich Glueck. Das grosse Los gezogen. Ich meine, sobald sie es geschafft haben und selber oben sitzen. Dickes Gehalt, sicherer Job, und auch sonst alle Annehmlichkeiten des oeffentlichen Dienstes. Koennen forschen, was Laune macht. Werden von ihren Studenten hoffiert und bewundert. Die anderen kucken in die Roehre. Das ist wie im Theater. Die Intendanten und ein paar Stars werden hoffiert. Denen kann nicht viel passieren. Aber die anderen. Die muessen sehen, wo sie bleiben.

NIEMEIER Halt hier keine Vortrage, Mann. Komm zur Sache.

REGISSEUR Kannst du mich nicht ausreden lassen? Neulich ging es dir dreckig und Neusel musste dich troesten. Jetzt scheinst du richtig Oberwasser zu haben.

NIEMEIER Halt den Mund. Du sollst hier Fakten bringen und keine tiefschuerfenden Psycholysen absondern.

REGISSEUR Schon gut, schon gut. Ich kenne meine Aufgabe. Also, ich war beim Thema Vortraege und Tagungen. Am CERN, ist klar, als europaeischem Zentrum, finden besonders viele Tagungen statt. Wir sind jetzt hier im Flur vor dem Hoersaal, in dem momentan alle dem Vortrag eines ihrer Gurus lauschen. Ja, der Nobelpreistraeger. Wie heisst er noch?

NIEMEIER Meinst du Wasserbottel?

REGISSEUR Ja genau. Wasserbottel. Aber sag mal, warum bist du nicht im Vortrag?

NIEMEIER Weil ich gerade erst angekommen bin. Oder glaubst du, ich wuerde mir sonst Wasserbottels Vortrag entgehen lassen?

REGISSEUR Wenn du mich so fragst ... ja, glaube ich.

NIEMEIER Bingo. Aber jetzt lass mich in Ruhe. Wo ist hier die Garderobe.

REGISSEUR Da hinten. Siehst du sie?

NIEMEIER Ja, danke.

REGISSEUR (zum Publikum) ... und hier im Flur, Sie sehen es, steht schon der Tee bereit; und paar Kekse. Die Kekse hat der Generaldirektor hoechstpersoenlich da hin gestellt.

NIEMEIER (von der Garderobe zurueckkommend) Das mindeste, was er tun konnte, nachdem er von dem Thema keine Ahnung hat.

REGISSEUR Woher weisst du, dass er keine Ahnung hat. Du kennst ihn doch kaum.

NIEMEIER Institutsleiter haben generell keine Ahnung. Aber das bleibt unter uns, bitte. (Der Vortrag ist zu Ende. Wissenschaftler kommen aus dem Hoersaal in die Vorhalle.)

REGISSEUR Da kommt er ja. Hoffentlich hat er nichts gehoert.

NIEMEIER Ich glaube nicht. Er ist viel zu sehr mit sich selbst beschaeftigt.

REGISSEUR Hat sich an Wasserbottel herangeschmissen. Legt sich maechtig ins Zeug, der Junge. Bei einem Nobelpreistraeger kriegt auch ein Institutsleiter das Gefuehl, dass er nur eine ganz kleine Nummer ist und faengt wieder an zu schleimen wie in seiner Jugend.

KORWAS (eifrig zu Wasserbottel) Eines habe ich bei deinem Vortrag nicht verstanden. Und zwar behauptest du, das Higgsboson ist nicht nur fuer die Symmetriebrechung, sondern auch fuer die anschliessende Symmetrierestauration verantwortlich. Wasserbottel (mit amerikanischem Akzent) Ja, genau.

KORWAS Aufgrund der Welle-Teilchen Dualitaet der Felder muesste aber meines Erachtens...

REGISSEUR (unterbricht ihn) Ja, so ist er. Hat sich seit Urzeiten nicht mehr mit Physik beschaeftigt. Macht in Politik. Hofft gar auf ein Ministeramt. Aber tut so, als ob er ueber Higgsbosonen bestens Bescheid weiss. Auf du und du mit ihnen steht.

KORWAS Ich moechte Sie bitten, mich nicht zu unterbrechen. Wer sind Sie ueberhaupt? Und was haben Sie auf unserer Tagung verloren. Sie sehen nicht wie ein Wissenschaftler aus. Ganz und gar nicht. Sie sehen aus, als ob sie ein ziemliches Lotterleben fuehren.

REGISSEUR Hoeren Sie mal. Ich bin Stueckeschreiber und Regisseur. Das ist auch Arbeit.

WASSERBOTTEL (hat sich aus Korwas‘ Arm geloest und faengt an zu singen und mit seinen vielen Bommeln einen wirren Tanz aufzufuehren) Ich bin so schlau, ich bin so toll, so unerreichbar wundervoll. Ich bin der einsame Held, der die Wahrheit in Haenden haelt. Bin euer Wasserbottel, ueberrage euch alle. Selbst die Frauen ziehe ich in den Bann. Ihr liegt mir zu Fuessen, verehrt mich, begehrt mich, bewundert mich masslos. Denn wenn ihr‘s nicht tut, werde ich euch bei naechster Gelegenheit ordentlich schlecht machen. Das koennt ihr mir glauben. (hoert auf zu tanzen) Ja, frueher hatte ich es schwerer. Ich musste ganz schoen hopsen, bis ich beruehmt war. SO hoch musste ich hopsen (macht es vor). Von morgens bis abends musste ich praesent sein, musste kaempfen, rudern, bruellen, mich verschleissen. Nun bin ich etabliert und alles geht wie von selbst. Ich bin so schlau, ich bin so toll, so unerreichbar wundervoll. Bin euer Wasserbottel. Kommt her, dass ihr mir Honig in die Bommeln schmiert. Denn ich bin suechtig nach dem suessen Honig der Huldigung. Beifall und Verklaerung naehren mich und halten mich am Leben. Ich sauge sie auf, ich schoepfe sie ab, sie sind mein Lebenselixier. Niemand wuerde es wagen, mir den gebuehrenden Respekt zu versagen. Seht, wie kraeftig ich bin. Stark wie ein Pferd. Zumindest mental nehme ich es mit jedem Jungen problemlos auf. Mit 70 halte ich noch Eroeffnungsreden, und zwar nicht im Fernsehen oder im Theater, vor minderbemittelten Zuschauern, die mir sowieso alles glauben wuerden, sondern vor erfahrenen, kritischen, hartgesottenen Wissenschaftlern. - Seht euch den Korwas an. Wir haben zusammen angefangen. Auch ihm geht es bestens. Er ist ein Leittier (spielt mit Korwas‘ Bommeln). Und doch, wenn ihr genau hinseht, haben ihn laengst die Saftlosigkeit und die ersten Gebrechen des Alters erfasst. Er geht gebeugt und benimmt sich wie ein Weib. Wenn er mit mir redet, vergewissert er sich fortwaehrend meines Einverstaendnisses. Er ist, wie viele Greise, kein Mann mehr. Gewiss, auch er heimst seine Lobeshymnen ein. Umgibt sich mit jugendlichen Ja-Sagern, die ihn mindestens zweimal taeglich an seine grossen Taten erinnern. Und doch fehlt ihm etwas. Seht mich an. Ich brauche keine Ja-Sager. Mich muss jeder loben. Mein Lob gehoert zum Komment. (Andere Wissenschaftler draengen sich vor. Stimmengewirr. Altenbach und Niemeier begruessen sich.)

ALTENBACH Dein Urteil ueber Wasserbottels Vortrag? Ist das Ernst zu nehmen, was er ueber schwere Higgsbosonen behauptet?

NIEMEIER Kann ich nicht sagen. Ich bin gerade erst angekommen.

ALTENBACH Ach so. Na, hast nichts versaeumt. Die ersten Vortraege waren nicht besonders.

NIEMEIER (starrt auf die Bueste Heisenbergs) Heute frueh war bei uns noch Institutsrat.

ALTENBACH Was Wichtiges?

NIEMEIER Die ewigen langweiligen Verwaltungsgeschichten. Vorlesungstermine, Pruefungsordnung. Aber ich muss hin. - Und ... was neues am CERN?

ALTENBACH Nichts neues.

NIEMEIER Wie geht‘s dir?

ALTENBACH Oh bestens, keine Probleme.

NIEMEIER Wie lange laeuft dein Vertrag noch?

ALTENBACH Laeuft jetzt aus.

NIEMEIER Was wirst du machen?

ALTENBACH Nach Berlin zurueck.

NIEMEIER Fuer wie lange?

ALTENBACH Leider nur fuer ein Jahr.

NIEMEIER Ziemlich knapp die Zeit, oder?

ALTENBACH Was soll ich machen?

NIEMEIER Da musst du dich praktisch jetzt schon wieder neu bewerben.

ALTENBACH So ist es.

NIEMEIER Du brauchst endlich eine richtige Assistenstelle, so wie ich.

ALTENBACH Schoen waer‘s ja. Aber solche Stellen sind rar.

NIEMEIER Du bist schon soviel weiter als ich. Bei deinen Verdiensten steht dir laengst eine Professorenstelle zu.

ALTENBACH Nichts in Sicht. Leider.

NIEMEIER Traurige Zustaende. Ich glaube, im Moment ist in ganz Deutschland keine einzige Stelle ausgeschrieben.

ALTENBACH Jedenfalls keine, bei der wir uns realistische Chancen ausrechnen koennten.

NIEMEIER Absolut tote Hose.

ALTENBACH Ich sage nur, Sparmassnahmen.

NIEMEIER Haushaltssperren.

ALTENBACH Nur die bereits drin sind, kriegen puenktlich jedes Jahr ihre Gehaltserhoehung.

NIEMEIER Bei welcher Workgroup willst du mitmachen?

ALTENBACH Ich kann mich nicht entscheiden.

NIEMEIER Mir gehts genauso. Es gibt mehrere interessante Themen.

ALTENBACH Wahrscheinlich gehe ich in die Gruppe ueber b-Quark-Simulation.

NIEMEIER Weisst du, dass ein weiterer Termin anberaumt wurde? Im November, bei uns in Heidelberg.

ALTENBACH Nein. Aber gute Idee, damit man sich vor Redaktionsschluss noch mal kurzschliessen kann. Ich muss nur sehen, woher ich das Reisegeld bekomme. Mein Etat ist fast ausgeschoepft. Notfalls muss ich privat fahren. (Boeck, ein korpulenter, aber durchaus vitaler 50-Jaehriger zwaengt sich zu ihnen durch. Er traegt 3 Bommeln.)

ALTENBACH und NIEMEIER (im Chor) Wir gruessen deine Bommeln.

REGISSEUR Hier kommt Professor Boeck. Schaut ihn euch an. Jeder wird zugeben, dass er wie ein Waldschrat aussieht. Fast wie ein Landstreicher. Aber taeuscht euch nicht. Er ist unheimlich kompetent und weiss in jeder Situation das Richtige zu sagen. So eine Faehigkeit ist in allen Lebenslagen nuetzlich, nicht nur, wenn du Streit mit deiner Frau hast, oder wenn dir, nach einem verlorenen Bundesligaspiel, Hooligans begegnen, sondern auch und gerade fuer Wissenschaftler. Boeck hat seinen Aufstieg lange hinter sich. Er ist Mitglied zahlloser Gremien, Aufsichtsraete und Kommissionen und Freund, Weggefaehrte, koennte man sagen, einiger einflussreicher Kollegen. Von Seilschaften koennte der Boeswillige versucht sein zu sprechen.

NIEMEIER Unsere Bueros liegen direkt bei einander. Und wir sehen uns immer nur in fremden Staedten.

BOECK Ich habe dich mehrmals gesucht, aber du warst staendig verreist.

NIEMEIER Da spricht der richtige.

BOECK Was meinst du?

NIEMEIER Die Sekretaerin hat mir erzaehlt, du wirst das ganze naechste halbe Jahr weg sein. Ich sage nur: neuer Aufsichtsrat in Strassburg.

BOECK Strassburg, wenn es nur Strassburg waere. Ich muss auch nach Brookhaven. Und danach Bruessel. Die EU macht sich Sorgen ueber die Entwicklung der europaeischen Atomphysik.

ALTENBACH Was denn fuer Sorgen?

BOECK Weil ueberall gespart wird. Die wenigen Experimente, die ueberhaupt noch stattfinden, sollen besser koordiniert werden. - Aber jetzt bin ich hier und kann mein Anliegen endlich loswerden. Herzlichen Glueckwunsch zum Nachwuchs-Preis.

NIEMEIER Vielen Dank.

BOECK Dieser Preis ist durchaus etwas besonderes. Er wird dir Tueren oeffnen. Wobei ich sagen muss, ihr habt ihn, mit eurer herausragenden Arbeit ueber Omega-Zeta, wirklich verdient.

NIEMEIER Nochmals Danke. Aber unsere Rechnungen sind nichts im Vergleich zu deinen Arbeiten.

BOECK Jetzt uebertreibst du.

NIEMEIER Ganz im Gegenteil. Gerade auch unsere Omega-Zeta-Arbeit baut auf deinen alten Ergebnissen auf. Weisst du, die Singularformeln, die du mit Bohnert hergeleitet hast.

BOECK Ich weiss und bin dir dankbar, dass ihr uns zitiert habt. Meine Arbeiten mit Bohnert sind viel zu wenig beachtet worden. (wendet sich Altenbach zu). Wie geht es dir? Wir haben in letzter Zeit gar nichts mehr von dir gehoert.

ALTENBACH Oh, ganz gut. Ich arbeite gerade an den paritaetsverletzenden Spin-Effekten. Letzte Woche habe ich eine Arbeit darueber veroeffentlicht.

BOECK Da sieht man‘s. Ich komme nicht mal mehr dazu, mir die aktuellen Publikationen anzusehen.

ALTENBACH Ich haette euch laengst besucht. Aber hier ist im Moment soviel los ...

BOECK Du brauchst dich doch nicht zu rechtfertigen. Wir haben allerdings schon laenger vor, dich offiziell zu unserem Seminar einzuladen.

ALTENBACH Ich komme gern.

BOECK Bitte melde dich, wenn du einen freien Termin hast.

ALTENBACH Da faellt mir ein ...

BOECK Ja?

ALTENBACH Was haeltst du davon, wenn ich den Vortrag mit der Tagung verbinde? Niemeier hat mir erzaehlt, dass ihr einen zusaetzlichen Termin angesetzt habt.

REGISSEUR Schlau ist der Altenbach ...

BOECK Offen gesagt, nicht viel. Du musst das verstehen. Wasserbottel wird da sein, und eventuell George. Natuerlich versuchen wir, einen von denen fuer das Seminar zu bekommen.

REGISSEUR ... aber nicht schlau genug. (Die Menge duennt aus. – Toepfer, ein smarter junger Mensch mit akkuratem Scheitel und einem Bommel, gesellt sich zu ihnen.)

TOEPFER Gruesse deine Bommeln.

BOECK Gruesse deinen Bommel.

TOEPFER (wie gehetzt redend) Ich weiss nicht, ob man Wasserbottels Ansichten ueber Neutrinos teilen kann. Er hat ja gleich eingeschraenkt, dass es sich um eine reine Spekulation handelt, die er mal vor einem groesseren Publikum vorbringen wollte, als Anregung gewissermassen, und im Gegensatz zu seinen sonstigen harten Fakten ueber das Higgsboson. Aber Falsches bleibt falsch, auch wenn man es spektakulaer vortraegt. Ich beschaeftige mich seit Jahren mit der Neutrino-Emission gerade bei diesen Prozessen, auf die Wasserbottel sich konzentriert, und ich muss sagen, wir haben keinerlei Hinweis auf derartige Phaenomene, weder in den theoretischen Rechnungen noch in den Daten von Kamioka, Kamiokande Einszwodrei, Kantanande oder vom Sonnenwind. Die Daten von Kamiokande Einszwodrei und Kantanande beweisen meines Erachtens gerade das Gegenteil, weil die Messpunkte nach unten gehen und nicht hinauf, wie Wasserbottel erwarten wuerde. Nach unten gehen heisst, die Emission nimmt ab und damit hat das Higgs keine Chance fuer eine staerkere Kopplung oder gar eine Beschleunigung. Bei uns in Berlin ist eine grosse Umstrukturierung im Gange. Thoma laesst sich ein Jahr frueher als geplant emeritieren. Sein Posten wird zwar gestrichen. Aber stattdessen ist eine neue C3-Stelle bewilligt worden, die noch dieses Jahr besetzt werden soll. Das ist jedenfalls Lehmanns Zeitplanung.

BOECK Ich weiss. Ich habe letzte Woche mit ihm gesprochen. Auf der Sitzung des DFG-Auswahlausschusses.

TOEPFER Ja. Er ist dort turnusmaessig zum Vorsitzenden gewaehlt geworden. Er meint, zum Arbeiten hat er jetzt ueberhaupt keine Zeit mehr. Um die Besetzung der Stelle wird er sich aber auf jeden Fall intensiv kuemmern. Das ist ihm sehr wichtig. Soviel konnte ich heraus hoeren. Ob er schon jemanden ins Auge gefasst hat, weiss ich allerdings nicht. Natuerlich ist er froh, dass die Stelle nicht gleich wieder kassiert worden ist. Wie ich die Berliner Verhaeltnisse kenne, wird sich der ganze Vorgang aber mindestens bis ins naechste Jahr hinziehen. Vor allem, wenn dann auch noch Wunschkandidaten absagen! Dann geht es uns wie den Hamburgern, die nach 4 Jahren immer noch keinen Nachfolger fuer die Institutsleitung gefunden haben. Der neueste Stand ist, dass die Stelle zum zweiten Mal durch die Gremien muss und dann wieder ausgeschrieben wird. Das kommt davon, wenn man sich auf Leute kapriziert, die woanders bereits einen guten oder sogar einen besseren Posten haben, statt von vornherein auf dem Boden der Realitaeten zu bleiben. Ich meine George. Wie sie darauf kommen, George koennte von Harvard nach Hamburg wechseln, ist mir ein Raetsel.

BOECK Soviel ich weiss, hat George echtes Interesse bekundet.

NIEMEIER Und sie haben gedacht: Hamburg, das ist fuer jeden Amerikaner ein Lockruf.

ALTENBACH Wie Neuschwanstein, wahrscheinlich.

TOEPFER Wie? - Ach so, ja.

BOECK Er hat Vorverhandlungen gefuehrt. Das mussten sie ernst nehmen.

TOEPFER Natuerlich. Ich meine, wenn er echtes Interesse bekundet. Das muss man ernst nehmen. Fuer Juengere ist die Berliner Stelle sowieso viel interessanter. Wobei ich mich dort natuerlich nicht bewerben werde. Ich bin ja bereits versorgt; aber fuer euch beide ist es eine Gelegenheit.

BOECK (zu Altenbach) Fuer dich besonders. Du hast bei Lehmann promoviert.Fuer dich ist Berlin doch ein Heimspiel.

ALTENBACH Ich weiss nicht. Es wird mindestens 50 Bewerber geben.

NIEMEIER Wenn nicht 100. (Ein Gong ertoent - Hinweis auf das Ende der Kaffepause. Man begibt sich zurueck in den Hoersaal.)

 

 

Vorhalle des CERN-Auditorium, etwas spaeter

 

REGISSEUR Jetzt stehe ich wieder allein hier herum. Die anderen hocken in ihren sogenannten Workgroups, die seit einigen Stunden im Gange sind und wo, wie ich mir vorstelle, ganz schoen die Koepfe rauchen. Ich moechte nochmals betonen: die Vortraege, die hier gehalten werden, haben keine grosse Bedeutung. Da wird viel geredet, meist ohne Folgen. Viel wichtiger sind andere Dinge. Zum Beispiel, sich einschleimen. Das steht an aller oberster Stelle. Bis man vor lauter Schleim nicht mehr richtig gehen kann und dauernd ausrutscht. Wogegen im Prinzip nichts einzuwenden ist. Schleimen gehoert eben zum Handwerk. Auch bei uns im Theater gehoert es zum Handwerk. Ferner die Workgroups. Dort werden die Probleme des geplanten Grossprojektes im einzelnen analysiert und zu schriftlichen Exzerpten zusammengefasst. Welche Prozesse finden im Reaktorkern statt? Welche Teilchen werden erzeugt? Wie steht es um die Stabilitaet des Mantels? Wie hoch ist die Strahlenbelastung? Solche Fragen. Jeder, der eine Stelle braucht, sollte sich an moeglichst vielen Workgroups beteiligen. Da kommen, ohne viel Arbeit, reichlich Publikationen zusammen. 'Ohne viel Arbeit' sage ich deshalb, weil erstens verteilt sich die Arbeit auf mehrere Autoren. Jeder, der meint, ein paar Saetzchen beisteuern zu koennen, meldet sich als Autor an. Und zweitens muss nichts wirklich neues drin stehen, sondern man kann Ergebnisse von frueher noch mal benutzen. Zweitverwertung, sozusagen. Gilt aber trotzdem als eigenstaendige Publikation. Ist doch toll, oder? So eine Gelegenheit wird von cleveren Jungspunden wie Niemeier gern wahrgenommen. Aber auch Altenbach hat die Bedeutung der Workgroups inzwischen erkannt. Wenn auch etwas spaet, und er agiert, im Vergleich zu Niemeier, ziemlich unbeholfen. Denn leider finden die Meetings groesstenteils parallel statt, was einen jungen Wissenschaftler, der sich an moeglichst vielen gleichzeitig beteiligen moechte, vor ein logistisches Problem stellt. Ein Problem, welches von Altenbach bisher nicht geloest worden ist. (Die Tuer zum Hoersaal oeffnet sich. Niemeier kommt heraus, schliesst sehr vorsichtig die Tuer.)

REGISSEUR Was ist mit dir?

NIEMEIER Was soll sein?

REGISSEUR Alle paar Minuten kommst du aus einer anderen Tuer.

NIEMEIER Was stoert dich daran?

REGISSEUR Ich finde es irgendwie merkwuerdig, dass du ueberall nur ein paar Minuten zuhoerst.

NIEMEIER Was soll ich da lange herum haengen? Sind doch fertig, die Leute. Ich habe mir die Punkte aufgeschrieben, die bearbeitet werden muessen, und die Namen der Kollegen, die mitmachen wollen. Mit denen werde ich mich spaeter in Verbindung setzen.

REGISSEUR Was ist, wenn du etwas verpasst?

NIEMEIER Nichts. Ich verpasse nichts. Entweder, sie raesonieren ueber die Zeitplanung oder sie streiten, weil einige mit der Arbeitsteilung nicht einverstanden sind. Das kann lange dauern.

REGISSEUR Und wenn sie doch was ganz wichtiges besprechen?

NIEMEIER Und wenn schon. Wird schon werden. Und jetzt lass mich zufrieden, damit ich weiterkomme. (verschwindet hinter der naechsten Tuer)

REGISSEUR Ganz schoen ungeduldig, der Mann. Stellt hoechste Effizienz-Ansprueche. Und ratet mal, was er mit der gewonnenen Zeit macht? Wird er sich mit seiner Freundin treffen. Nein, fuer Freundinnen haben Wissenschaftler keine Zeit. Sie sind mit Ehefrauen genug ausgelastet. Er schleicht sich schnurstracks in den naechsten Hoersaal, wo eine andere Workgroup tagt. Und was glaubt ihr, was er da tun wird? Ja, er orientiert sich kurz, was an der Tafel steht, und dann meldet er sich wieder fuer alle Untergruppen an. 12 Publikationen auf einen Schlag in den Sack gesteckt. Wumm. Da staunt ihr. Das ist Dynamik, das hat Schwung. Der ist nicht so bloed wie Altenbach. Oder wie unsere Schauspieler, die sich ohne grosse Gegenwehr einfach so feuern lassen. Niemeier ist allenfalls mit unserem Intendanten zu vergleichen, der, waehrend er offiziell noch mit der Belegschaft verhandelt, bereits mit dem Oberbuergermeister telefoniert und vollendete Tatsachen schafft.

 

 

Vorhalle des CERN-Auditorium, noch spaeter. Die Workgroups sind zu Ende. Aus der Tuer, hinter der Niemeier zuletzt verschwunden ist, kommen u.a.heraus: Altenbach, Niemeier, Haselstein, Berg, Boeck. Berg luemmelt sich auf einen der Teetische und laesst sein rechtes Bein ueber einer Stuhllehne baumeln. Niemeier, Haselstein und Altenbach stehen um ihn herum.

 

HASELSTEIN (aengstlich, besorgt) Ich weiss nicht, wie Boeck sich das vorstellt.

ALTENBACH Was meinst du?

HASELSTEIN Dass wir schon bis Heidelberg vorlaeufige Berichte vorlegen sollen.

BERG Sind doch noch 3 Monate.

HASELSTEIN Aber dazwischen liegt das Semester, wo ich fast jeden Tag Uebungen betreue. Und all die Diagramme, die er haben will. Ich denke, wenn wir rechtzeitig fertig werden wollen, muessen wir noch heute oder morgen ein vorlaeufiges Konzept erstellen.

BERG (goennerhaft) Nur keine Panik. Wird schon werden. Wir sind alle Experten auf dem Gebiet und kennen die Literatur und den Stand der Forschung genau.

ALTENBACH Es gab doch vorletztes Jahr schon mal eine Tagungsreihe mit demselben Thema. Ich glaube, wir koennen die Ergebnisse von damals weitgehend uebernehmen.

HASELSTEIN Du bist gut.

ALTENBACH Zumindest als Ansatz. Und vielleicht ein paar Verbesserungen einbauen.

NIEMEIER Ich habe gehoert, die EU will uebernaechstes Jahr noch einen weiteren Konferenzzyklus organisieren. Was wir diesmal in die Reports schreiben, muss also nicht das letzte Wort sein.

ALTENBACH Aber wenn naechstes Jahr auch wieder nur abgeschrieben wird, sollten wir uns dies Jahr doch etwas Muehe geben. (Sie lachen)

BERG Nicht unbedingt. Ich meine, wo die endgueltigen Planungsdaten fuer den Reaktor noch gar nicht vorliegen.

ALTENBACH Wenn der Ofen ueberhaupt gebaut wird.

BERG Eben. Die neue Regierung hat was gegen Kernkraftwerke.

ALTENBACH (zu Haselstein) Deine Sorgen sind also ziemlich unbegruendet.

BERG Was mich wundert: dass die EU so spendabel ist.

NIEMEIER Die Franzosen. Fuer die mit ihren vielen alten Flundern ist das Thema Reaktorsicherheit nicht so akademisch wie fuer uns.

BERG Du musst gerade von 'akademisch' reden. Was du mit Neusel machst, ist doch alles hoechst akademisch. Fern von jeder Praxis.

NIEMEIER Wenigstens interessiert es die Leute.

ALTENBACH Ich habe laeuten hoeren, Wasserbottel will euer Omega-Zeta nachrechnen.

NIEMEIER Von mir aus gern. Wenn er es schafft.

BERG Das Nachrechnen ist das eine. Schwierig genug. Die experimentelle Verifikation das andere. Und damit sieht es, bei knappen Foerdermitteln, sehr schlecht aus, wuerde ich sagen.

NIEMEIER Na und?

BERG Fruehestens in 20 Jahren, wuerde ich sagen.

NIEMEIER Ist eben ein zukunftstraechtiges Thema.

BERG Mit dem im Moment kein Experiment etwas anfangen kann.

NIEMEIER Die Aussicht machts. (Korwas - mit reichlich Bommeln - tritt in den Raum, sieht sich wie suchend um und wendet sich zurueck zur Tuer. Niemeier loest sich von der Gruppe und eilt ihm nach.)

 

 

Vorhalle des CERN-Auditorium, einige Tage spaeter

 

REGISSEUR Heute ist der letzte Konferenztag. Ich war vorhin im Hoersaal. Habe gelinst, was sich da so abspielt. Bin dann aber gleich wieder raus, weil Korwas so komisch kuckte. Theaterleute kann er anscheinend nicht leiden. Wasserbottel gibt gerade den Abschlusstalk und laeuft dabei zur Hoechstform auf. "I would like to thank you for the opportunity", hat er gesagt, "to present a few little ideas before this distinguished audience." Distinguished! Das ist auch er, auf seine ganz spezielle Art und Weise. Gut, an sich ist er kein erhebender Anblick. Billige Joggingschuhe, hellgraue, leicht angeschmuddelte Nylonhose, viel zu enge schwarze Lederjacke. Er scheint jeden Tag diesselben Klamotten zu tragen. Darin trifft er sich mit Boeck. Nein, der Mann ist nicht eitel, jedenfalls, nicht was sein Aeusseres angeht. Seine Eitelkeit spielt sich auf hoeherer Stufenleiter ab. Er will, dass sein Geist, und nicht sein Koerper, anerkannt wird. Also, "distinguished audience" hat er gesagt, dann den Kopf gesenkt und in sonderbarem Englisch und mit einem gekonnten Spiel seiner Haende und Arme, und auch den Rumpf und sogar die Beine hat er dazu genommen ... echt beweglich der Mann! Und null Lampenfieber! Ohne Scham oder falsche Scheu hat er angefangen, ein Bild der Atomphysik zu zeichnen, das jedem Physiker schmeicheln muss. (Leute stroemen aus dem Hoersaal. Boeck und Wasserbottel bleiben im Vorraum stehen.) Anscheinend sind sie fertig.

BOECK Herzlichen Glueckwunsch. Das war ein exzellenter Vortrag und ein fulminanter Abschluss fuer unsere Konferenz. Es lohnt sich doch, bekannte Leute wie dich einzuladen.

WASSERBOTTEL Ohne die vielen interessanten Referate der letzen Tage mit all diesen neuen Ergebnissen waere meine Zusammenfassung nicht halb so gut gewesen. Ihr habt bei den Rednern eine gute Auswahl getroffen.

BOECK Nicht wahr. Auf diesen Punkt legen wir bei der Planung immer besonderen Wert.

WASSERBOTTEL Wie hat dir eigentlich der Vortrag von Solokov gefallen?

BOECK Sehr gut. Solokov ist ein faehiger Kollege, den ich sehr hoch einschaetze.

WASSERBOTTEL Ich kenne ihn seit vielen Jahren und kann ihn waermstens empfehlen.

BOECK Ich weiss, dass er exzellente Arbeiten mit dir geschrieben hat, als du noch in Russland warst.

WASSERBOTTEL Wie du gehoert hast, er arbeitet inzwischen auf demselben Gebiet wie du und wuerde sicher gut in deine Arbeitsgruppe passen. Auch menschlich gesehen ist er aeusserst kooperativ.

BOECK Ich habe seine Bewerbung gelesen.

WASSERBOTTEL Das heisst, er macht alles, was man ihm anschafft.

BOECK Du brauchst nicht so deutlich zu werden. Ich sehe da eine Moeglichkeit. Ich habe kuerzlich neue Foerdermittel beantragt und hoffe, dass man mir 2 zusaetzliche Stellen bewilligt. Dafuer kaeme er in Frage. Allerdings kann ich nur Vertraege fuer maximal 1 Jahr anbieten. Glaubst du, dass er, bei seiner Erfahrung, damit zufrieden waere?

WASSERBOTTEL Ich denke schon. Ihm geht es darum, im Westen bekannt zu werden, und eine Arbeit an deinem bedeutenden Lehrstuhl waere fuer ihn genau das richtige.

BOECK Zur Zeit besteht meine Gruppe aus 3 Doktoranden und 2 polnischen Kollegen. Alle sehr motiviert und ausgesprochen kooperativ.

WASSERBOTTEL Ich kenne sie und denke, Solokov wuerde sie ideal ergaenzen.

BOECK Gut moeglich.

WASSERBOTTEL (legt seinen Arm um Boeck) Ich wollte noch, unter 4 Augen, ein Thema anschneiden, das mich im Moment stark beunruhigt. Du kennst doch Niemeier und Neusel.

BOECK Natuerlich. Sie sind zur Zeit mit die aussichtsreichsten deutschen Talente.

WASSERBOTTEL Sie haben kuerzlich mehrere Arbeiten ueber Omega-Zeta veroeffentlicht und viel Beachtung damit gefunden.

BOECK Ich weiss. Ich kenne die Arbeiten. Sie haben dafuer den Nachwuchspreis bekommen.

WASSERBOTTEL Auch ich arbeite seit einiger Zeit an dem Thema. Sehr schwierig.

BOECK Um so erstaunlicher, dass sie so schnell ein so wichtiges ...

WASSERBOTTEL ‚Erstaunlich‘ ist genau das richtige Wort. Verwunderlich. Besonders, wenn man sich, wie ich, mit dem Thema beschaeftigt hat und sich einbildet, ein gutes Gefuehl fuer seine Komplexitaet entwickelt zu haben.

BOECK Worauf willst du hinaus?

WASSERBOTTEL Oh, auf gar nichts. Ihre Resultate sind im ganzen durchaus plausibel. Selbst der spektakulaere Effekt, den sie behaupten.

BOECK Den manche schon Niemeier-Neusel-Effekt nennen.

WASSERBOTTEL Ein interessanter Effekt - wenn es nicht diese Widersprueche gaebe.

BOECK Was fuer Widersprueche.

WASSERBOTTEL Ich habe die Arbeit genau studiert, und mir sind gewisse Widersprueche aufgefallen, die mich ziemlich irritiert haben.

BOECK Widersprueche welcher Art?

WASSERBOTTEL Widersprueche eben. Und fehlende Verbindungstuecke, die mich darauf gebracht haben ...

BOECK Ja?

WASSERBOTTEL ... dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. (kurzes Schweigen)

BOECK Das ist allerdings ein schwerwiegender Vorwurf. Selbst angenommen, du hast recht, und die Ergebnisse stimmen nicht. Haeltst du es nicht fuer denkbar, dass sie versehentlich etwas vergessen haben. Oder irrtuemlich einen Fehler gemacht haben? Solche Dinge passieren! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Niemeier in so etwas verwickelt ist ... Neusel wuerde ich es schon eher zutrauen. Ich meine, vom Charakter her.

WASSERBOTTEL Mich wundert vor allem auch ihre Geschwindigkeit.

BOECK Da muss ich dir recht geben. Ich habe mit Niemeier ein paarmal zusammengearbeitet. Er ist alles moegliche: genialisch, kooperativ, sozial kompetent. Schnell ist er nicht. Eher langsam, wuerde ich sagen. Aber vielleicht kommt die Schnelligkeit mehr von Neusels Seite.

WASSERBOTTEL Neusel allein in so kurzer Zeit? Wo er auch auf mehreren anderen Gebieten sehr aktiv ist?

BOECK Hoer mal. Ich moechte dir nicht zu nahe treten. Aber du solltest vorsichtig sein.

WASSERBOTTEL Wie meinst du das?

BOECK Dass du die beiden nicht beschaedigst. Wenn jemand wie du solche Beschuldigungen vorbringt ...

WASSERBOTTEL Im Moment habe ich mich nur an dich gewandt, weil du Niemeier gut kennst.

BOECK Ich kenne ihn gut und weiss, dass er ziemlich clever ist. Er hat sich hier fuer fast alle Working Groups angemeldet.

WASSERBOTTEL Zuviel Cleverness kann auch ungesund sein. Aber du hast recht. Ich vorverurteile niemanden. Im Moment bin ich einfach noch nicht so weit, ihnen etwas nachweisen zu koennen.

 

 

Berlin, ein Jahr spaeter

Zweigeteilte Buehne. Links Buero von Professor Fischer, Ordinarius in Berlin. Fischer telefonierend. Gleich nebenan befindet sich das Buero von Professor Lehmann, ebenfalls Ordinarius. Irgendwo an der Wand haengt eine Fotogalerie frueherer Leiter der Berliner physikalischen Institute, Helmholtz, Nernst, Einstein usw. Fischer ist wesentlich besser gekleidet als die anderen Darsteller (Anzug, Schlips und Kragen...)

 

FISCHER Hallo Boeck, hier Fischer.

BOECK Hallo Fischer. Ich gruesse deine Bommeln.

FISCHER Ich gruesse die deinen.

BOECK Wie geht es dir?

FISCHER Bestens. Schoen, mal wieder von dir zu hoeren.

BOECK Diesmal war ich wirklich lange verreist.

FISCHER Ich habe deine Papiere mit Solokov gelesen. Sehr fundierte Arbeit.

BOECK Wir haben die Idee gemeinsam entwickelt. Nach alten Notizen von Wasserbottel.

FISCHER Und sehr aufwendig.

BOECK Oh ja.

FISCHER Ich weiss nicht, wie du das machst. Ich meine, deine Verwaltungsaufgaben, immer neue Rechnungen, Veroeffentlichungen, Konferenzen organisieren...

BOECK Nicht wahr. Aber Solokov ist sehr fleissig. Und absolut zuverlaessig. Die eigentliche Rechnung hat er praktisch allein durchgefuehrt. Am LBL habe ich mich mit voellig anderen Themen beschaeftigt.

FISCHER Das merkt man.

BOECK Wieso?

FISCHER Die Arbeit macht einen ziemlich 'russischen' Eindruck.

BOECK Wie kommst du darauf?

FISCHER Allein schon, weil ihr nur Russen zitiert.

BOECK Auf dem Gebiet haben viele Russen gearbeitet.

FISCHER Und die Lawrence-Formeln heissen bei euch Gribov-Lukaschenko-Gleichungen.

BOECK Tatsaechlich? Danke fuer den Hinweis. Das muessen wir noch aendern.

FISCHER Und wie geht es sonst?

BOECK Ich bin erst gestern abend aus Seoul zurueckgekommen.

FISCHER Seoul?

BOECK Gruendungsfeier des neuen Instituts fuer Atomphysik.

FISCHER Ah ja.

BOECK Die Koreaner haben sich ordentlich Muehe gegeben, muss man schon sagen. Alles nach westlichem Standard organisiert und so weiter. Sogar Bommeln wollen sie einfuehren. Und einen Aufsichtsrat, in dem ich Mitglied bin.

FISCHER Es ist schon ein Wahnsinn. In Deutschland werden Stellen gestrichen und Institute geschlossen, und dort ist Gruenderzeit.

BOECK Sie packen alles viel entschlossener an als wir, und eine Nummer groesser.

FISCHER Aber ob sich das letztlich auszahlen wird?

BOECK Wie meinst du das?

FISCHER Ich meine, ob sich die Qualitaet ihrer Forschung tatsaechlich verbessern wird.

BOECK Ich denke schon. Sie kaufen das Know-How einfach im Westen ein. Zum Beispiel, Berg wird ein Angebot aus Seoul bekommen.

FISCHER Ehrlich gesagt, er gehoert nicht zu den Besten.

BOECK Und wenn schon. Die Amerikaner sind auch so vorgegangen, vor 100 Jahren, als sie wissenschaftsmaessig noch eine Praerie waren. Und jetzt.

FISCHER Wenigstens haben wir in Berlin die C3-Stelle endgueltig durchbekommen.

BOECK Ich dachte ...

FISCHER Bisher stand sie noch unter Finanz-Vorbehalt.

BOECK Ihr gluecklichen. Als ich heute meine Post las, war in mindestens 3 Briefen von neuen Sparmassnahmen die Rede.

FISCHER Bei euch liegt es am Ministerpraesidenten ...

BOECK Ich weiss. Der Mann spart uns zu Tode.

FISCHER Gibt doch jetzt, nachdem die Affaere mit der Landesbank ueberstanden ist, keinen Grund mehr dafuer.

BOECK Das Problem ist sein Charakter. Er meint, er muesse die Schulden der Landesbank zurueckzahlen.

FISCHER Da lobe ich mir Berlin. Berlin lebt nach dem Motto: ist der Ruf erst ruiniert ...

BOECK Wird der Bund schon richten, meinst du. Der Bund laesst doch seine Hauptstadt nicht im Stich.

FISCHER Der Bund ist uns neuerdings feindlich gesonnen.

BOECK Du meinst, die neue Regierung.

FISCHER Sie wollen den Geldhahn fuer die Kernphysik voellig zudrehen.

BOECK Ich habe es kommen sehen. Wenn die dran kommen, habe ich zu meinen Studenten gesagt, das ist der Untergang.

FISCHER Nicht nur fuer die Wissenschaften.

BOECK Nein, die Wirtschaft, das Militaer, alle werden darunter leiden.

FISCHER Das Weihnachtsgeld wollen sie auch kuerzen. Besonders in den hoeheren Einkommensgruppen.

BOECK Dabei wollten sie die Professorengehaelter aufstocken. Leistungstraeger anlocken, hiess es.

FISCHER Alles nur Gerede. Wahlversprechungen.

BOECK Keine Gehaltserhoehung - aber alles wird teurer.

FISCHER Kannst du laut sagen. Eine kleine Kuechenplatte fuer mein Wohnmobil. 500 Euro.

BOECK Kuechenplatte? Ist doch ganz neu, dein Wohnmobil.

FISCHER Brandfleck. Zigarette draufgefallen. Eigentlich kaum zu sehen. Aber aergerlich. Und fuer eine neue wollen sie 500 Euro haben.

BOECK Das sind Preise. Aber vielleicht solltest du nicht ganz so pingelig sein und die alte behalten.

FISCHER Das kann ich nicht. Ein Brandfleck im neuen Wohnmobil, den halte ich nicht aus. So bin ich eben.

BOECK Nur das beste ist dir gut genug.

FISCHER Wie auch in der Wissenschaft.

BOECK Lass uns ueber etwas erfreuliches reden. Habt Ihr euch schon entschieden?

FISCHER Bezueglich der Stelle? Nein.

BOECK Hat die Berufungskommision schon getagt?

FISCHER Schon mehrmals.

BOECK Schwierige Entscheidung.

FISCHER Du sagst es.

BOECK Wieviele Bewerbungen?

FISCHER Ueber 100. Auch aus dem Ausland. Wir werden Dich uebrigens um Gutachten bitten, das heisst, ueber die Kandidaten, die wir in die engere Wahl ziehen.

BOECK Sollte kein Problem sein. Ich kenne ja die meisten juengeren Kollegen sehr gut.

FISCHER Ich nenne dir mal die Namen: Neusel, Niemeier, Haselstein, Berg und Altenbach.

BOECK Hat sich Solokov auch beworben?

FISCHER Ich glaube schon?

BOECK Ihr solltet ihn in Betracht ziehen.

FISCHER Tun wir. Der Mann ist bestimmt nicht schlecht.

BOECK Wasserbottel empfiehlt ihn bei jeder Gelegenheit.

FISCHER Glaubst du, dass Stellen mit soviel Lehrdeputat ueberhaupt interessant fuer ihn sind?

BOECK Er hat nichts gegen Lehre. Er sagt, er haelt gern Vorlesung.

FISCHER Aber ist sein Deutsch ausreichend?

BOECK Er kann sich verstaendigen.

FISCHER Okay, ich verspreche, wir werden nochmal ueber ihn nachdenken.

BOECK Mich wundert, dass ihr Bohnert nicht einladen wollt. Er ist ein hervorragender junger Wissenschaftler, mit dem ich jahrelang erfolgreich zusammengearbeitet habe.

FISCHER Er steht auf der Ersatzliste. Es gibt eine ganze Reihe ausgezeichneter Bewerber, die wir in einem zweiten Durchgang einladen werden. Du musst verstehen, die Auswahl ist uns schwer gefallen.

BOECK Absolut. Auf eurer Liste, das sind alles sehr gute Kandidaten.

FISCHER Sehr gute Kandidaten, gewiss. Aber offen gestanden bin ich ueber einige Namen gar nicht gluecklich.

BOECK Du meinst wahrscheinlich Haselstein und Altenbach.

FISCHER Die auch. Vor allem aber stoere ich mich an Neusel. Ich konnte nicht verhindern, dass er zum Bewerbungsvortrag eingeladen wurde.

BOECK Ich weiss, Lehmann schaetzt ihn.

FISCHER Schaetzt ihn sehr.

BOECK Genial, hat er mal zu mir gesagt. Neusel sei genial.

FISCHER Ich weiss nicht, was an dem genial sein soll. Ich kann ihn nicht leiden.

BOECK Ich auch nicht. Ich hasse dies Laute, Unnachgiebige, das er verkoerpert.

FISCHER Da fragt man sich unwillkuerlich: Was in dem alles lauert.

BOECK Bei uns hat er einmal waehrend eines Vortrages vor Wut einen Zeigestock zerbrochen.

FISCHER Sein Vortrag hier war nicht schlecht. Durch das Angebot vom CERN hat er natuerlich entsprechendes Selbstbewusstsein. Tritt ganz anders auf als ein Postdoc. Und auch Lehmann tritt ihm ganz anders entgegen. Von gleich zu gleich gewissermassen. Ich bin natuerlich auch extrem freundlich gewesen. Sicherheitshalber. Aber ich weiss, er spuert meine Ressentiments.

BOECK Natuerlich spuert er die. Und du spuerst seine. Dass er selber gern deinen Platz einnehmen wuerde. Dies Gefuehl hat man bei ihm immer.

FISCHER Lehmann kann ich mit sowas nicht kommen. Er faselt von frischem Wind, den Neusel herein bringt, und so weiter. Du kennst ihn ja. Er laesst sich nichts sagen. - Nach dem Vortrag hat er sich gar nicht mehr eingekriegt. Herr Neusel hier, Herr Neusel da. Richtig gekrochen ist er vor ihm. Begeisternd, hat er gesagt. Einen besseren Vortrag habe er nie gehoert. Paedagogische Meisterleistung und so weiter. Ohne sich mit der Kommission abzusprechen, hat er praktisch eine Vorentscheidung hinaus posaunt. Und als unser Spinner dann beim Tee seine beruehmte Frage stellte ...

BOECK Ach, der bei euch immer in der ersten Reihe sitzt?

FISCHER Ja. Er hat glatt behauptet, Omega-Zeta liesse sich aus Pi berechnen. Ganz leicht.

BOECK (lacht) Aus der Kreiszahl?

FISCHER Ja.

BOECK Was hat Neusel dazu gesagt?

FISCHER Gar nichts. Sie haben sich angeschaut. Das haettest du sehen sollen. Zwei so verschiedene Typen. Neusel beugt sich tief zu ihm herunter, dass sich fast ihre Nasen beruehren. Laechelt wie eine Sphinx. Leider ist dann Lehmann dazwischen gegangen. Er werde sich das nicht mehr bieten lassen. Hat mit Hausverbot gedroht. Da ist er still geworden. Selbst er hat da den Ernst der Stunde begriffen.

BOECK Und die Berufungskommission?

FISCHER Die meisten haben doch von Kernphysik keine Ahnung. Sogar ein Experte fuer Windenergie ist dabei. Die verlassen sich auf dass, was Lehmann und ich ihnen erzaehlen. Und staunten natuerlich, als wir uns abends in die Wolle kriegten.

BOECK Ihr habt euch in der Wolle gehabt?

FISCHER Genau.

BOECK Das kenne ich von dir gar nicht.

FISCHER Lehmann hat Neusel nochmals in den hoechsten Toenen gelobt. Da ist mir die Hutschnur geplatzt. Da habe ich meine beruehmte Feinsinnigkeit aufgegeben. Zum Teil jedenfalls. Ich bin gegen Neusel, habe ich gesagt, und zwar aus den und den Gruenden. Eigentlich wollte ich das den Kollegen einzeln, in 4-Augen-Gespraechen, erklaeren. Da kann man sich viel besser verstaendlich machen. Aber in dem Moment musste ich verhindern, dass Lehmann Pfloecke einschlaegt. Viele renommierte Kollegen, habe ich gesagt, und auf dich und Wasserbottel verwiesen, koennten genausowenig wie ich verstehen, dass Neusel am CERN eine Stelle bekommen hat.

BOECK Was hat er dazu gesagt?

FISCHER Es gebe mindestens ebensoviele, die ihm das beste Zeugnis ausstellen. Neusel habe SO wichtige Arbeiten geschrieben. Stichwort Omega-Zeta. Und jetzt der Vortrag.

BOECK Was hast du gesagt.

FISCHER Dass er Omega-Zeta mit Niemeier zusammen geschrieben hat. Und dass man die Besetzung einer Stelle nicht von einem einzigen Vortrag abhaengig machen kann. Aber im Grunde befand ich mich damit schon auf dem Rueckzug. Wann denn der letzte Deutsche vom CERN ein Angebot bekommen habe, hat er mich gefragt. Das komme nur alle Jubeljahre mal vor. Ganz gewiss niemand aus deiner Arbeitsgruppe, hat er gesagt, und das ging nun wirklich unter die Guertellinie. Aber so ist er. Eine Stelle am CERN sei an sich schon der Nachweis fuer eine ausserordentliche Qualifikation. Und dann hat er noch eine Bombe platzen lassen. Dass Neusel aus Hamburg ein Angebot bekommen wird.

BOECK Das steht meines Wissens noch nicht fest.

FISCHER Er schien sich ziemlich sicher zu sein.

BOECK Letztlich zeigt das nur, dass er, wie uebrigens auch die Hamburger, keine eigene Meinung hat, sondern sich an den Personalentscheidungen anderer orientiert.

FISCHER Die meisten haben keine eigene Meinung. Das ist das Problem.

BOECK Ich sehe darin eher einen Vorteil.

FISCHER Wieso Vorteil?

BOECK Wir koennen sie leichter von unserer ueberzeugen.

FISCHER Im Moment sehe ich nicht, dass ich Lehmann ueberzeugen kann.

REGISSEUR (auf Fischer zugehend) Naja; du muesstest dich einfach mal durchsetzen. Ich verstehe nicht, warum du das nicht schaffst. Gegenueber Lehmann brauchst du dich wahrlich nicht zu verstecken. Eure Stellen sind gleichrangig. Es hat auch nichts mit fehlender Reputation zu tun. Du giltst, zumindest auf deinem Spezialgebiet, international als Meinungsfuehrer, als eine der fetten Spinnen im Netz der Atomphysik. - Das Problem ist, dass du ein Schisser bist. Ja, du hast Schiss. Vor Lehmanns hemdsaermeliger, direkter Art hast du Schiss und traust dich normalerweise nicht, ihm offen zu widersprechen. Deine Methoden sind leiser, indirekter. Eher hinten herum. Aber gegen Lehmann bringen sie nichts, das weisst du. Lehmann hat den prolligen Charme einer Dampfmaschine. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, laesst er sich nicht so leicht davon abbringen. Und meist gelingt es ihm, seinen Willen durchzusetzen. Er walzt Widerstand, auch hinterhaeltigen, einfach nieder.

FISCHER Ich finde das unglaublich, wie Schmalstieg sich hier einmischt.

BOECK Mit dem, was er ueber Lehmann sagt, liegt er gar nicht so falsch.

FISCHER Mag sein. Aber was nuetzt uns das?

BOECK Im Moment hat die Dampfwalze ihre Nase vorn. Vielleicht aendert sich das mit der Zeit.

FISCHER Was sollte sich aendern?

BOECK Ueber Neusel braut sich etwas zusammen. Omega-Zeta betreffend.

FISCHER Ich habe davon gehoert. Doch solange es keine Beweise gibt ...

BOECK Wasserbottel hat es mir als erster zugetragen. Schon vor laengerem.

FISCHER Ja, der Wasserbottel. Gelobt seien seine Bommeln. Aber er hat sich zuletzt einiges geleistet.

BOECK Du meinst die CP-Konjugations-Geschichte.

FISCHER Ja.

BOECK Die war natuerlich blamabel.

FISCHER Sich um einen Faktor 100 Millionen zu verrechnen.

BOECK Und daraus den Schluss ziehen, dass die Sonne in spaetestens 1000 Jahren kollabieren wird.

FISCHER Es ungeprueft auf der naechsten Konferenz hinausposaunen.

BOECK Wo die Experten ins Rotieren kommen, weil sie nicht wissen, was sie davon halten sollen.

FISCHER Sich die Haare raufen, weil sie auf die Schnelle den Fehler nicht finden.

BOECK Vor Stress tagelang nicht schlafen koennen.

FISCHER Ein grosses Tohuwabohu. Die Konferenz aus den Fugen geraet.

BOECK Der Chairman verzweifelt.

FISCHER (sie lachen) Das ist echt Wasserbottel.

BOECK Kommt nur, weil er keine Doktoranden hat, sondern alles selber rechnen will. In seinem Alter. Mit so vielen Bommeln. Wer Bommeln hat und selber rechnet, muss sich nicht wundern, wenn er Fehler macht, sage ich immer.

FISCHER Seither ist mir Wasserbottel suspekt. Ich traue seinem Urteil nicht mehr.

BOECK Okay. Dann will ich dir noch etwas sagen: Physics Review Journal nimmt von Neusel und Niemeier keine Arbeiten mehr an. Hat mir der Herausgeber gesagt, als ich in New York war, bei ihrer Jahrestagung.

FISCHER (denkt nach) Ob ich das in der Berufungskommission verwenden kann?

BOECK Es war nur eine vertrauliche Mitteilung.

FISCHER Dann nicht. Ausserdem: traust du Niemeier ernsthaft so etwas zu?

BOECK Natuerlich nicht.

FISCHER Also.

BOECK Ich habe mit ihm gesprochen. Er sagt, er faengt an, sich Sorgen zu machen. Ich hatte den Eindruck, dass er sich von den Arbeiten mit Neusel distanziert. Er deutete an, dass er nicht an allen Rechnungen voll beteiligt gewesen ist.

FISCHER (kleine Pause) Du traust ihm?

BOECK Absolut. Bei jedem anderen haette ich Zweifel. Aber so, wie ich Niemeiers Charakter einschaetze ... Ich kenne ihn schon lange. Er hat mir nie Anlass gegeben, an seiner Seriositaet zu zweifeln.

FISCHER Hast recht. Unter den juengeren Kollegen ist er eindeutig der Angenehmste. In jeder Hinsicht ausserordentlich kooperativ.

BOECK Es gibt ganz andere Leute auf eurer Liste, die ich im Verdacht habe, sagen wir mal, unpraezise zu arbeiten. Nur faellt das nicht auf, weil ihre Artikel kaum gelesen werden. Weil sie so langweilig sind. Altenbach z.B. ist so ein Fall. Seine Arbeiten werden nur selten zitiert.

FISCHER Stimmt. Niemand ueberprueft, was er rechnet.

BOECK Der waere froh, wenn sich endlich mal jemand mit ihm beschaeftigte.

FISCHER Ich habe ihn kuerzlich in Schladming getroffen. Er hat dort vorgetragen. Ein richtungsloses und viel zu breit gestreutes Potpourri. Olle Kamellen. Und hoelzern! Alle haben gegaehnt. Wenn er uns hier dasselbe auftischt, ist er aus dem Rennen.

BOECK Hast du ihm hoffentlich nicht gesagt.

FISCHER Natuerlich nicht. Ich habe ihn gelobt und ermutigt, seine Darbietung hier zu wiederholen.

BOECK (lacht) Du bist unmoeglich.

FISCHER Sag Schlitzohr zu mir.

BOECK Schlitzohr.

FISCHER Im Ernst. Altenbach, und auch Berg und Haselstein, sind ganz klar die schwaecheren Kandidaten.

BOECK Ich wuerde auch sagen: Im Vergleich zur Konkurrenz nicht genuegend qualifiziert fuer die Stelle.

FISCHER Das weiss auch Lehmann. Wir haben sie nur eingeladen, damit sie nicht beleidigt sind. Schliesslich ist Berlin quasi ihr Heimat-Institut, wo sie promoviert haben. Wir sind uns aber einig, dass das kein Entscheidungskriterium sein kann. Lehmann sagt, dass er nur die Besten will.

BOECK Niemeier und Neusel haben fast alle Arbeiten zusammen geschrieben. Ich verstehe nicht, warum er sich so auf Neusel kapriziert.

FISCHER Bei ihm ist das Gefuehlssache. Er hat das Gefuehl, dass Neusel der bessere ist.

BOECK Ich kann das nicht nachvollziehen. Neusel ist so ein unangenehmer Mensch.

FISCHER Ich auch nicht. Er ist mir geradezu koerperlich zuwider.

BOECK Er redet immer, als ob er schon der Chef waere.

FISCHER Er macht viel Wind und schreibt Dutzende von Papieren, bringt aber wenig Neues.

BOECK So ist es.

FISCHER Niemeier wuerde sich bei uns viel besser einfuegen.

BOECK Mit Sicherheit. Fischer, ich teile deine Meinung und sage dir ganz offen, dass ich Entsprechendes in mein Gutachten schreiben werde. Natuerlich wird es schwer sein, ihn zu verhindern, nachdem er ein so phantastisches Angebot bekommen hat.

FISCHER Das ist genau der Punkt, warum ihn Lehmann bevorzugt und sich partout nicht von ihm abbringen laesst.

BOECK Ja, euer Lehmann. Ich kenne ihn. Kenne ihn zu gut.

FISCHER Weisst du, mit wem er neuerdings freundschaftlich verkehrt?

BOECK Nein.

FISCHER Mit dem Erzfeind.

BOECK Was heisst das?

FISCHER Mit dem neuen Umweltminister.

BOECK Der die Kernphysik beerdigen will.

FISCHER Ein richtig vertrautes Verhaeltnis haben die beiden. Sie duzen sich sogar.

BOECK Er meint wahrscheinlich, er ist darauf angewiesen. Als Geschaeftsfuehrer der Reaktorsicherheitskommission.

FISCHER Er wird es kaum bleiben.

BOECK Wahrscheinlich nicht. Aber wer weiss ... vielleicht als einfaches Mitglied.

FISCHER Ob ihm das reicht?

BOECK Mich werden sie wahrscheinlich ganz hinaus befoerdern.

FISCHER Gut moeglich.

Boeck Ich habe damals den Fehler gemacht ... in dem einen Gutachten fuer die RWE, das dann ziemlich bekannt geworden ist.

FISCHER (lacht) Ich weiss. Bei den Gruenen ziemlich beruechtigt.

BOECK Im Anhang stehen Daten, die ich heute so nicht mehr stehen lassen wuerde. Die mich beunruhigen.

FISCHER Mach dir keine Sorgen. Du kannst immer sagen: "Entschuldigung fuer das Fehlurteil. Tut mir unheimlich leid. Aber damals waren die Geraete so ungenau."

BOECK Wenn Sie auf die Idee kommen, mich fuer die Regressforderungen der RWE v

erantwortlich zu machen ...

FISCHER Ich kann mir nicht vorstellen, dass die neue Regierung auf jahrelange Rechtsstreitigkeiten erpicht ist.

BOECK Du willst mich nur beruhigen. Aber ich weiss, was ich von denen zu erwarten habe. Die neue Regierung ... ich sage es dir offen ... sollte man in die Luft jagen. Vergasen.

REGISSEUR Ich darf doch sehr bitten.

BOECK Ich dachte, wir sollen eine offene Sprache sprechen.

REGISSEUR Kein Grund, hier solchen Quatsch zu erzaehlen.

FISCHER Na hoer mal. Wir sind alte Freunde. Zugegeben, er ist manchmal etwas extrem.

BOECK Zugegeben, ich bin manchmal etwas extrem.

FISCHER Unter alten Freunden sagt man sowas schon mal.

BOECK Was glaubst du, was wir schon alles gedeichselt haben. Dass er 3 Bommeln hat, hat er mehr oder weniger mir zu verdanken.

FISCHER Und mir hat Boeck mehrere Gehaltserhoehungen zu verdanken.

REGISSEUR Wie das?

FISCHER Er hat von uns mehrmals Angebote gekriegt und konnte damit in Heidelberg verhandeln.

BOECK Im Puff haben wir auch schon einiges zusammen erlebt.

REGISSEUR Bitte! Sex ist hier nicht das Thema.

BOECK Vielleicht doch.

FISCHER Vielleicht haben unsere Erfolge mit Sex zu tun. Sicher nicht mit normalem Sex, mit Unterschichtssex. Mit Sex auf hoeherer Ebene, koennte man sagen.

REGISSEUR Ich glaube, wir stoppen das mal. Darueber koennt ihr euch hinter der Buehne verbreiten. Auch noch den neuesten Tratsch austauschen und so weiter. (will sie wegscheuchen)

BOECK Bitte. Eins muss ich noch loswerden.

FISCHER Was denn?

BOECK Ich hatte in Seoul viel mit dem dortigen Institutsleiter zu tun. Cheng heisst er.

FISCHER Kenne ich nicht.

BOECK Ein sehr angenehmer und auch einflussreicher Mensch. Er will Deutschland besuchen.

FISCHER Warte mal. Ich glaube, ich habe von ihm eine e-Mail. (hantiert an seinem Laptop)

BOECK Ich hatte ihm deine Adresse gegeben, weil er an Berlin und an eurem Institut besonders interessiert ist.

FISCHER Er soll nur kommen.

BOECK Kuemmere dich gut um ihn. Er ist, wie gesagt, in Korea sehr einflussreich.

FISCHER Kein Problem. Ich werde Lehmann Bescheid sagen. Cheng kriegt von uns das grosse Programm. (Es kratzt an der Tuer. Herein tritt Thoma, ein kleines, frueh gealtertes, ausgetrockentes Maennlein, emiritierter Ordinarius. Typ: Alzheimer im Fruehstadium. Er hat die irritierende Angewohnheit, einen grossen Strohhalm mit sich herum zu tragen und ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu rollen.)

FISCHER (winkt ihn herein)

THOMA (zoegert, als er sieht, dass Fischer telefoniert)

FISCHER Ich muss sowieso Schluss machen. Bis bald. (legt auf; zu Thoma:) Schoen, dass du da bist. Gegruesst seien deine Bommeln. Sehen jedes Mal frischer aus.

THOMA Ja, waren wir verabredet?

FISCHER Ich denke schon.

THOMA Wozu denn?

FISCHER Wir wollten uns ueber dein Fest unterhalten.

THOMA Ach ja, das Fest.

REGISSEUR Ziemlich senil, der Knabe. Aber keine Sorge, sein Lebensabend ist gesichert. Und er kommt sowieso nur noch einmal pro Woche ans Institut, um seine Vorlesung zu halten und seine Post zu lesen. Wissenschaftliche Diskussionen mit ihm kann man vergessen. Mit dem Strohhalm versucht er, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, was ihm zunehmend schwer faellt. Alzheimer, sage ich nur. Aber alle sind so hoeflich, darueber hinwegzusehen. Fischer und Lehmann behandeln ihn wie ein rohes Ei. Sie sind ihm ewig dankbar. Er war mit der erste, der ihre Faehigkeiten erkannt und gewuerdigt hat. Nicht nur mit Worten, sondern mit einem Stellenangebot. So dass seitdem auch ihr Lebensabend gesichert ist. Achtet mal darauf, wie sich Fischers Gesichtsausdruck und Koerperhaltung schlagartig aendern, sobald Haag herein kommt. Servil trifft senil, koennte man sagen.

THOMA Ja, ich bin wegen des Festes hier. Ich wollte mich bei dir beschweren.

FISCHER Beschweren?

THOMA Der Praesident hat nur 100 Gaeste bewilligt. Den Rest soll ich selber zahlen.

FISCHER 150, soweit ich weiss. Aber ich finde das auch unglaublich.

THOMA Er laesst sich nicht umstimmen. Selbst von Lehmann laesst er sich nicht umstimmen. Er sagt, sie haben kein Geld.

FISCHER Das sagen sie immer.

THOMA Vielleicht sollte ich sie verklagen. Zeitlebens habe ich unter der Fuchtel der Universitaetsverwaltung gelitten. Mir viel zuviel bieten lassen. Nun reicht es mir.

FISCHER Du solltest dir die Laune nicht verderben lassen.

THOMA Von ueberall bekomme ich Glueckwuensche. Schau mal. (holt eine grosse Glueckwunschkarte aus der Tasche, die eine seltsame Musik spielt; versinkt verzueckt in der Musik. Kommt wieder zu sich.) Ich werde wohl recht bald umziehen muessen?

FISCHER Das hat Zeit. Dauert noch, bis dein Nachfolger kommt.

THOMA So. Dauert noch.

FISCHER Ja. Heute tagt erst mal die Berufungskommission.

THOMA Ach so. Dann.

 

 

Lehmanns Buero. Etwas groesser als das von Fischer. Es klopft leise an der Tuer. Altenbach tritt ein, ein Blatt Papier in der Hand. Eigentlich geht er Lehmann auf die Nerven. Aber solange er fuer ihn die Arbeit macht, soll es ihm recht sein.

 

LEHMANN Ach du bist es.

ALTENBACH Guten Morgen.

LEHMANN Was willst du. Ich habe wenig Zeit.

ALTENBACH Ich wollte dir zeigen, wieweit ich gekommen bin. - Und eine Frage habe ich.

LEHMANN Zeig mal her.

ALTENBACH (reicht ihm das Blatt) Das ist die erste Kurve, die ich mit dem neuen Programm erhalten habe.

LEHMANN (studiert sie) Sieht gut aus.

ALTENBACH Die Genauigkeit laesst noch zu wuenschen uebrig. Daran muss ich noch arbeiten. Wahrscheinlich muss ich das Programm auf C++ umstellen.

LEHMANN Mach das.

ALTENBACH Dann wuerdest du es nicht mehr verstehen.

LEHMANN Nicht so schlimm. Ich verstehe die meisten Programme meiner Leute nicht. (lacht) Aber ich bilde mir ein, ein gutes Gefuehl fuer die Physik zu haben, die dahinter steckt. Urteilsfaehigkeit, verstehst du. Fuer das, was wichtig und was unwichtig ist. Oder bezweifelst du das?

ALTENBACH Gewiss nicht.

LEHMANN Ich kann meistens mehr oder weniger im Voraus sagen, was bei den Berechnungen herauskommst.

ALTENBACH Mehr oder weniger.

LEHMANN Du zweifelst doch.

ALTENBACH Nein, nein. - Uebrigens muss ich noch die Performance optimieren.

LEHMANN Mach nicht zu lange rum. Du stehst schon in dem Ruf, zu langsam zu sein.

ALTENBACH Es muss sein. Fuer diese eine Kurve hat mein Rechner 2 Tage gebraucht. Er ist alt und bringt nicht viel. (Die Blicke der beiden gehen auf den neuen PC in Lehmanns Buero)

LEHMANN Schoener Rechner.

ALTENBACH Neu?

LEHMANN Ganz neu. Mit 3 Bommeln hat man alle 5 Jahre Anspruch auf eine neue Bueroeinrichtung. Aber soviel schneller als deiner ist der auch nicht. Hauptsaechlich fuer e-Mails und Textverarbeitung gedacht.

ALTENBACH Ach so.

LEHMANN Mit meinem alten konnte ich allerdings besser umgehen. Bei dem hier habe ich immer noch nicht kapiert, wie man die Mails dauerhaft speichert. (Altenbach zeigt es ihm)

LEHMANN Sehr gut. Endlich weiss ich das mal. Was wolltest du uebrigens fragen?

ALTENBACH Ich moechte unsere Ergebnisse in Heidelberg vortragen.

LEHMANN Kein Problem. Vorausgesetzt, du sagst, dass ich beteiligt bin.

ALTENBACH Aber klar.

LEHMANN War nur ein Scherz. Ist sonst noch was?

ALTENBACH Nein.

LEHMANN Also dann. (Pause)

ALTENBACH Ich gehe dann mal.

LEHMANN Ja. Bis spaeter. - Das heisst, eins noch.

ALTENBACH (kommt zurueck zur Tuer) Ja?

LEHMANN Die Stelle werden wir dir nicht anbieten. Tut mir leid. Hat die Kommission so beschlossen. Dein Vortrag... (Toepfer taucht auf, klopft an)

LEHMANN Was ist denn? (in freundlicherem Tonfall:) Ach, du bist es.

TOEPFER Kommst du mit essen?

LEHMANN (blickt auf die Uhr) Schon wieder so spaet? Nein, ich muss noch telefonieren.

TOEPFER Ja dann.

LEHMANN Warte mal. Ich will dich etwas fragen. (zu Altenbach:) Wir sind ja fertig. (Toepfer kommt naeher, waehrend Altenbach sich zoegernd zurueckzieht. Lehmann macht die Tuer hinter ihm zu.)

LEHMANN Eine Frage im Zusammenhang mit der Stellenbesetzung.

TOEPFER Ja bitte.

LEHMANN Du bist zwar nicht in der Kommission, aber besitzt doch mit die meiste Fachkenntnis. Meine Frage ist, ob du bei deiner negativen Beurteilung von Berg bleibst. Falls ja, wuerden wir ihn von der Vorschlagsliste streichen.

TOEPFER Es bleibt bei meiner Einschaetzung.

LEHMANN Ueberlege es dir genau. Immerhin wart ihr frueher gute Freunde. Ihr habt zusammen gewohnt.

TOEPFER Es bleibt bei meiner Einschaetzung.

LEHMANN Er hat dir die Frau ausgespannt.

TOEPFER Das hat nichts damit zu tun. Es geht um die objektive Tatsache, dass er in den letzten Jahren keine wichtige Arbeit geschrieben hat. Ich glaube, er ist ein bisschen lustlos geworden.

LEHMANN Keine gute Basis fuer unsere Stelle.

TOEPFER Eben. Ausserdem beschaeftigt er sich mit Parton-Shadowing.

LEHMANN Nicht eben unser Thema. - Also, ich streiche ihn. (oeffnet die Akte und streicht Berg vor Toepfers Augen von der Liste.)

LEHMANN Ich muss nur sehen, wie ich es ihm beibringe. Er und Altenbach sind meine ersten Doktoranden gewesen.

TOEPFER Sie koennen kaum erwarten, dass du andere als sachliche Kriterien gelten laesst.

LEHMANN Genau.

TOEPFER Da du mich nach meiner Meinung fragst ... unter allen Namen auf eurer Liste scheint mir Niemeier der qualifizierteste.

LEHMANN Tu aussi?

TOEPFER Was meinst du.

LEHMANN Auch Fischer liegt mir staendig mit ihm in den Ohren.

TOEPFER Wenn ich auf Konferenzen mit Kollegen ins Gespraech komme, hoere ich nur Gutes ueber ihn. Er ist zwar noch sehr jung, hat aber bereits eine grosse Zahl von interessanten Publikationen.

LEHMANN Ich weiss, ich weiss. Und ich muss sagen: Ich habe nichts gegen ihn.

TOEPFER Aber?

LEHMANN Ich bevorzuge Neusel.

SEKRETAERIN (kommt ohne anzuklopfen herein) Entschuldigen Sie. Der ...

LEHMANN Frau Bauer. Gut, dass sie da sind. Mir ist eingefallen, sie muessen unbedingt das Zimmer fuer Herrn Cheng reservieren. Bitte auf keinen Fall vergessen. Sehr wichtig. Institutsleiterkontingent.

SEKRETAERIN ... ja gut; aber, Herr Lehmann, der Minister ist am Apparat.

LEHMANN Der Minister? Ich uebernehme. (zu Toepfer:) Ihr muesst heute ohne mich essen. (hebt den Hoerer ab, erwartungsfroh) Hallo. (Toepfer und Sekretaerin ab.)

HUBER Hier Huber.

LEHMANN (enttaeuscht) Ach du bist es.

HUBER Hast du jemand anderen erwartet?

LEHMANN Meine Sekretaerin nennt dich noch immer Minister.

HUBER Schoen waers.

LEHMANN Ja, die Zeiten sind vorbei.

HUBER Sie werden immer schwieriger, die Zeiten. Trittin fallen jeden Tag neue Nadelstiche ein.

LEHMANN Wieso? Was macht er?

HUBER Und ihr werdet euer Fett auch abkriegen.

LEHMANN Weiss ich.

HUBER Ich bin so frustriert. Im Moment laeuft alles falsch. In der Partei herrscht ein heilloses Chaos. Durch die Wahlniederlage haben alle moeglichen Idioten Oberwasser gekriegt, die sich frueher nie vorgetraut haetten. Ich ueberlege schon, ob ich auf Verkehrspolitik umsattele.

LEHMANN Du wolltest dich sowieso intensiver um deinen Wahlkreis kuemmern.

HUBER Genau. - Ich habe uebrigens schon dreimal angerufen.

LEHMANN Sorry. Du kennst ja Frau Bauer.

HUBER Ja, ich habe schon Erfahrungen mit ihr gesammelt. Sie vergisst alles.

LEHMANN Sie ist wirklich schlimm. Ineffektiv und wenig lernfaehig. Dazu dauernd krank geschrieben. Neulich wollte ich sie bewegen, Tee und Kaffee fuer das Kolloqium zu kochen. Aber sie hat sich strikt geweigert. Das macht sie nicht. Das haben die Organisatoren des Kolloqiums bisher immer selbst uebernommen, hat sie gesagt. Ich habe zwar versucht, ihr contra zu geben. Ich habe nicht 5 Jahre studiert, 4 Jahre promoviert und 3 Bommeln erworben, um hier Tee und Kaffee zu kochen, habe ich gesagt. Aber nichts zu machen.

HUBER Kannst du sie nicht abschieben?

LEHMANN Abschieben? Die werden wir nicht los. Die wird mich noch ueberdauern, sage ich dir. Ausserdem, und das ist das schaerfste, muss ich sie mir neuerdings mit Fischer teilen. Was wirklich der Gipfel ist.

HUBER Du hast keine eigene Sekretaerin mehr?

LEHMANN Nein.

HUBER Ein Angriff auf die Freiheit von Forschung und Lehre.

LEHMANN Du brauchst gar nicht ironisch werden. In gewisser Weise kann man das tatsaechlich so sehen. Weil sich meine Forschungsarbeit dadurch verzoegert. - Solche Probleme habt ihr natuerlich nicht.

HUBER Wir sitzen eben naeher an den Steuertoepfen.

LEHMANN Wieviele Assistenten und Sekretaerinnen hast du inzwischen?

HUBER Das hat natuerlich abgenommen, seit ich nicht mehr Minister bin.

LEHMANN Die Zustaende bei uns sind wirklich einmalig. Manchmal habe ich das Gefuehl, da steckt System dahinter.

HUBER Was meinst du.

LEHMANN Die linksliberale Universitaetsverwaltung. Was glaubst du, was wir mit denen schon fuer Schwierigkeiten hatten. Grauenhaft.

HUBER Dafuer kannst du dich in deiner Villa entspannen.

LEHMANN So entspannend ist das gar nicht. Fuer die Familie ja. Fuer mich ist die lange Anfahrt ziemlich stressig. Heute frueh habe ich eine Stunde am Anhalter-Bahnhof fest gesessen.

HUBER Das sind die kleinen Nebeneffekte. Des 'Schoener Wohnen', meine ich. Wie weit seid ihr mit dem Umbau?

LEHMANN Fertig.

HUBER Ich habe das Haus ja vor der Renovierung gesehen. War da schon eine Wucht.

LEHMANN Jetzt ist es eine Edelstein.

HUBER Dazu das grosse Seegrundstueck. Habt ihr wirklich Glueck gehabt. Und billig.

LEHMANN Nur, weil ich den Kollegen gut kenne. Seit alten Postdoc Tagen. Und er in Kalifornien keine Verwendung fuer seine ueberraschende Erbschaft am Mueritzsee hatte.

HUBER Und die alten Mieter?

LEHMANN Nichts mehr gehoert.

HUBER Sei froh. Aber so war sie, die DDR-Elite. Zuerst laut bellen. Und wenns drauf ankommt, den Schwanz einziehen.

LEHMANN Hast du inzwischen herausgefunden, wen die neue Regierung in die Reaktor-Sicherheits-Komission berufen will?

HUBER Ich weiss auch nicht mehr als du. Die Anderen konsultieren uns nicht.

LEHMANN Nichts gehoert? Keine Namen? Wen sie ins Auge fassen?

HUBER Das muesstest du besser wissen als ich. Als momentan noch offizieller Geschaeftsfuehrer...

LEHMANN Der auf seine Abloesung wartet.

HUBER ...und Duz-Freund des neuen Ministers.

LEHMANN Das hat nichts zu bedeuten. Hat sich so ergeben.

HUBER Ausserdem bist du parteipolitisch ungebunden.

LEHMANN So ist es. Aber das heisst nicht, dass ich keine Praeferenzen habe. Ich wuerde viel lieber weiter mit euch verhandeln, das kannst du mir glauben.

HUBER Fuer manche Gruene bist du natuerlich ein rotes Tuch.

LEHMANN Ich habe immer versucht, objektiv zu bleiben.

HUBER Allein durch die Funktion, die du inne hattest. In die wir dich berufen haben.

LEHMANN Mag sein. Es gibt Kollegen, die sich viel weiter aus dem Fenster gehaengt haben.

HUBER Du hast dich auf ihre Gutachten verlassen.

LEHMANN Auf ein technisches Gutachten muss ich mich doch wohl verlassen koennen.

HUBER Als Vorsitzender haettest du andere Gutachter beauftragen koennen.

LEHMANN Mag sein. Willst du mir das etwa jetzt vorwerfen?

HUBER Natuerlich nicht. Ich wollte dir nur klar machen, was in denen vorgeht.

 

 

Altenbach allein auf der Buehne.

 

ALTENBACH Es ist spaet. Die Sonne laengst untergegangen. Ich habe das Licht nicht angemacht. Nur die Notbeleuchtung brennt. Die Dunkelheit passt zu meiner gegenwaertigen Verfassung. Da koennen die Depressionen kommen und richtig zuschlagen. - Und wie sie kommen. Wie ein Rudel Woelfe fallen sie ueber mich her. Ich bin am Ende. Weiss nicht, wie es weitergehen soll. Enttaeuschung. Verletzung. Aerger. Wut. Selbsthass. Mein Selbstbewusstsein verstuemmelt. Eine entsetzliche Melange negativer Empfindungen. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Merke, wie ich psychisch kaputt gehe. Dieses ganze System, in dem ich mich jahrelang abgeplagt habe: es stinkt zum Himmel. Stinkt nach Anpassung, Erniedrigung, Zensur, nach Seilschaften, Intrigen, Unwahrheit. Und es stinkt vom Kopf her. Es sind die Herren, noch immer die Herren, die uns das Unglueck bescheren. Es sind die wenigen, denen es gelingt, das Maximum fuer sich herauszuholen, weil sie an das Karrieresystem bedingungslos sich anpassen, seis von Geburt oder aus Ueberzeugung, verlogene, scheinheilige Masken, deren eigentlich Persoenlichkeit im Dunkeln liegt. Man weiss nie, was wirklich in ihnen vorgeht. Und der grosse Rest muss mit den Folgen fertig werden. Muss nehmen, was sie uebrig lassen. Muss sehen, wo er bleibt. - Und die Herren bestimmen. Sie schaffen es immer wieder, uns nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Ich weiss auch nicht, wie sie es machen. Sicher spielt Geld eine Rolle. Geld ist ein grosses goldenes Versprechen, macht Hoffnung auf gute Versorgung. Und wir tragen auch selbst dazu bei. Wir sind irgendwie falsch gepolt. Fallen auf gewisse Methoden und Operationen herein, die sie perfekt beherrschen. In diesem beschraenkten Universum bestimmen sie den Lauf der Welt. Oh, Kosmos der Wissenschaft! Warum bist du so leer und kalt? Warum hast du keinen Platz fuer freie Menschen? Sie benutzen dich zum Transport ihrer Eitelkeiten, ihres Egoismus und ihrer Herrschsucht. Psycho-Muell, den sie auf uns abladen, um selber besser leben zu koennen. Die Wissenschaft ist nur der Mantel, unter dem sie ihn verbergen. Zum sinn-entleerten Vehikel ihrer Machtgelueste ist sie verkommen, voller sinnloser Rituale, die die Position der Herren zementieren. Beziehungsweise, ihnen helfen, sich weiter empor zu hangeln auf der Karriereleiter. Ein kaltherziges, sozialdarwinistisches Kastensystem. Und ein Bescheissersystem! Ja, genau das ist es! Ein Bescheissersystem. In dem man sich widerspruchslos mit den Herrschaftsstrukturen abfinden muss und jeden Satz zweimal ueberlegt, ob er gut ist im Hinblick auf den eigenen Aufstieg. In dem man seine Interessen kurzatmig an vergaenglichen Moden orientiert, hastige Arbeiten publiziert, Schnellschuesse, die im naechsten Jahr keiner mehr liest; aber Hauptsache, sie haben einen dies Jahr ins Gespraech gebracht, waehrend den wahren, draengenden, schwierigen Problemen aus dem Weg gegangen wird, weil sie nichts einbringen in diesem Kosmos der Eitelkeiten. So entsteht eine merkwuerdig stickige, kleinliche Athmosphaere in einem latent korrupten System des Mittelmasses. Denn das Mittelmass ist das, worauf es hinauslaeuft, worauf am Ende die Mittelmaessigen sich am ehesten einigen, das Mittelmass, das sich anpasst und keinem weh tut, weil es sich mit allen bestens versteht. Die nach aussen zur Schau gestellte Offenheit und Laessigkeit, aber innere chauvinistische Beamtenmentalitaet. Das ist die Herrschaft des Mittelmasses, sage ich euch. Besonders Lehmann ist ein Meister im Hervorbringen und Kultivieren dieses stickigen Mittelmasses. Die spezielle Form, die sich in seiner Umgebung quasi automatisch herausbildet, koennte geradezu seinen Namen tragen. Neulich hat er mir von Rom vorgeschwaermt. Ein Jahr Rom, hat er gesagt, das koennte gerade fuer dich interessant sein. Da habe ich schon die Glocken laeuten hoeren. Verlogenes Arschloch. - Im Grunde habe ich es gewusst, immer gewusst. Ich passe nicht hinein, bin nicht dafuer gemacht, fuer dieses System der Ungleichheit, und des Gebens und Nehmens von Vorteilen bin ich nicht gemacht. All die Jahre hat es auf meinen Schultern gelastet, wie ein Alpdruck, dieser Zwang, sich anzupassen. Sich in die Hierarchie einzufuegen, die Hackordnung anzubeten, um eventuell langsam in ihr aufzusteigen, oder, bei Versagen, ausgeschieden zu werden, ausgespuckt wie die letzte Scheisse, und so fuehle ich mich jetzt auch. Scheisse am Wegrand des Fortschritts, der schon laengst keiner mehr ist. Denn die Ideen haben heute ihre Bedeutung verloren. Es gibt zu viele von ihnen, und diejenigen, die neu hinzukommen, sind fuer den Fortschritt entbehrlich, und nur fuer das sinnentleerte Spiel des persoenlichen Vorteils von kurzfristiger Bedeutung. Ich habe es gewusst, und doch jahrelang mitgetan, bei diesem feinsinnigen Spiel, in dem niemand zu offensichtlichem, koerperlichem Schaden kommt und doch mancher ueber die Klippe geht. Ich habe mitgespielt, nicht aus Ueberzeugung, muss ich sagen, sondern weil ich mir Hoffnungen gemacht habe. Pragmatismus koennte man es nennen. In Wirklichkeit ist es Opportunismus und Feigheit gewesen. Auch die Feigheit, mir selbst in die Augen zu sehen und die Konsequenzen zu ziehen. Denn die Freiheit, mit der Wissenschaft aufzuhoeren, hat man natuerlich. Natuerlich! Keiner wird gezwungen. Und daher hat auch niemand Schuld. Und wer von Tyrannei und Unfreiheit spricht, stellt sich nur selbst ins Abseits. - Dieselbe Feigheit ist letztlich auch fuer meine Niederlage verantwortlich. Weil ich all diesen Kanonen, die hier das Sagen haben oder in Zukunft das Sagen haben werden, in der einen Hinsicht nicht gewachsen bin. Sie sind mutig, wo ich verzage, in ihrer Verlogenheit sind sie mutig, in ihrem Geschleime und Intrigantentum, und sie wuerden einiges aufs Spiel setzen, sogar ihr Leben wuerden sie aufs Spiel setzen, um zu gewinnen. Sind leichtfuessig und unbeschwert und werfen Ansichten und Moral, Ueberzeugungen und ganze Weltanschauungen bedenkenlos ueber Bord. Aber auch ich bin opportunistisch gewesen, habe vieles verraten, woran ich frueher glaubte. Dinge gesagt und getan, auch forschungsmaessig, fuer die ich eigentlich nicht einstehen kann. Dafuer schaeme ich mich jetzt. Und bin gestraft dafuer. Mit verlorenen Jahren. Ja, letztlich verloren. Denn zwar existieren meine Arbeiten weiter im Bauch der Wissenschaft, werden zuweilen auch gelesen, und niemand kann sie mir nehmen. Doch wieviel Kraft hat mich dies alles gekostet! Wieviel Enthusiasmus und Leidenschaft! Im Verhaeltnis dazu sind meine Ergebnisse mager, armselig, kuemmerlich. Kein grosser Wurf zu erkennen. Mit dieser Kraft, mit dieser Leidenschaft haette ich unter anderen Bedingungen wesentlich mehr leisten koennen.

REGISSEUR Ja, ja. Rede es dir nur schoen, dein Versagen.

ALTENBACH Doch, wirklich. Wobei ich zugebe, da ist auch ein ontologisches Element. Die Machtspielchen an sich waeren harmlos, wirkungslos, wenn sie nicht auf die untergruendige Absurditaet der menschlichen Existenz bauen koennten. Dass alles im Tode endet, meine ich.

REGISSEUR Das macht dich frei, dein eigenes Spiel zu spielen.

ALTENBACH Schoen waer‘s. Leider gehorcht das System einer gewissen Logik, die uns Menschen immer wieder in seinen Bann zieht; einer perfiden Logik allerdings, deren Grundlagen wie Pfloecke in faulem Wasser stehen. Und ich will sauberes Wasser, eine vernuenftige Existenz, und vernuenftige, menschliche Regeln.

REGISSEUR Und wie muessten die aussehen, diese Regeln?

ALTENBACH Menschlichkeit. Und Freiheit. Ja, besonders Freiheit. Ich will frei sein! Wenn ich morgens aufstehe, will ich mich auf einen Tag ohne Machtrituale freuen, einen Tag, an dem ich mich nicht an Lehmanns Vorgaben zu halten habe, an seine beschraenkten Ideen, das wissenschaftliche Mittelmass, das er verkoerpert. Will frei sein, mit freien Ideen, und meinen Kopf will ich oben tragen. - Aber ach, so viele Jahre unter dem Joch. Selbst wenn man ihn von mir naehme, diesen Alpdruck, es wuerde eine Druckstelle uebrigbleiben, meine Sklavenmentalitaet, das Brandzeichen misslungener Anpassung, eine grosse wunde Stelle, an der ich mich fuer den Rest meines Lebens reibe.

REGISSEUR Stop. Ich kann es nicht mehr hoeren. Unertraeglich, deine Larmoyanz, dein Selbstmitleid. Wer interessiert sich dafuer!

ALTENBACH Ja, du. Du kennst das natuerlich nicht. Du hast wohl nie so empfunden.

REGISSEUR Auch ich habe Misserfolge gehabt.

ALTENBACH Aber du bist aufgestiegen, hast die ersten Stufen auf der Karriereleiter bereits hinter dir. Bist in gewissen Theaterkreisen fast eine Institution.

REGISSEUR Kann ich dafuer?

ALTENBACH Kannst du dafuer? Jeder weiss, wie du dich damals ins Zeug gelegt hast, dass dein erstes Stueck aufgefuehrt wird. Wie alles nichts genuetzt haette, wenn du nicht diesem bekannten Frankfurter Kulturkritiker in den Hintern gekrochen waerest, mit einem Kotau, der selbst ihm, der doch einiges an Selbsterniedrigung gewohnt ist, der die wuerdelose Selbsterniedrigung von Autoren zum Leben braucht wie andere die Luft zum Atem, ins Staunen, ins innere Schwaermen gebracht hat, der, angesichts eines solchen Masses an Devotheit nicht umhin konnte, unseren verehrten Intendanten, der bevorzugt den Arien Frankfurter und Muenchener Kritiker lauscht, auf dich aufmerksam zu machen. Und damit warst du im Ring.

REGISSEUR Ja, ich durfte inszenieren. Aber das ist laengst nicht alles, wonach mein Herz mich ruft. Regie ist das eine. Eine anspruchsvolle Taetigkeit, gewiss, die ein Berufsleben restlos ausfuellen kann. Aber Schreiben. Schreiben, das ist meine wahre, innere Leidenschaft. Schreiben bedeutet das Originaere, das heute ein Luxus geworden ist. Schreiben bedeutet Freiheit. Da staunst du. Ja, auch ich strebe nach Freiheit.

ALTENBACH Freiheit? Beliebigkeit wuerde ich das nennen. Kunst und besonders Theater sind Potemkinsche Doerfer, formschoenes Gaukelspiel. - Dagegen die Wissenschaft!

REGISSEUR Was, wenn sie auch ein Gaukelspiel waere? Ist es nicht das, was dein ganzes Gejammer letztlich unterstellt?

ALTENBACH Gegenfrage: ist es nicht die Furcht, als Autor zu versagen, die dich vom Schreiben abhaelt?

REGISSEUR Du weisst genau, was mich abhaelt. Schreiben bedeutet Ruhe, und die hatte ich nicht. So musste ich das dringende Beduerfniss Jahr um Jahr hintan stellen. Aber du kannst mir glauben: mein Schreibdrang ist groesser denn je. Am liebsten wuerde ich heute noch loslegen mit meinem lang gehegten Projekt.

ALTENBACH Wieviele Zeilen gibt es denn schon?

REGISSEUR Keine einzige. Aber es ist ein grosser Stoff, den ich mit mir herumtrage, das kannst du mir glauben, und eigentlich kann er nicht mehr warten.

ALTENBACH Ich weiss. Das hast du mir schon vor Jahren erzaehlt. Nachwuchsdramatiker bist du gewesen, des Jahres ... Wann war es? 98? Ja? Lange her. Gerade mal zwei Stuecke hast du seitdem zu Papier gebracht, und die auch nur, nach meinem Eindruck, um irgendetwas vorweisen zu koennen. In Wirklischkeit bist du kein Autor. Was du am liebsten machst, ist, bekannte Stuecke ein wenig umzumodeln und aufzupeppen. Ja, darin bist du Meister. Im Abwandeln, im schnellen Nutzen-Ziehen. Schillernde Motive in einem Kochtopf zusammenruehren. Dieser ganze Plunder, den du jahrelang mit uns aufgefuehrt hast!

REGISSEUR Du bist ungerecht. Wie hart habe ich gearbeitet! Fuer mich und fuer euch. Die vielen Pflichten als Oberspielleiter fressen mich auf.

ALTENBACH Der Herr Oberspielleiter. Der voellig selbstlose Herr Oberspielleiter!

REGISSEUR Ja. Dass ich mich dabei vor allem um euch Schauspieler kuemmere, scheint dir nicht aufzufallen! Viel zu frueh habe ich Verantwortung uebernehmen muessen. Natuerlich, ein wenig stolz darauf bin ich auch, dass man mir diese wichtige Aufgabe uebertragen hat. Das wirst du mir zubilligen. Aber hauptsaechlich geht es um euch. Ihr seid mein Ensemble, meine Kinder. Ihr braucht Vertraege, Wohnungen; da muss ich reden, inszenieren, und nicht zuletzt fuer das zwischenmenschliche Miteinander sorgen.

ALTENBACH Auch das Zwischenmenschliche zu Intendanten und Kulturkritikern ...

REGISSEUR Natuerlich. Was ist dabei?

ALTENBACH Was mich am meisten wundert: dass du mein Stueck inszeniert hast.

REGISSEUR Es war ein Fehler, ich weiss. Ich habe mich zu sehr von dir beeinflussen lassen. Auch der Intendant ist unzufrieden. Er haette es schon laengst abgesetzt; aber im derzeitigen Haushaltschaos, sagt er, kann er keine vernuenftige Entscheidung faellen. Du hast zwar ein paar nette Dialoge geschrieben, aber letztlich keine Ahnung, worauf es in modernen Stuecken ankommt.

ALTENBACH Worauf denn?

REGISSEUR Erstens, die Spannung. Die fehlt bei dir voellig. Bei dir ist alles so ... klar. Vorhersehbar. Du bist der grosse Ideologe, kennst keine Nebenwege. Dabei machen die Nebenwege das Leben aus. Und auch das Drama. Und zweitens, deine Eigenbroetelei. Der moderne Autor ist kein Schreibtischtaeter. Wenn du als Autor in der heutigen Landschaft bestehen willst, musst du praesent sein. Du musst immer da sein, und zwar mit grossen bunten ausgefallenen Aktionen, mit Knallern, die dich ins Feuilliton katapultieren. Das predige ich uebrigens auch euch Schauspielern staendig. Ihr muesst praesent sein. Versuchen, jedes Jahr mindestens ein Grossprojekt zu machen. Am besten einen Tatort drehen. - Das macht dir Angst, oder. Gerade dir macht das Angst.

ALTENBACH Mag sein. Vielleicht bin ich aengstlich. Auf jeden Fall traeume ich nicht von einer Tatort-Rolle.

REGISSEUR Ich weiss. Du traeumst von Revolte.

ALTENBACH Dies ist nicht die Nacht der Revolte, wenn du das meinst. Aber ich kann analysieren. Und ich sehe, dass es zwei Arten der Kommunikation gibt, zwei ganz verschiedene Muster, die auf etwas voellig verschiedenes hinauslaufen. Das eine Muster, das Wahrheitsmuster, entspricht dem Beduerfnis, etwas zu sagen, weil ich an dieses Etwas glaube, von ihm ueberzeugt bin. Und in der Fortsetzung dieser Kommunikation geht es dann darum, ob meine Ueberzeugung wahr oder falsch ist. Es eignet sich hervorragend dazu, zu arbeiten, technische Probleme zu loesen, aber auch, um andere von einem Plan zu begeistern, und generell den Fortschritt, auch den wissenschaftlichen und den in den menschlichen Beziehungen, voran zu bringen. Das zweite Muster, das Anpassungsmuster, kommt zustande, wenn ich etwas sage, einzig, um andere damit zu beeindrucken, damit sie positiv von mir denken. In diesem Muster loesen bestimmte Kernbegriffe der Vernunft, wie zum Beispiel die Wahrheit, sich auf, versinken in einer schaebigen Sauce fragwuerdiger Empfindungen, Eitelkeit, Unterwerfung usw... alles, was ich oben beklagt habe. Das Anpassungsmuster unterstuetzt nur die Funktion der Hierarchie, bringt keinen wirklichen Fortschritt. Was der eine gewinnt, geht dem anderen verloren. Natuerlich gibt es auch Mischformen. Oft kann man Menschen am ehesten mit Wahrheiten beeindrucken, oder mit dem, was sie fuer Wahrheit halten. Aber gerade diese Mischformen greifen die Wahrheit besonders stark an, weil sie sie fuer ein Butterbrot verkaufen.

REGISSEUR Du bist zu radikal. Der Mensch muss auch essen und leben koennen. Und sich mit anderen verstehen. Ein gutes Wort kann viel Gutes bewirken.

ALTENBACH Dagegen rede ich nicht. Gegen Guete rede ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass Guete hier die treffende Kategorie ist. Die Kategorie hier heisst Verlogenheit. Mit der wird der allgemeine Egoismus verhuellt.

REGISSEUR In dieser Hinsicht sind die Physiker nicht anders als der Rest der Gesellschaft. Jeder versucht, moeglichst viel fuer sich herauszuholen.

ALTENBACH Und wozu? Der technische Fortschritt hat uns wahrlich Wohlstand genug gebracht hat, dass wir auf solche Sperenzchen verzichten koennten. Koennten! Aber die Herren sind so. Das ist ihre Kraft. Und die Sklaven sind so. Das ist ihr Schicksal. Daher beschloss ich, dieses Stueck zu schreiben, um nicht zu denen zu gehoeren, die schweigen, und um fuer die Verlorenen Zeugnis abzulegen, damit wenigstens eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit bleibt, und an die strukturelle Gewalt, die ihnen angetan wurde. Und um einfach zu sagen, was man im Wohlstand lernt, dass es am Menschen mehr zu verachten als zu bewundern gibt.

 

 

Berlin, drei Monate spaeter

Wiederum Lehmanns Buero. Herr Cheng, ein Koreaner, der sich im folgenden Gespraech mehrfach laechelnd verbeugt, klopft bei Lehmann an. Der telefoniert gerade.

 

LEHMANN Du, warte mal. Ich bekomme Besuch. Koennen wir morgen weiter machen? Ja? (legt auf)

LEHMANN Herr Cheng? (Der Koreaner nickt.)

LEHMANN Herzlich willkommen. Wir freuen uns, dass Sie da sind. Hoffentlich hatten Sie eine gute Reise.

CHENG Ja.

LEHMANN Sicher sehr anstrengend? Ein weiter Flug.

CHENG Oh, ich fliege geln.

LEHMANN (jovial) Ja, ihr seid immer noch froh, wenn ihr mal eine Dienstreise genehmigt bekommt.

CHENG Eulopa sehl intelessant fuer mich aus Wunoi.

LEHMANN Wunoi? Ich dachte, Sie waeren aus Seoul.

CHENG Unsel kleines Institut nicht weit von Seoul.

LEHMANN Klein? Ich sehe, sie neigen zu Untertreibung.

CHENG (verbeugt sich)

LEHMANN Kommen Sie direkt vom Flughafen?

CHENG Nein, ich schon in Hotel gewesen.

LEHMANN Und? Mit der Unterkunft zufrieden?

CHENG Sehl. Abel dalf flagen: wie hoch wild meine Beitlag sein?

LEHMANN Beitrag? Ach, Sie meinen ... Nein. Nichts. Alle Kosten werden selbstverstaendlich von uns uebernommen.

CHENG Viele Dank. Sehl glosszuegig. Ein delaltiges Zimmel ich noch nie gehabt. Sehl schoen.

LEHMANN Ja, ich habe das Hotel selbst ausgesucht.

CHENG Blick auf die beluehmte Museumsinsel.

LEHMANN Oh ja. Fuer Bommeltraeger muss es schon etwas besonderes sein. (da Cheng keine Bommeln hat) Leider gibt es bei euch den altbewaehrten Brauch der Bommeln nicht.

CHENG Nein, leidel noch nicht geben. Abel sollen demnaechst eingefuehlt welden.

LEHMANN Eingefuehlt. (lacht) Sehr schoen. Es hat schon sein gutes, Vorbilder zu haben, an denen man sich orientieren kann.

CHENG Wollen bewaehlte westliche System der Wissenschaften moeglichst 1 zu 1 uebelnehmen.

LEHMANN Uebelnehmen?

CHENG Ja. Uebelnehmen.

LEHMANN Ach so, ja. (lacht wieder) Bommeln wuerden Ihnen gut stehen.

CHENG Viele Dank. (verbeugt sich. Schweigen. Schliesslich blickt Lehmann auf seine Uhr.)

LEHMANN Ich habe fuer uns einen Tisch bestellt.

CHENG Tisch bestellt?

LEHMANN Ja, Sie werden hungrig sein.

CHENG Ach so, Lestaulant, ja. Gut.

LEHMANN Das 'Paris'. Ein huebsches kleines Lokal, ganz in der Naehe. Mit franzoesischen Spezialitaeten. Wenn Sie einen Moment warten. Ich werde meine Assistenten zusammentrommeln.

CHENG Doktol Altenbach auch hiel?

LEHMANN Ja, er wird ebenfalls mitkommen. Woher kennen sie ihn?

CHENG El in Wunoi gewesen.

LEHMANN Ach richtig, er war in Korea. - Ich soll sie uebrigens herzlich von Boeck gruessen.

CHENG Boeck?

LEHMANN Ja. Er laesst ihnen ausrichten, er waere sehr froh gewesen, sie auch in Heidelberg begruessen zu duerfen.

CHENG (verbeugt sich)

LEHMANN Natuerlich hat er Verstaendnis, dass Sie bei Ihren vielen Verpflichtungen ...

CHENG (verbeugt sich)

LEHMANN Na, ich werde jetzt mal ... (holt seine Assistenten, u.a. Altenbach und Toepfer)

 

 

Die Gruppe kommt ins Restaurant. Altenbach will sich neben Lehmann setzen.

 

LEHMANN Der ist fuer Herrn Cheng reserviert.

ALTENBACH Ach so. Entschuldige. (will sich gegenueber setzen)

LEHMANN Und der fuer Toepfer.

(Altenbach sitzt mit den Studenten am Katzentisch. Studium der Speisekarten. Sie bestellen Getraenke.)

CHENG Fuel mich 2 Weinbland, bitte.

LEHMANN (sieht ihn ueberrascht an)

CHENG Meine Alt, mich bei euch eingewoehnen. Jedesmal, wenn ich nach Eulopa kommen, ich tlinke als elstes eine Flasche Weinbland. (trinkt sein Glas auf ex)

LEHMANN Eine ganze Flasche?

CHENG Ja. (zum Kellner:) Bitte nochmals. (zu Lehmann:) Deutsche Weinbland unvelgleichlich. Fuel mich glosse Sensation. Land von Einstein und Heisenbelg hat beste Schnaepse volgeblacht. Ich mit euch anstossen auf Zukunft. Auf Kolea und Deutschland. Gute Zusammalbeit.

LEHMANN Sie entschuldigen, dass ich mich mit Bier begnuege. (sie stossen an) - Fischer war leider unabkoemmlich. Irgendein dringendes Gespraech. Will spaeter auf jeden Fall nachkommen.

CHENG (verbeugt sich)

TOEPFER In Hamburg hat sich schon wieder einer umgebracht. Ein Student.

LEHMANN Bei jungen Wissenschaftlern gibt es die hoechsten Selbstmordraten. Stand neulich gross in der Zeitung.

TOEPFER Der Stress wahrscheinlich. Der innere Druck, staendig etwas Neues erfinden zu muessen.

LEHMANN Und bei jungen Schauspielern.

TOEPFER Hoer bloss auf.

LEHMANN Soviel Neues gibt es in der Kernphysik gar nicht mehr zu entdecken, dass man sich dafuer umbringen muesste.

TOEPFER Wie ist denn bei Ihnen die Lage?

CHENG Lage?

TOEPFER Bezueglich Selbstmorden. Hat nicht Korea eine der hoechsten Raten der Welt?

CHENG Selbstmold? Ach so, ja. In allgemeine Bevoelkelung lelativ hohe Late. Bei Wissenschaftleln wenig.

LEHMANN (zeigt auf Schnapsglas) Bei euch scheinen die Wisschenschaftler mehr so Genussmenschen zu sein.

CHENG Zu tun haben mit gute Belufsaussicht fuel Wissenschaftlel in unsele Land.

LEHMANN Beluftaussicht?

CHENG Be-lufs-aus-sicht.

LEHMANN Ah ja. (Das Essen wird aufgetragen. Cheng, offenbar betrunken, faengt an, Grimassen zu schneiden und Lehmann auf die Schultern zu klopfen.)

LEHMANN (schiebt seinen Arm weg) Sie sollten immer zuerst etwas essen. Auf einer soliden Grundlage laesst sich Alkohol besser vertragen.

CHENG Hell Plofessol Vielbommel. Muessen das velstehen. Wil Koleaner soviel gute Alkohl nicht gewoehnt.

LEHMANN Dann sollten Sie nicht soviel davon trinken?

CHENG Del Stoff gute Stoff. Keine Flage. Ich sie nicht beleidigen fuel Einladung. Aber uns fehle Enzym. Bei uns Alkohl nicht abbauen. Bleibe in Blut. Laeuft um und um und um (laesst seine Arme kreisen) wie in ewige Stlomkleis. Suplaleitung, du verstehst? Bis uns ganz schwindelig wild.

TOEPFER Mir wird von Alkohol auch oefter schwindelig.

CHENG Bei dil abbauen. Bei mil nicht. Kennen Suplaleitung? Dort auch Stlom nicht verlolengehen. Laeuft um und um und um (laesst wieder seine Arme kreisen). Immel da bleiben.

LEHMANN (entnervt) Schon gut.

CHENG Ich Genussmensch. Du sagen. Ich nie denke an folgende Tag. Ich nie denke an Kopfschmelzen. Ich nie denke an, was andele von mil denken. Sei ich Plofessol, sei ich Student. Ich nie denke an alte Albeiten, ob lichtig odel falsch. Weil der Stlom, der in mil kleist, kleist in uebelall. Kleist in dil, in dil, in dil (zeigt auf die anderen). Kleist in Natul und Teilchen. Kleist auch in Geist. In unsele Inspilation. Elst im Kleisen ist el wilklich wilksam. (erhebt sich) Du entschuldigen. Ich jetzt splechen mit gute alte Fleund. (schwankt zu Altenbach an den Tisch.)

LEHMANN (zu Toepfer) Etwas unhoeflich, das Schlitzauge.

TOEPFER Anscheinend weiss er nicht, was sich gehoert.

LEHMANN Gerade in Asien, habe ich gedacht, wuerden die guten Sitten noch hochgehalten.

CHENG (zu Altenbach) Wie geht es dil?

ALTENBACH (prostet ihm zu) Och, so lala.

CHENG Und deine Lechnung uebel Tlipol-Folmfaktol? Feltig?

ALTENBACH Ja, schon lange.

LEHMANN (zu Toepfer) Typisch. Interessiert sich fuer olle Kamellen.

ALTENBACH (zu Cheng) Aber sag mal. Warum behandelt dich Lehmann wie ein rohes Ei?

CHENG Nicht wissen. (grinst) El anscheinend denken, ich sehl hohes Tier. Bei uns viele Cheng.

ALTENBACH Dann solltest du ... (Fischer kommt heran. Stuermt auf Lehmann zu.)

FISCHER Hast du den neuen SPIEGEL gelesen?

LEHMANN Nein ... wieso?

FISCHER Das solltest du unbedingt tun. Da steht ein sehr kritischer Artikel ueber unser Arbeitsgebiet.

LEHMANN Hat es mit mir zu tun?

FISCHER Nein. Mit Neusel.

LEHMANN Neusel?

FISCHER Der SPIEGEL zitiert aus einem Untersuchungsbericht der Forschungsgesellschaft, in dem die Arbeiten von Neusel und Niemeier als manipuliert bezeichnet werden. Besonders Omega-Zeta.

LEHMANN Zeig mal her.

FISCHER Die Forschungsgesellschaft hat offenbar mehrere Leute mit einer Begutachtung beauftragt.

LEHMANN Wie kommen die denn auf die Idee?

FISCHER Keine Ahnung. Ich weiss nicht, wer das losgetreten hat. Die Gutachter sind zum Teil Amerikaner ... Wasserbottel, aber auch andere.

LEHMANN Und was sagen sie?

FISCHER Faelschung. Eindeutig. Sie sind einhellig der Meinung, dass vor allem gegen Neusel entschieden vorgegangen werden muss. Eben hat mich Korwas angerufen. Sie beabsichtigen, Neusel den Bommel abzuschneiden.

LEHMANN Du meinst, Kuendigung?

FISCHER Ja.

LEHMANN Das ist wirklich ein Schock. (Schweigen) Ich verstehe nicht, was er sich dabei gedacht hat.

FISCHER Er hat es wahrscheinlich als eine bequeme Methode gesehen, um schnell bekannt zu werden.

LEHMANN Es muss ihm doch klar gewesen sein, dass das irgendwann herauskommt. Ich werde morgen frueh als erstes mit dem Rektor reden. Unter diesen Umstaenden muss unsere Liste geaendert werden.

FISCHER Wie ich unsere Juristen kenne, muss die Stelle ganz neu ausgeschrieben werden.

LEHMANN Egal. In unserem Institut sollen Betrueger und Faelscher keine Chance haben. – Was sagt denn Boeck dazu? Ich meine, Niemeier arbeitet doch bei ihm.

FISCHER Er ist auch ziemlich betroffen. Voellig ueberrumpelt. Er sagt, er kennt Niemeier seit Jahren und traut ihm das ueberhaupt nicht zu. Niemeier sei in allem immer absolut zuverlaessig.

LEHMANN Wahrscheinlich gibt es ein Disziplinarverfahren.

FISCHER Niemeier kommt in den Gutachten nicht ganz so schlecht weg.

LEHMANN Er ist der Co-Autor.

FISCHER In den Gutachten wird auf die Moeglichkeit hingewiesen, dass er von den Manipulationen nichts gewusst haben koennte.

LEHMANN Wie will man das feststellen?

FISCHER Anscheinend sind hauptsaechlich die Teile gefaelscht, wo Neusel der Experte ist.

LEHMANN Man wird die beiden hoeren muessen.

FISCHER Hat man bereits. Niemeier streitet alles ab, waehrend Neusel gestaendig ist.

LEHMANN Das muss nichts heissen.

FISCHER Wobei Niemeier, wie Boeck mir sagte, psychisch in einem sehr schlechten Zustand ist. Er leidet sowieso schon seit Jahren an Depressionen, und ein derartiger Vertrauensbruch seitens eines guten Freundes koennte ihn, laut Boeck, voellig aus der Bahn werfen.

LEHMANN Du glaubst wirklich, dass er mit der Sache nichts zu tun hat?

FISCHER Ja. Weil auch ich ihn gut kenne. Er ist absolut ehrlich. Und ich denke, viele Kollegen werden mir beipflichten.

REGISSEUR Bravo. (klatscht von der Seite her Beifall)

LEHMANN Ich sehe schon, worauf es hinaus laeuft. Du willst ihn mir immer noch als Kandidaten empfehlen.

FISCHER Genau.

LEHMANN (laechelt) Ganz schoen hartnaeckig. Lass uns noch einmal darueber reden, wenn sich der Staub gelegt hat.

FISCHER Sicher. Zuerst muss die Schuldfrage offiziell geklaert werden.

LEHMANN Die Frage der Schuld ist das eine. Das andere sind die Folgen fuer uns alle.

FISCHER Du sagst es.

LEHMANN Ein gefundenes Fressen fuer die neue Regierung. Das ideale Argument, uns die Foerdergelder noch weiter zusammen zu streichen.

FISCHER Genau. Auch der SPIEGEL benutzt Neusel nur als Aufhaenger, um auf uns alle einzudreschen. Es ist ein sehr negativer Artikel und wir werden ... (sein Handy klingelt) Ja? - Was? - Wann denn? - Wer hat ihn gefunden? - (zu den Umstehenden:) Neusel hat sich umgebracht.(Schweigen)

TOEPFER Das haette ich jetzt nicht gedacht.

LEHMANN Ich dachte, Niemeier waere der Depressive.

FISCHER Wenn er der Hauptschuldige ist.

LEHMANN Wie hat er es getan?

FISCHER Aufgehaengt.

LEHMANN Das ist natuerlich auch eine Loesung.

FISCHER Erschwert allerdings die Untersuchung. Ich meine, man wird sich jede einzelne Arbeit genau ansehen muessen, und ohne Neusels Aussagen ...

LEHMANN Jede Arbeit?

FISCHER Ja.

LEHMANN Was ist mit den Instanton-Rechnungen? Ob die auch falsch sind?

FISCHER Vielleicht.

LEHMANN Dann muesste ich mehrere meiner Arbeiten korrigieren?

FISCHER Wieso?

LEHMANN Sie basieren auf Ergebnissen von Niemeier und Neusel.

FISCHER Ach so. Naja. Kann schon sein. Aber ich wuerde warten, bis die richtigen Resultate feststehen. Vorher gar nichts tun. So verfaehrt auch Boeck mit einigen Rechnungen, die auf den Omega-Zeta-Resultaten beruhen. Warum, hat er mich gefragt, soll ich etwas zuruecknehmen, fuer das ich gar nicht verantwortlich bin. Erst mal abwarten, hat er gemeint. Bis das korrekte Ergebnis bekannt ist. Bis dahin koennten Jahre vergehen. Bis dahin sei er laengst emeritiert.

LEHMANN Ganz sauber ist das nicht.

FISCHER Wieso? Selbst wenn Neusel seine Ergebnisse nur geraten hat, koennen sie ebensogut richtig wie falsch sein. Sei doch mal ehrlich. Sowohl Omega-Zeta als auch die Instanton-Resultate haben im Moment ueberhaupt keine praktische Bedeutung. Fuer kein gegenwaertiges Experiment. Es ist nun einmal so, dass Neusel immer nur fuer die glorreiche Zukunft gerechnet hat.

REGISSEUR Ihr wollt mir doch nicht erzaehlen, dass diese Betruegereien keinerlei Konsequenzen haben.

FISCHER Fachlich nicht.

CHENG (lallend, zum Regisseur) Nicht so eng sehen du. Nicht so elnst nehme.

LEHMANN Sicher haben sie Konsequenzen. Zunaechst einmal personeller Art.

REGISSEUR Aber es geht bei euch doch um Kernreaktoren. Da muessten doch alle Alarmglocken schrillen. Dass demnaechst ein Reaktor hochgeht.

FISCHER Sie muessen das nicht so hysterisch sehen. Wir sind Wissenschaftler. Wir beschaeftigen uns zwar auch mit sicherheitsrelevanten Themen. Ich sage auch. Aber doch nicht so, das wir in den laufenden AKW-Betrieb eingreifen. Was wir heute untersuchen, sorgfaeltig und abgewogen untersuchen, wird fruehestens in 10 oder 20 Jahren relevant. Fuer die naechste oder uebernaechste Reaktor-Generation.

LEHMANN Wenn ueberhaupt. Vieles wird auch wieder verworfen, bevor es in den Echteinsatz kommt.

REGISSEUR Und dazu gehoert vermutlich alles, was Niemeier und Neusel gemacht haben.

FISCHER Warum reiten Sie eigentlich so darauf herum? Fuer Sie ist das doch voellig ohne Belang.

CHENG (zu Altenbach) Niemeil scheine sein gute Schauspielel.

ALTENBACH Sind wir nicht alle Schauspieler?

CHENG Niemeil del beste.

ALTENBACH Unser Intendant ist besser.

CHENG Auch Legisseul Schmalstieg gute Schauspielel.

ALTENBACH Schmalstieg ist Autor. Behauptet er zumindest.

CHENG Auch Autolen Schauspielel. Autol Schauspielel del Innellichkeit, weil, was Autol beschleiben, in Wilklichkeit gal nicht gibt. Liebe in Liebesloman nicht gibt, Molde in Moldloman nicht gibt, und alle Folgelungen vom Autol elfunden.

ALTENBACH Du mit deinen philosophischen Spitzfindigkeiten.

CHENG Was du meinen?

ALTENBACH Wenn ich dich richtig verstehe, stellst du Schriftsteller mit Luegnern auf eine Stufe.

CHENG Ja. Schliftstellel kann flei elfinden. Alles Geschehen. Wie Leute in Loman leagielen. Kann A oder B sagen. Beides gelogen.

REGISSEUR (zu Lehmann) Wenn es keine Auswirkungen hat, warum vergessen Sie nicht einfach, was Neusel getan hat?

LEHMANN Das geht nicht. Eine Luege, ein Betrug ...

FISCHER Luege, das ist ein grosses Wort. Wie Wahrheit uebrigens auch.

LEHMANN Wahrheit ist wohl das groessere von beiden.

FISCHER Du machst es dir leicht.

LEHMANN Weil sie eben, mit ihrem Anspruch, sehr tief fallen kann. Aber Luege. Luege ist doch ...

FISCHER Was?

LEHMANN Luege ist schamlos, und gemein.

FISCHER Eine Luege ist im Grunde immer ein Gestaendnis. Das Eingestaendnis eines Unvermoegens.

LEHMANN Schon moeglich. Aber was habe ich, als Belogener, davon?

FISCHER Zunaechst einmal nichts. Die Luege hat dir geschadet. Du hast sie als Grundlage genommen und eine falsche Entscheidung getroffen ...

LEHMANN Eben.

CHENG Du vorsichtigel sein. Nicht alles glauben, was man dil elzaehlt.

LEHMANN Hoeren Sie mal; wenn mir einer wieder und wieder im Brustton der Ueberzeugung vortraegt, was er angeblich herausgefunden hat und sogar die Zwischenrechnungen faelscht. Wenn er dann noch falsche Zeugen anschleppt ...

CHENG Sie euch nicht haetten gelogen, wenn sie Hoffnung gehabt haetten. Wel ohne Hoffnung ist, luegt. Wel luegt, gewinnt Hoffnung aus del Luege. Luegen ist menschlich, sozusagen, die Wahlheit tielisch.

TOEPFER Nicht jede Wahrheit und nicht jede Luege.

CHENG Tu bloss nicht so.

 

 

Zweigeteilte Buehne. Links Altenbachs Buero, spartanisch eingerichtet. Er sitzt deprimiert am Schreibtisch. Niemeier kommt mit zwei Sektflaschen an. Setzt sich neben ihn. Auf der rechten Seite der Buehne ist ein aztekisches Heiligtum aufgebaut. Treppenstufen fuehren auf einen Absatz, von dem Menschenopfer in die Tiefe gestuerzt werden koennen.

 

NIEMEIER Komm, lass uns feiern.

ALTENBACH Mir ist nicht nach feiern.

NIEMEIER Ach komm. Sei nicht so. Seit wann bist du einem Besaeufnis abgeneigt?

ALTENBACH Seit ich Depressionen habe. Muesstest du doch kennen.

NIEMEIER Ja schon. Aber heute ist mein Freudentag. Endlich habe ich die Stelle bekommen. Endlich keine Sorgen mehr.

ALTENBACH Das ist allerdings ein Grund, die Sektkorken knallen zu lassen. Her mit dem Fusel. (sie prosten sich zu)

NEUSEL (stuerzt herein) Hoert auf. Hoert auf zu spielen. Sie verarschen euch. Ihr sollt zum Ende der Spielzeit alle entlassen werden.

ALTENBACH Das wissen wir doch bereits.

NEUSEL Was wisst ihr?

ALTENBACH Dass hier einige Leute ihren Job verlieren werden.

NEUSEL Einige? Alle! Der ganzen Belegschaft wollen sie kuendigen.

ALTENBACH Wer sagt das?

REGISSEUR (kommt heran, will Neusel von der Buehne scheuchen) Hoer mal zu. Du bist tot, du. Du hast hier nichts zu suchen.

NEUSEL Ja, auch du. Du sollst auch entlassen werden.

REGISSEUR Sie koennen mich gar nicht entlassen, weil mein Vertrag sowieso auslaeuft.

NEUSEL Und sowieso wird er nicht verlaengert.

REGISSEUR (besorgt) Woher weisst du das?

NEUSEL Der Intendant hat sich mit dem Kaemmerer geeinigt, hier nur noch Gastspiele aufzufuehren.

KAEMMERER (kommt aus dem Publikum auf die Buehne) Meine Herren, ich bin zufaellig hier anwesend.

REGISSEUR Wer sind Sie? Ich bitte alle, die nicht auf die Buehne gehoeren, sich zu schleunigst entfernen.

KAEMMERER Bitte entschuldigen Sie. Wenn ich mich vorstellen darf. Ich bin der Kaemmerer.

ALLE Hohoho.

KAEMMERER Zunaechst moechte ich Sie beruhigen. Niemand hat ein Interesse, das Theater zu schliessen. Unsere Stadt hat schliesslich einen Ruf zu verlieren. Auch wenn nicht alle Stuecke, die wir hier zu sehen bekommen, allerhoechsten Anspruechen genuegen.

ALLE Hohoho.

KAEMMERER ... und die Truppe mir heute abend teilweise wie eine Laienspielschar vorkam.

REGISSEUR Was reden Sie da? Sind Sie nicht ganz bei Trost?

KAEMMERER Wenn Figuren, auch Totgesagte, nach Belieben ueber die Buehne tanzen, und der Regisseur immer wieder eingreifen muss, um Ordnung in das Chaos zu bringen ...

REGISSEUR Ist das Ihre Sache? Ich finde Sie unmoeglich, dass Sie so reden.

KAEMMERER Bei dieser Arbeitshaltung kann es nicht schaden, wenn ihr etwas ausgeduennt werdet.

REGISSEUR (ins Publikum) Ich finde den unmoeglich.

ALTENBACH Wie wuerden Sie denn spielen, wenn Sie wuessten, dass Sie auf der Abschussliste ihres Buergermeisters stehen?

KAEMMERER Ich wuerde erst einmal nachdenken und mir die Argumente der Gegenseite anhoeren.

ALTENBACH Schiessen Sie los.

KAEMMERER Also. Sie alle kennen die prekaere Finanzlage unserer Stadt. Eine Reform des staedtischen Haushaltes ist unerlaesslich. Darum bin ich mit dem Intendanten in Verhandlungen getreten, die aber noch keineswegs abgeschlossen sind.

NEUSEL Aber ich weiss es eindeutig.

REGISSEUR Was weisst du?

NEUSEL Dass kein einziger Vertrag verlaengert werden soll.

KAEMMERER Wer hat dieses boese Geruecht in die Welt gesetzt?

NEUSEL Hier. Hier steht es. Auf diesem Zettel, den ich in der Intendanz gefunden haben.

REGISSEUR (schaut ihn sich an)

KAEMMERER Ich bestreite das entschieden. Das waren nur vorlaeufige Ueberlegungen. Aber in der augenblicklichen Situation muss ein Kaemmerer, aus seiner fiskal-politisch herausgehobenen Verantwortungsposition, extreme Massnahmen ins Auge fassen. Selbst wenn er, wie ich, keineswegs zu extremistischem Vorgehen neigt, sondern im Gegenteil als Wertkonservativer sich versteht und besonders die Kultur ... Aber (strafft sich, zum Publikum:) schliesslich bin ich fuer Ihre Steuergelder verantwortlich, und Sie wuerden mir ein 'weiter so' am dicken Ende sehr uebel nehmen. Theater sind teure Subventionsloecher, in denen viel Geld versickert. Und das meiste fliesst nun einmal in die Gagen der Schauspieler. Wer sparen will, kommt um die Gagen nicht herum. Schauspieler mit festem Engagement verdienen nicht schlecht. Wogegen, bei entsprechender Leistung, im Prinzip nichts einzuwenden ist. Allerdings muss auch mir erlaubt sein, meinen Job zu tun. Nach Sparpotentialen zu suchen. Alle Moeglichkeiten in Betracht zu ziehen. Auch Gastspiele. Gastspiele sind eine Versuchung. Gastspiele verursachen kaum laufende Kosten. Gelsenkirchen hat es vorgemacht und seinen Kulturetat saniert. Ich weiss, Sie sagen jetzt: Gelsenkirchen.

NIEMEIER Genau, ich sage jetzt Gelsenkirchen. Gelsenkirchen hat Schalke. Wer Schalke hat, braucht kein Theater. (giesst sich noch einen ein)

KAEMMERER Fuer Gelsenkirchen hat sich dieses Konzept mehr als ausgezahlt. Auch und gerade in kuenstlerischer Hinsicht.

NEUSEL Da hoeren Sie es. Es stimmt also. Und das tollste kommt erst. Der Intendant behaelt seine Stelle. Sein Gehalt wird verdoppelt.

REGISSEUR Der Hammer! Und mir erzaehlt er ...

ALTENBACH Wo ist er eigentlich?

REGISSEUR Keine Ahnung. Wahrscheinlich speist der Hund gerade mit dem Buergermeister.

NIEMEIER Ich schlage vor, wir machen jetzt weiter. Damit der Herr Kaemmerer sieht, dass wir Stuecke auch zu Ende bringen koennen. (klatscht in die Haende) Also bitte diese Szene von vorn. (holt den Sekt vor)

ALTENBACH Du willst nur weiter saufen.

NEUSEL Wozu soll das gut sein, wenn wir sowieso bald alle arbeitslos sind? (faengt an zu bruellen) He, habt ihr nicht verstanden? Ar-beits-los. Es ist vorbei. Ihr koennt die ganze Scheisse hier begraben. (beginnt die Dekoration zu demolieren)

NIEMEIER Hoer auf. Hoer bitte auf. (ringt mit Neusel, nimmt ihn in den Schwitzkasten)

ALTENBACH Das ganze Problem besteht darin, dass es fuer Schauspieler, ich meine Atomphysiker, kaum Stellen gibt. 100 Bewerbungen auf eine Ausschreibung, da hat keiner eine realistische Chance. Selbst die Trickser muessen sich ganz schoen anstrengen ...

NIEMEIER (mit Neusel ringend) Es gibt zu viele, die sich berufen fuehlen. Jeder traeumt davon, beruehmt zu werden.

ALTENBACH Die Professoren verdienen zu viel. Und auch die Intendanten. Bei geringeren Einkommen koennte man viel mehr Leute einstellen.

REGISSEUR He. Das steht nicht im Drehbuch.

NIEMEIER Wie stellst du dir das vor? Das lassen allein schon die Tarife im oeffentlichen Dienst nicht zu.

ALTENBACH Es waere ideal. Es wuerden nur diejenigen uebrig bleiben, die ihre Arbeit lieben.

KAEMMERER ... oder sich einen lauen Lenz machen wollen.

REGISSEUR (laut) Ich sage es zum letzten Mal. Jeder, der hier nichts zu suchen hat, verlaesst sofort die Buehne. Und du (zeigt auf Altenbach): bitte zum Text zurueck.

ALTENBACH Ich habe den Vorschlag durchaus ernst gemeint, Herr Kaemmerer.

KAEMMERER Ich habe ihn auch so verstanden. Aber ...

NIEMEIER Ich muss sagen, mir waere ein halbes Gehalt zu wenig. Ich meine, bei der Ausbildung; und der Leistung, die ich bringen muss ... und dann nicht viel mehr als ein Facharbeiter?

ALTENBACH Unsere Arbeit ist viel ***erfuellender als die eines Facharbeiters. Da ist ein ***Leidenschaftsfaktor drin, der uns fuer einiges entschaedigt.

NIEMEIER Ich kann keinen Leidenschaftsfaktor erkennen. Fuer mich ist die Schauspielerei ein Beruf wie jeder andere. Daher habe ich auch keine Schwierigkeiten damit, in Zukunft meine Broetchen auf andere Art und Weise zu verdienen. Als Unternehmensberater, zum Beispiel.

ALTENBACH Siehst du. Genau das meinte ich.

KAEMMERER (zu Niemeier) Bravo. Hut ab. Solche Leute braucht unser Land. (zu Altenbach) Ich sehe ueberhaupt nichts. Ich kann Ihrem Vorschlag beim besten Willen nichts abgewinnen. Wo kommen wir hin. So funktioniert unsere Wirtschaft nicht. Die Wirtschaft, auch die Schauspielwirtschaft, funktioniert nur, wenn die Leistung stimmt. Und damit die Leistung stimmt, muessen Anreize her.

ALTENBACH Die Schauspielerei hat einen Anreiz, der sich nicht mit Geld bezahlen laesst. Oder warum, glauben Sie, geben wir uns mit befristeten Engagements und einer ungewissen Zukunft zufrieden?

KAEMMERER Ausserdem waere das halbe Gehalt noch immer zu viel. Wir muessten trotzdem die meisten entlassen.

ALTENBACH Kommen Sie! Ein bisschen Geld wird schon noch da sein.

NIEMEIER Wenn wir so anfangen, halber Lohn und so, warum sollen wir da stehen bleiben? Warum teilen wir nicht das Gehalt des Intendanten unter uns auf. Das kuenftige, meine ich. Und das von Ihnen gleich mit.

KAEMMERER Dann haetten Sie keinen Intendanten mehr. Und auch keinen Kaemmerer.

ALTENBACH Auf Intendanten habe ich schon immer gern verzichten moegen. Und auch auf Kaemmerer.

REGISSEUR Mir reicht's jetzt. Warum hoeren wir nicht gleich auf?

NEUSEL (aus dem Schwitzkasten rufend) Ja, aufhoeren! Hoert auf, euch zu Deppen zu machen.

REGISSEUR Neusel hat recht. Mit euch hat das wirklich keinen Sinn mehr. (faengt auch an, auszuflippen. Neusel, der sich aus Niemeiers Schwitzkasten befreit, unterstuetzt ihn. Sie zerstoeren die Buehneneinrichtung. Das Chaos ist perfekt.)

(Auftritt Boeck und Fischer. Sie sind wie aztekische Priester gekleidet.)

BOECK Aufhoeren. Schluss mit dem Theater.

REGISSEUR (haelt inne) Was wollt ihr?

BOECK Mit euch in eine andere Welt eintreten. Ein neues Blatt der Wirklichkeit entrollen.

FISCHER (pathetisch) Ihr Jungen! Kommt alle her, damit wir euch mustern. Kommt auf die Stufen. Wo sind Berg und Haselstein? (die beiden kommen auf die Buehne, in normaler Kleidung; auch Toepfer tritt auf und begibt sich, in ein Priestergewand gehuellt, schweigend auf den Tempelabsatz)

ALTENBACH Was soll das? Was wollt ihr?

FISCHER Hoert, was die Hohenpriester der Azteken euch zu sagen haben. (Trommelwirbel) Ihr seid zu viele. Das wisst ihr. Von jedem Juenglings-Jahrgang wird nur ein kleiner Teil zur Erhaltung der Art benoetigt. Der Rest ist den Goettern zu opfern. (erneuter Trommelwirbel)

BERG Hoer auf mit dem Scheiss. Was masst ihr euch an?

BOECK Schweigt. Ihr habt zu gehorchen.

BERG Warum sollten wir?

BOECK Weil wir die Chefs sind.

BERG Ich finde, ihr seht so ein bisschen laecherlich aus.

BOECK Von mir aus stell dir vor, wir sind der Intendant und der Buergermeister, wenn du uns den Hohepriester nicht abnimmst.

FISCHER Die Wirklichkeit besteht aus sehr vielen Blaettern. Sie ist mannigfaltig wie die Kulturen. Doch etwas bleibt immer gleich: dass wir beide ueber euch stehen.

BOECK Und nun schweigt endlich und stellt euch ordentlich auf. (Altenbach, Niemeier, Neusel, Berg, Haselstein und auch Regisseur Schmalstieg stellen sich in Reih und Glied auf)

FISCHER Altenbach, ich rufe dich. Tritt vor. (Altenbach tritt vor) Du hast dich nicht angepasst.

ALTENBACH Ich habe es versucht.

FISCHER Der Versuch ging daneben.

ALTENBACH Ich habe mich wirklich bemueht.

FISCHER Es ist dir nicht gelungen. Nicht richtig, jedenfalls. In dir ist etwas, was dich davon abhaelt, unsere Macht anzuerkennen. Darum wirst du sterben.

ALTENBACH Ich begreife euch nicht. Ihr wart immer lustig und guter Dinge. Immer freundlich zu mir. Und dann, ploetzlich, zieht ihr mir das Fell ueber die Ohren.

FISCHER Hast du unsere Ressentiments nicht gespuert?

ALTENBACH Nein.

FISCHER Du wirst es nie begreifen. Obwohl wir dir mehr als genug Zeit gegeben haben. Mehr als jedem anderen. Ab mit dir. (stoesst ihn die Stufen hinauf) Auch Berg und Haselstein, vortreten bitte. Und Neusel. Nur Niemeier und Schmalstieg duerfen stehen bleiben. Sie haben sich bewaehrt. Ihr anderen habt es nicht geschafft. Ihr seid zu Opfern bestimmt worden, um die Goetter gnaedig zu stimmen. (treibt sie gemeinsam mit Boeck die Stufen hoch; oben wartet Toepfer mit einem seltsamen Ritual-Instrument, um sie hinunter zu stossen)

(Ende des Stueckes)