Philosophie der Geschichte

 

Zu reden ist nicht von der Naturgeschichte; sondern gemeint ist die Geschichte der menschlichen Gemeinschaften.

Im Prinzip startet diese mit dem ersten Auftritt des homo sapiens auf der Bühne unseres Planeten; jedoch gibt es eine umfassende Selbstreflexion der Geschichte durch den Menschen wohl erst seit der Zeit der frühen Hochkulturen vor maximal ungefähr 5000 Jahren, in denen dann auch bereits Schrift und Schreibgeräte zur Verfügung standen, die jede Geschichtsschreibung voraussetzt.

Geschichte wird von Historikern erforscht, beschrieben und interpretiert. Während die geschichtlichen Ereignisse vielschichtig sind, von vielen widerstrebenden Interessen und Protagonisten getragen und von anderen, vorvergangenen Ereignissen wesentlich mitbestimmt, kann Geschichtsschreibung naturgemäß immer nur aus einer oder wenigen Perspektiven heraus erfolgen und nie den vollständigen Ablauf des Geschehens wiedergeben. Umgekehrt heißt das: die Totalität einer geschichtlichen Epoche kann durch ein einzelnes Narrativ nicht vollständig erfasst werden, sondern ist zu definieren als der Limes der Gesamtheit aller möglichen Narrative.

Nietzsche hat behauptet, es gebe 3 Arten von Geschichtsschreibung, eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische, je nachdem ob der Historiker "dem Tätigen und Strebenden, dem Bewahrenden und Verehrenden oder dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen zuneigt".

Dazu ist zu sagen, dass bei jeder dieser 3 Vorgehensweisen die eigentliche Geschichte tendenziell gegenüber den Interessen des Betrachters in den Hintergrund tritt. Dass der Geschichtsschreiber historische Ereignisse durch die eigene Brille sieht und seine Darstellung daher teilweise verfälschend ist, mag als Binsenweisheit durchgehen. Nach meiner Meinung muss ein guter Historiker aber versuchen, sich und seine eigenen Zeitläufe und Interessen so weit wie möglich in den Hintergrund treten zu lassen. Sicherlich wird ihm das nicht vollständig gelingen; doch als Ideal sollte er dies im Auge behalten: eine Geschichte zu entwerfen, die sich selbst gehört; und zusammen mit der ergänzenden Arbeit anderer Geschichtsforscher aus unterschiedlichen Perspektiven ein annähernd objektives Bild der Vergangenheit zu zeichnen. Wer Ge-schichtsschreibung anders versteht, betreibt sie eher als eine Form von Propaganda - um nichts Anderes handelt es sich bei den von Nietzsche beschriebenen Typen.

Man muss sich ganz einfach klarmachen, dass die Sicht auf eine geschichtliche Ereignisfolge a priori von mehreren, ganz unterschiedlichen Seiten beeinflusst wird:

-von den damaligen Beweggründen der geschichtlich handelnden Protagonisten

-von ihrer Vorvergangenheit, ihren Biografien und dem Einfluss zeitgenössischer Institutionen

-von der Interessenlage der Geschichtsschreiber, die ihre eigene Weltsicht und Gegenwart darin spiegeln

-von einer eventuell existierenden übergeordneten Universalität aller ge-schichtlichen Abläufe; in welchem Sinn, wird noch zu klären sein.

-vor allem aber von der Rezeption durch den SPÄTEREN LESER, der sich aus Berichten und Beschreibungen verschiedener Historiker, die selber höchst unterschiedlichen Epochen angehören können, ein Bild von den ursprünglichen Ereignissen zu machen versucht.

Eine der Hauptfunktionen eines guten ('dienenden') Historikers besteht darin, sich zum Nutzen jenes späteren Lesers gegenüber den ursprünglichen Protagonisten zurückzunehmen und insbesondere seine eigene Gesinnung soweit als möglich aus der Sache herauszuhalten. Nur dann wird dem (eventuell Jahrhunderte) späteren Leser mit seinem ganz anderen kulturellen Hintergrund, der am Zeitgeist und der Weltsicht des Historikers im allgemeinen wenig Interesse hat, eine halbwegs neutrale Dokumentation der ursprünglichen Ereignisse zur Verfügung stehen.

Da ich die Existenz eines auf die Vollendung der Menschheit zielenden geschichtlichen Telos an späterer Stelle weitgehend ausschließen werde, sollte dieser Historiker erst recht nicht versuchen, die ursprünglichen Ereignisse zusammen mit Geschehnissen und Entwicklungen seiner eigenen Zeit als Teil eines solchen Telos zu präsentieren.

Ebenso wenig darf man die Geschichte als ein Buch auffassen, aus dem man einfach abschreiben könnte. Wenn überhaupt, ist sie ein verworrenes und verwirrendes Konvolut, zu welchem zahllose Autoren Beiträge geliefert haben, ein Amalgam aus unzähligen Ereignissen, die jeweils vielerlei Ursachen und teilweise spontanen oder zufälligen Charakter haben.

Es hat allerdings immer Historiker gegeben, die aus der Geschichte eine Erzählung zu machen wussten, indem sie eine Sequenz einzelner Ereignisse auswählten, nacherzählten, ausschmückten und gemäß eigener subjektiver Erfahrung, Weltanschauung oder einfach ihres gesunden Menschenverstandes (um)interpretierten. Auf diese Weise sind inzwischen fast alle bedeutenden Vorgänge der Geschichte von einem ganzen Kontinuum aus Erinnerungen, Beschreibungen und psychologischen Analysen überdeckt und haben so einen spezifisch 'durchhistorisierten' Charakter erhalten. Allerdings mit der Konsequenz, dass jeder spätere Leser die Geschichte ein wenig anders sehen kann, und sich höchstens aus der Schnittmenge der vielen Zeugen und Interpreten korrekte Bilder der damaligen Wirklichkeit herauskristallisieren.

Ein Problem für die neuere Geschichte: es kommt relativ häufig vor, dass Historiker die wahren Ereignisse aus ideologischen Gründen verfälschen. Im Gegenzug ist es hier aber möglich, dieser Tendenz mit vielen Funden, Fotos und Filmausschnitten und den Aussagen von Augenzeugen entgegen zu wirken.

Hinsichtlich der alten Geschichte kommt es ebenfalls zu Verfälschungen der geschichtlichen Wahrheit, aber meist nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil nicht genügend Quellen zur Verfügung stehen, was Raum lässt für Spekulation und Vermutung, und weil das wenige, was zur Verfügung steht, meist zufällig gefunden wurde und so die Gewichte gegenüber der historischen Wahrheit verschiebt.

Obwohl alle geschichtlichen Ereignisse singulär sind und sich die Geschichte niemals genau wiederholt, hat man doch in manchen historischen Momenten ein deja-vu Gefühl, das sich auf gewisse Strukturähnlichkeiten menschlicher Gesellschaften zurückführen lässt, die sich wiederum aus der Ähnlichkeit menschlicher Reaktionen in gewissen Situationen und aus anderen relativen Grundkonstanten des Daseins ergeben. Wie später diskutiert, darf man aber keinesfalls so weit gehen, hier eine Parallelität in der Entwicklung aller Kulturen, d.h. eine periodische Bewegung der Geschichte zu postulieren.

Die Ähnlichkeiten reichen immerhin aus, um gewisse strukturalistische Methoden zu rechtfertigen, mit deren Hilfe sich die Geschichte analysieren lässt. Wenn es etwa um Unterdrückung geht, sind die je konkreten Formen der Herrschaft historisch unterschiedlich, und hängen zum Beispiel auch vom Stand der Produktivkräfte ab, doch gewisse Grundkonstanten bleiben über alle Zeitalter erhalten. Ebenso hat sich das Verhalten autoritärer sogenannter 'großer Männer', die sich der aggressiven Impulse ihres Egos nicht enthalten können und damit leicht Kriege auslösen oder zumindest ihre Nation immer wieder in missliche Situationen bringen, seit der Antike nicht wesentlich verändert.

So gibt es zwar keine festen Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte, aber doch Ähnlichkeiten, partielle Isomorphien und wiederkehrende Tendenzen, welche sich durchaus vorhersagen lassen. Diese 'Gesetze' der Politik und der Kultur, auch wenn es sich im engeren Sinn nicht um zwingende Gesetzmäßigkeiten handelt, sind meist nicht sehr kompliziert und folgen oft denselben einfachen Mustern. Schwierigkeiten in der Vorhersage resultieren hauptsächlich aus unklaren und variablen Randbedingungen, wie beispielsweise die Vielzahl der Einflüsse und Akteure, überraschende Zufälle etc, und aus der Vagheit mancher soziologischer Begriffsbildungen.

Grundsätzlich verhält es sich mit dem Verlauf gesellschaftlicher Entwicklungen nicht viel anders als mit dem Wetter - man kann einigermaßen verlässliche Vorhersagen für kürzere Zeiträume (grob geschätzt etwa 10 Jahre, entsprechend einer Generation von Menschen oder von technischen Anlagen) machen, aber nicht für längere, und dies in erster Linie, weil der technische Fortschritt nicht vorhersagbar ist. Erst in dem Moment, wo sich eine Neuerung wie das Internet detailliert abzeichnet, kann man versuchen, seine Folgen für die Gesellschaft abzuschätzen. Zu erforschen bleiben ferner die Rolle des kollektiven Unbewussten, die Psychologie der Eliten, wenn sie einem Krieg zuneigen, oder die der Massen, wenn sie einen schlechten Anführer wählen.

Wenn man sich für die groben Entwicklungszüge der Geschichte interessiert, scheint es auf den ersten Blick vernünftig, statt von objektiven Zuständen von den Interessen einzelner, beherrschender Akteure auszugehen und zu versuchen, daraus Vorhersagen für die Zukunft zu gewinnen. Nehmen wir einmal an, ein solcher Akteur, nennen wir ihn H=Hitler, habe (i) mit welchen Methoden auch immer in einem Staatswesen die Macht an sich gerissen, und (ii) es gehe ihm um ein Ziel N, etwa N=seine Nation groß zu machen (was immer er darunter genau versteht und natürlich geht es ihm dabei auch darum, sich selbst und seine Paladine groß herauskommen zu lassen und bestens zu versorgen). (iii) Er glaubt, dass er N nur erreichen kann, wenn er ein gewisses Ereignis K herbeiführt, zum Beispiel K=einen Krieg und (iv) er macht sich tatsächlich daran, K herbeizuführen.

Oft ist es dann aber leider so, dass er zwar K herbeigeführt hat, aber am Ende das Gegenteil seines Ziels N erreicht, in diesem Fall heißt das, dass Deutschland nach dem 2. Weltkrieg zerstört am Boden lag. Der obige Versuch einer historisch-logischen Vorhersage vermag also zwar die einfach gestrickte Psychologie eines Politikers und Massenmörders richtig widerzuspiegeln, ist aber für den realen Ausgang der Ereignisse nicht wirklich erhellend. Geschichte ist eine verworrene Gesamtheit von vielen einzelnen Individualzielen, zu der gewiss Führungsfiguren mehr beitragen als Mitläufer, nur in dem beschriebenen Fall waren eben einige andere Akteure, vor allem im Ausland, beteiligt, deren Ziele denen Hitlers entgegenstanden und die sich am Ende durchgesetzt haben. Immerhin kann man hier im Nachgang anschaulich machen, warum ein Mensch, der mit allen seinen Nachbarn Streit anfängt, am Ende beinahe notwendig scheitern muss.

Von daher scheint ein eher narrativer Ansatz im Vorteil, wo der Historiker die Ereignisse schildert und nur nebenbei zu plausibilisieren versucht. Dieser Zugang weist zwar auch verschiedene Schwachstellen auf, unter anderem, dass gewöhnlich eine zu beschränkte und subjektive Auswahl unter den Ereignissen getroffen wird, und dass auch plausible Argumente Gesetze und Normen voraussetzen, die beim narrativen Zugang meist nicht systematisch benannt werden. Ein narrativer Historiker wird aber bei der Deutung der Geschichte selten so weit daneben liegen wie manchmal die Verfechter des historisch-logischen Ansatzes.

Unter den narrativen Geschichtszugängen muss man diejenigen, wo das Sammelsurium der Ereignisse nur erzählt und dabei mit 'gesundem Men-schenverstand' plausibel gemacht wird, von denen unterscheiden, die in allem Geschehen eine tiefere, zusammenhängende und zumeist nach oben gerichtete Entwicklungslinie auszumachen meinen. Ein solches Konzept, das in einer absoluten Form von manchen Hegelianern vertreten wird und im Grunde einem teleologischen Geschichtsbild entspricht, muss als unbewiesen und rein fiktiv angesehen werden, besonders unter Berücksichtigung der biologischen Ursprünge und Beschränkungen des Menschengeschlechts und der Tatsache, dass dessen erstes und dauerndes Augenmerk immer der Erfüllung seiner Primärbedürfnisse dient.

Allerdings entspricht der Selbstverwirklichungsprozess des absoluten Geistes, als den Hegel die Geschichte deutet, einem bei der Betrachtung der historischen Epochen naheliegenden Gedanken, der sich in Wahrheit hauptsächlich aus dem offensichtlichen technischen Fortschritt seit der neolithischen Revolution ergibt. Eine eher materialistische Geschichtsphilosophie sieht sich dann der Frage gegenüber, warum sich die ganzen Umwälzungen von der Landwirtschaft bis hin zur Digitalisierung über 100000 Jahre Zeit gelassen haben, bevor sie ca 5000 AC endlich einsetzten. Dazu später mehr.

Dass eine Rückkopplung zwischen dem technischen und dem sozialen Fortschritt existiert, steht außer Frage. Zudem beeinflusst die daraus resultierende jeweils spezifische Ausprägung des Fortschritts im Verlauf von Generationen unsere Gene, und wird von ihnen beeinflusst. Wenn wir dies alles jedoch nur hermeneutisch konstatieren oder wie Hegel diese Konstatierung bloß in eine andere Diktion (die des Hegelschen Geistes) übersetzen, heißt das noch lange nicht, dass wir die Gesetze des Fortschritts verstanden haben. Hegel ist ja durchaus auf der Suche nach einer Dynamik des Geistes bzw der Geschichte, hat jedoch übersehen, dass diese vor allem durch technisch-naturwissenschaftliche Neuerungen und ihre sozialen Begleiterscheinungen angetrieben wird. Die technischen Neuerungen aber verdanken wir dem so genialen wie beschränkten Ingenieursgeist der menschlichen Gattung. Ein davon unabhängiger, sie im Gegenteil sogar determinierender wie auch immer gearteter 'absoluter' Geist ist reine Einbildung.

Die Folgen, die das menschliche Handeln in der Geschichte zeitigt, sind Erscheinungsweisen unserer Intelligenz, die sich in der Gesamtheit aller menschlichen Gesellschaften vielleicht zu einem 'Weltgeist' verklären lässt. Es bleibt aber dabei, dass dieser Weltgeist aus nichts Anderem zusammengesetzt ist als den vielen, teils antagonistisch, teils kooperativ miteinander kommunizierenden Ich-Bewusstseinen, und dass auch die sie verbindende Kommunikation Prinzipien folgt, welche sich letztlich aus den Gesetzen für das Zusammenspiel der verschiedenen Formen physikalischer Materie (etwa von Schallwellen oder der Eiweißbausteine des Gehirns) ergeben, denen damit auch der 'Weltgeist' samt seinen Entwicklungsmöglichkeiten unterworfen ist.

Die Geschichte hat noch eine weitere Eigenschaft, die sie teleologischen Ansätzen und Heilshoffnungen entzieht: sie ist in ihrer Dramaturgie extrem widersprüchlich, und zwar in einer Weise, die jede positive Dialektik widerlegt. Auch dies gründet auf ihrer Verhaftung in erbbiologischen Egoismen und den Zwängen physikalischer Gesetzmäßigkeiten, die an-sich weder gut noch böse, sondern zuallererst sinnfrei sind, jedenfalls ohne einen Sinn für den Menschen. Und es führt nicht erst seit dem Atomzeitalter dazu, dass jeder menschlichen Gesellschaft in kritischen Momenten der Untergang drohen kann, der jeden bis dahin erreichten Fortschritt zunichte macht.

Dabei ist weiters zu bedenken, dass die vielen Opfer, die die Geschichte seit Anbeginn gekostet hat, in keiner Zukunft jemals kompensiert werden können. Zwar wurde im Letztbegründungskapitel argumentiert, dass sich zum Ende aller wissenschaftlichen Erkenntnis, wenn die Gesetze der Natur vollständig decouvriert sind, durchaus ein bis heute versteckter Sinn der menschlichen Existenz und auch des Kosmos offenbaren könnte. Doch wird dies keineswegs automatisch dazu führen, dass auch nur ein einziges Opfer von Kriegen, die in der Vergangenheit im Namen irgendeines Fortschritts geführt worden sind, gerechtfertigt werden kann.

Historische Erfahrung lehrt uns, dass es für den Fortschritt keine Garantie gibt und jede Gesellschaft eines Tages untergeht. Zwar leben wir in einer Zeit, in der Wohlstand, Bequemlichkeiten und Freiheitsrechte zuzunehmen scheinen; doch können sogar wir Bürger der westlichen Staaten beobachten, dass die ökonomische Stabilität und unsere ohnehin nur sehr begrenzten Freiheiten immer wieder bedroht sind, sei es durch machthungrige Politiker oder bedrohliche Einflüsse von außen.

Zwar scheint es in manchen historischen Momenten, als habe sich die 'List der Vernunft' am Ende durchgesetzt; doch ist Hegels Bonmot in meinen Augen nicht anders zu bewerten als auf der ökonomischen Ebene jene Idee vom Kapitalismus, die davon ausgeht, die Wirtschaft floriere am besten, wenn man den Unternehmern möglichst freies Spiel lässt, weil damit der Gesellschaft als Ganzer geholfen sei.

Tatsächlich kommt unter allen Arten des Handelns und Wirtschaftens die kapitalistische den menschlichen Eigenschaften, Erwartungen sowie unseren natürlichen egoistischen Lebenswünschen am nächsten. Trotz ihrer vielen Defizite hat es in der Geschichte keine Zeit gegeben, wo es so vielen Menschen besser ging als in der gegenwärtigen Marktwirtschaft. Der Vergleich zwischen Hegels Geschichtsphilosophie und dem Ideal des Kapitalismus zeigt indes das Risiko, in das man sich begibt, wenn man der 'List der Vernunft' allzu naiv vertraut. Der Kapitalismus ist untrennbar verknüpft mit wiederkehrenden ökonomischen Krisen, während denen er zumeist mit dirigistischen Maßnahmen wieder aufs rechte Gleis gestellt werden muss. Und er hat bei weitem nicht allen Menschen Glück gebracht.

Darin geht es seinen Opfern wie den vielen Kollateralschäden, die die List der Vernunft bereits in Hegels Epoche gezeitigt hat, zum Beispiel den ungezählten Toten der europäischen Kriege zwischen Napoleon I und Wilhelm II, die von Eliten und Usurpatoren jeweils bereitwillig in Kauf genommen und auch von Hegel gebilligt wurden, als Tribut an den Fortschritt der menschlichen Gattung und die Selbstverwirklichung des Weltgeistes. Was für eine List soll das aber sein, wenn noch heute in relativ entwickelten Ländern wie Russland immer wieder Diktatoren an die Macht kommen und an der Macht bleiben, die Opposition unterdrücken und überhaupt das Wohl des ganzen Volkes einem einzigen Ego ausgeliefert wird. Ist es nicht vielmehr das alte, immer gleiche Stück, das die Herren und ihre Helfershelfer wahrscheinlich schon zu Zeiten der Urmenschen erlernt und aufgeführt haben?

Es handelt sich bei Hegels Visionen offenbar um ein inhumanes Geschichtsbild, in dem weniger das Individuum, sondern hauptsächlich Nationen (bzw der Mensch als Gattung) zählen, denen es im Durchschnitt immer besser geht, und für die der preußische Staat eine Art ideales Gemeinwesen verkörpert. Dieser ist nicht ganz zufällig Hegels Brotgeber, und so ist die scheinbar objektive Vernunft des Philosophen mit subjektiven Partikularinteressen aufgeladen, die überspitzt formuliert zu einer Hypostasierung der Dynamik einer auf Herrschaft und Unterwerfung fixierten Gesellschaft führen.

Kant hat anders argumentiert. Von ihm stammt die Idee eines Völkerbundes, der die Nationen durch verlässliche Verträge dazu bringt, in Frieden zusammenzuleben. Letzte Instanz für die Durchführung seines Friedensprogrammes ist für den Rationalisten Kant naturgemäß die menschliche Vernunft. Man muss aber feststellen, dass alle Ideen von der unbeschränkten Autorität der Vernunft eine Kehrseite aufweisen, die sie den Herrschaftsideologien von Priestergesellschaften nicht unähnlich machen. Derartige Ideen sind eigentlich Dogmen und müssen als solche von Individuen vertreten bzw glorifiziert werden - die dann von dieser Repräsentationsfunktion materiell profitieren. Mit gelehrten Worten erklären sie ihre Idee zu einem Absoluten, und also insbesondere zur absoluten Autorität. Sie behaupten, die Idee zwinge sie dazu, das Partikular der Individuen der Gattung zu opfern, damit deren Allgemeines sich durchsetze. Die Geschichte ende, wenn das Absolute wiederhergestellt sei, erklärt etwa Hegel, müsse jedoch allerlei dialektische Winkelzüge durchlaufen, bevor sie sich auf eine höhere Stufe erheben könne.

In Wirklichkeit ist das alles nur vorgeschoben. In Wirklichkeit sind die Ideen für die einen nur eine leidenschaftliche Einbildung und für die anderen das Mittel, um die Schlüssel zur Herrschaft an sich zu bringen.

Hegels Dialektik ist in Wahrheit Identitätsdenken, in dem das Besondere bruchstellenlos vom Allgemeinen vereinnahmt wird. Hegel missachtet nicht nur die Opfer der Geschichte, sondern es ist die komplexe Realität selbst, die im schlechten Denken untergeht. Seine Dialektik ist die Methode eines preußischen Professors, sich Welt und Zukunft schön zu reden. In Wirklichkeit muss Dialektik anders gedacht und von ihrer erpressten Versöhnung befreit werden. So wie die Geschichte selbst auch offen ist, muss Dialektik immer bereit sein, zugunsten eines offenen Diskurses auf die positive Synthesis zu verzichten.

Trotz dieser Argumente fasziniert die Vorstellung eines durch ein wahrhaft Absolutes bedingten Endes der Geschichte noch immer viele Denker. Gehlen und Fukuyama haben behauptet, dass wir bereits in einer Endzeit leben, im Sinne eines Sieges der liberalen Demokratien über totalitäre Systeme. Die monistischen Denkformen hätten sich überlebt, und wir seien eingetreten in ein Stadium nach der Moderne, das von einem prinzipiellen Pluralismus getragen sei. Dass diese Behauptung wenig stichhaltig ist, zeigt ein Blick auf China und auf all jene Länder, die sich neuerdings wieder autoritären Herrschaftsformen zuwenden.

Was diese Autoren als liberale Endzeit wahrnehmen und begrüßen, ist nur der örtlich begrenzte Augenblickseindruck unserer nach einem kurzen antiautoritären Jahrzehnt wieder erstarrenden westlichen Gesellschaften, die dank der errungenen Freiheiten und des langanhaltenden technischen Fortschritts zurzeit einen guten Lauf haben. Dem stehen verschiedene immer stärker werdende konservative und sogar geschichtsvergessene Strömungen gegenüber, und es ist schwierig vorauszusehen, wer sich am Ende im Westen durchsetzen wird, der autoritäre oder der eher liberale Ansatz.

Zur Wahrheit über die liberale Wohlstandswirklichkeit gehört auch, dass sie in unzusammenhängende Einzelbereiche zerfasert, die alle ihren eigenen, mehr oder weniger gerechtfertigten Geltungs- und Wahrheitsanspruch haben, aber in keiner übergeordneten Metaerzählung zusammengezwungen werden können. Anders ausgedrückt, wir alle leben und arbeiten in verschiedenen 'Szenen' und auf der Grundlage unterschiedlicher Paradigmen und Sichtweisen, die teilweise von der Moderne erst generiert worden sind, wenn auch unter Beimischung alter magischer oder ideologischer Untertöne. Dass diese Paradigmen ausfransen, ineinander übergehen oder sich teilweise widersprechen, hängt damit zusammen, dass die Realität eben komplex ist und dabei doch immer besser gehandhabt wird, während die genannten Untertöne dem früheren Stand des menschlichen Nichtwissens entsprechen.

Neuerdings sorgt die immer stärkere Verflechtung und Globalisierung der Welt dafür, dass alle Unterschiede der Kulturen tendenziell ausgebügelt werden. Die Globalisierung führt also möglicherweise zu einem Effekt, der der zuvor verworfenen Vorstellung einer UNIVERSALGESCHICHTE neue Nahrung gibt, jedoch nicht derart, dass sich in der bisherigen Menschheitshistorie eine solche erkennen ließe, denn es ist nicht einzusehen, warum man, um ein extremes Beispiel zu nennen, die alten Hünengräber in der Lüneburger Heide und das heutige Japan zu einer Universalgeschichte zusammenfassen sollte, sondern so, dass sich von der Moderne ausgehend in der Zukunft eine solche entwickeln könnte.

Obwohl Historiker von der Weltsicht ihrer Zeit beeinflusst wurden und Bedeutungen sich wandeln, muss für den hier gemeinten Begriff einer Universalgeschichte kein transzendentes Subjekt angenommen werden, das sozusagen from a god's eye view alle menschlichen, historisch relevanten Geschehnisse vollständig überblickt. Und auch Begriffe wie Menschheit, Vernunft oder Weltkultur müssen nicht unbedingt in einem universellen Sinne existieren, sondern nur in einem eingeschränkten, als etwas, auf das sich Wissenschaftler geeinigt haben.

Die begriffliche Einheit der durch diese Art der Universalität verbundenen Objekte darf nicht die Kriterien festlegen, nach welchen die für die Universalgeschichte relevanten Ereignisse ausgewählt werden. Dann wären wir wieder bei der eingangs kritisierten Nietzscheanischen Geschichtsschreibung; dann wäre Universalgeschichte ebenso willkürliche wie ideologische Sicht auf die geschichtlichen Ereignisse. Sondern es muss jeweils der gemeinsame Kern der Geschehnisse gefunden und als Teil des ubiquitären historischen Handelns im Zeitalter der Globalisierung identifiziert werden.

Verschiedene Historiker des letzten Jahrhunderts haben Aufstieg und Fall großer Kulturen verglichen und hierbei manche Strukturähnlichkeit festgestellt. Solche Ähnlichkeiten basieren vielfach auf der phänotypischen Ähnlichkeit menschlicher Reaktionen in gewissen Situationen, die wiederum auf die näherungsweise gleiche genetische Ausstattung und Selbstähnlichkeit der Menschen zurückgeht. Auch gewisse Grundkonstanten und Merkmale von Herrschaft und Unterdrückung, die sich seit dem Altertum nicht wesentlich geändert haben, gehören in diesen Komplex. Statt einen linearen Progress anzunehmen, stellen manche eher pessimistisch eingestellte Autoren ge-schichtliche Ereignisse daher als Teil einer Kreis- oder Wellenbewegung dar, wo der Kreismetapher die Wiederkehr des Ewiggleichen repräsentiert.

Aus Strukturähnlichkeiten auf Gleichheiten in der Geschichte zu schließen, scheint jedoch eine überzogene Schlussfolgerung. Die Unterschiede zwischen der antiken Sklaverei, der Ausbeutung der Arbeiter im Manchesterkapitalismus und die Vorgesetzter-Mitarbeiter Beziehungen in der modernen Angestelltengesellschaft sind trotz der genannten Ähnlichkeiten beträchtlich. Die Geschichte wiederholt sich nicht, und zwar in erster Linie, weil sich die Produktivkräfte weiterentwickeln und in zweiter Linie, weil sich jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen teils zufällig teils zwangsläufig durchsetzen und andere dafür zurücktreten, oder eben nicht.

Demzufolge sind sich auch die Entwicklungskurven von Hochkulturen höchstens ähnlich, aber nicht gleich. Dabei stellt das materialistisch-objektive Element, das dem Fortschritt der Technik innewohnt, ein entscheidendes Moment von Entwicklung dar, welches geschichtliche Kreisbewegungen von vornherein ausschließt. Man denke etwa an die Einführung des Telefons oder des Internets, oder an das Gleichgewicht des Schreckens, das seit der Erfindung der Atombombe existiert, alles Entwicklungen, die dem Lauf der Geschichte völlig neue Richtungen vorgegeben haben. Gewiss ändern sich auch soziale Einstellungen im Verlauf der Zeit. Dabei kann es aber schon eher zu Kreisbewegungen kommen, indem etwa von der öffentlichen Meinung jahrzehntelang eine autoritäre, danach aber eine laissez-faire Kindererziehung propagiert wird, bevor man später wieder zum autoritären Stil zurückkehrt. Es sind die technischen Neuerungen, die in vielen Fällen Rahmenbedingungen völlig verändern und damit eine nachhaltige Änderung der gesellschaftlichen Entwicklung und der individuellen Einstellungen erzwingen.

Anzumerken bleibt, dass sich 'erzwingen' in einer liberalen Gesellschaft auf das statistische Mittel beziehen, während das einzelne Individuum frei entscheiden kann, ob es einem Trend folgen will oder nicht. So halten sich bzgl der Kindererziehung keineswegs alle Eltern an die Empfehlungen des Zeitgeistes.

In solcher Freiheit liegt übrigens die wahre Resistenz gegen jede Form des gesellschaftlichen Nihilismus, wohingegen man den Nihilismus der Natur, der sich aus einer vermutlichen Sinnlosigkeit unserer physikalischen und biologischen Existenz ergibt, wohl niemals überwinden wird.

Es gibt in der Historie immer wieder den großen Einzelnen, der in der Lage ist, den Lauf der Geschichte zu ändern und etwa auch einer Nation zum Aufstieg zu verhelfen. Jedoch würden die Taten solcher 'Übermenschen' nur zu erweiterten zyklischen Bewegungen der Geschichte führen, wenn sie sich nicht auf die durch den technischen Fortschritt veränderten Rahmenbedingungen ihrer Epoche stützen könnten. Zudem muss angemerkt werden, dass 'große' Einzelne, so sehr sie oft von der Nachwelt heroisiert worden sind, der Menschheit allzu oft Rückschritt und Untergang und gar keinen Segen gebracht haben. Denn leider folgen die Massen meist eher den Anführern, die sie unter Heils- oder Beuteversprechen in einen Krieg schicken als jenen, die in dieser Hinsicht wenig zu bieten haben.

Der Blick der Philosophie auf die Fakten der Geschichte

Viele Fakten der Menschheitsgeschichte nehmen sich vom Standpunkt der Philosophie eher banal aus:

-Hunderttausende Jahre geschah nicht viel, außer dass sich unsere Vorfahren als Jäger und Sammler gerade so über Wasser hielten. Sie lebten in kleinen Gemeinschaften, wussten nicht oder konnten nur spekulieren, was hinter den mannigfachen Erscheinungen der Realität verborgen ist und fragten vielleicht auch gar nicht danach. Wenn überhaupt, gaben sie sich mit magischen Ritualen zufrieden, um ihre Götter zu besänftigen.

-In der Steinzeit (-12000 bis -2500) wurden die Menschen langsam sesshafte Bauern. Durch diese Entwicklung, die von der Geschichtsforschung als 'neolithische Revolution' bezeichnet wird, konnten sie sich besser vermehren, ihre Siedlungen wurden größer, und sie mussten sich an komplexere Sozialstrukturen und Hierarchien gewöhnen. Es bildete sich wahrscheinlich eine Priesterkaste (Megalithenkultur).

-In der Bronzezeit/Antike (-2500 bis +500) findet man die ersten Hochkulturen samt ihrer typischerweise ausgeprägten Arbeitsteilung. Zusätzlich zu den Priestern gab es Krieger, Kaufleute, Wissenschaftler, Künstler und so weiter. Kaufleute zum Austausch von Waren. Krieger, weil die Mächtigen Reichtümer aufhäuften, die die Krieger entweder zu schützen oder zu rauben trachteten. Und einen neuen, zahlenmäßig noch kleinen Überbau aus Wissenschaftlern und Künstlern, der sich jedoch nicht von der Priesterkaste emanzipieren konnte.

-Das Mittelalter (500-1500): an den Fürstenhöfen entwickelte sich das höfische Leben. Diener und Höflinge als neue soziale Gruppierung. Die katholische Kirche als starke universelle Institution, aber auch Reibereien zwischen kirchlicher und weltlicher Macht.

-Die Neuzeit, beginnend mit Renaissance und Aufklärung (1500 bis heute). Viele technische Erfindungen, Entdeckung neuer Kontinente. Der Einfluss der Kirchen wurde zurückgedrängt.

-Die Moderne (1900 bis heute). Die Automatisierung reduziert die Notwendigkeit körperlicher Arbeit.

Da ich die technische Entwicklung als entscheidend für die Geschichte ansehe, charakterisiere ich die Altsteinzeit durch Faustkeil und Speer, das Neolithikum durch Ochsenpflug und Ackerwagen und die Antike zusätzlich durch verschiedene Gerätschaften aus Bronze. Im Mittelalter gibt es außerdem Brille, Anspanngeschirr, Schubkarre, Spinnrad und Windmühle. Die Renaissance fügt dem eine Vielzahl komplizierterer Erfindungen hinzu.

Alle diese Techniken haben eines gemeinsam: sie nutzen mechanische, gravitative Effekte, während Erfindungen im Bereich der Elektrizität und des Magnetismus erst in der Zeit der Aufklärung ab 1750 zu verzeichnen sind und denen der Mechanik seither den Rang abgelaufen haben. Vom Standpunkt des technischen Fortschritts, der für den kulturellen Fortschritt den Rahmen darstellt, kann also noch eine andere Einteilung der menschlichen Geschichte vorgenommen werden, und zwar

-bis etwa 1750 das mechanische Zeitalter der Gravitation und

-seit der Zeit der Aufklärung das elektromagnetische Zeitalter.

-Mit der Erfindung des Kernreaktors 1942 beginnt eigentlich ein drittes Zeitalter der Kernkräfte, das aber noch sehr in den Kinderschuhen steckt.

Bei allen genannten Einteilungen fällt auf, dass die Ereignisse und Zeitspannen um so ausführlicher dargestellt werden, je näher sie der Gegenwart sind, die Geschichte also um so geringer gewichtet wird, je weiter sie in der Vergangenheit liegt. Das ist verständlich, aber nicht zielführend im Hinblick auf die wohl wichtigste Frage im Zusammenhang mit der Geschichte der Menschheit: warum kam es nach über 100000 Jahren des Menschseins relativ plötzlich zur neolithischen Revolution? Auch wenn dieser Prozess ein paar tausend Jahre gedauert hat, vollzog er sich im Vergleich zu den mindestens 100000 Jahren vorher, in denen die Menschen Jäger und Sammler blieben, relativ schnell. Voraussetzung dafür war nicht nur technisches Wissen, das sich ein Jäger grundsätzlich immer hätte aneignen können, sondern die Menschen mussten auch lernen, in größeren sozialen Einheiten zu leben. Vielleicht halfen sakrale Riten, die im Neolithikum anscheinend eine größere Rolle gespielt haben als zuvor (erkennbar an den Megalithen, Hünengräbern und den ersten Tempeln der Geschichte), den Zusammenhalt zu stärken.

Eine konsistente Erklärung, warum die neolithische Revolution anscheinend unabhängig gleichzeitig in Südchina und im Nahen Osten einsetzte, gibt es bis heute nicht. Ich tendiere zu der Ansicht, dass es sich um ein Zusammenspiel von genetischen und äußeren Faktoren (kultureller Austausch) handelte. Eine Mutation, die den Menschen dazu bringt, lieber auf dem Feld zu stehen als wilden Tieren hinterher zu laufen, wirkt mit dem Umstand zusammen, dass die Beutetiere seltener werden und dass man Erfahrungen mit dem Ackerbau machen und weitergeben kann. Ist der Mensch erst einmal sesshaft geworden, befördert er weitere genetische Selektionen, wie zum Beispiel eine geringere Körpergröße bei den Bauern im Vergleich zu den Jägern.

In der Steinzeit gab es noch keine Kriegerkaste und daher weniger bewaffnete Auseinandersetzungen als in der Bronzezeit/Antike. Erst ab dieser Zeit finden Archäologen zerstörte Dörfer mit vielen eingeschlagenen Schädeln. Wohlhabende Dörfer wurden für Räuberbanden ein lohnendes Ziel, die durch Raub, Mord und Erpressung am Reichtum der Bauern zu partizipieren trachteten. Bedrohte Gemeinden wehrten sich mit Kriegsknechten und Stadtmauern. Der Ursprung des Rittertums.

Im Mittelalter, an den Königs- und Fürstenhöfen und in den Adelshäusern, bildete sich eine neue Schicht, die Höflinge. Diese bereicherten sich zusammen mit den Fürsten an den Bauern, die gnadenlos ausgebeutet wurden und dadurch weniger Nachkommen durchbringen konnten. Um zu überleben und eventuell selbst in die Reihen des Adels aufzusteigen, mussten Höflinge keine großen Körperkräfte besitzen, sondern mit diplomatischem Geschick und reichlich Unterwürfigkeit flinkzüngig um die Gunst des Königs buhlen. Hinzu kamen die Händler, die Waren verkaufen wollten, und also ebenfalls wortgewandte Verkäufer und Dealmaker sein mussten. Nota bene, dass auch der Ritteradel, wenn er seine Räuberschar gut und effektiv führen wollte, eine hohe Sozialkompetenz benötigte.

Die Zeit der Moderne: Fortschritt und Stillstand im Wechsel

Die Geschichte vom Ende des preußischen Kaiserreiches bis heute kann als fortgesetzte Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Progressiven gelesen werden. Dabei haben die Konservativen normalerweise eine stabile strukturelle Mehrheit von beinahe 2:1 auf ihrer Seite, und nur in jenen geschichtlichen Momenten, wo die von dieser Mehrheit gewählte eher rechtsgewirkte Elite schwerwiegende Fehler macht, wechselt ein potenziell liberaler Teil der konservativen Wähler die Seite und verschafft den Linken beziehungsweise Progressiven eine Mehrheit, die jedoch recht volatil ist, da die Wechselwähler sich im allgemeinen zuviel erhoffen und daher bei der nächsten Wahl meist wieder abspringen.

Auch in Zeiten, wo geburtenstarke Jahrgänge erwachsen werden und nach eigenen intellektuellen und materiellen Perspektiven suchen, haben Progressive gute Karten, wenn sie sich die natürliche Unruhe und Experimentierfreudigkeit der Jugend zunutze machen können.

Hier ein kurzer Abriss der politischen Veränderungen in Deutschland seit dem 1. Weltkrieg:

bis 1918: Fehler und Selbstüberschätzung der konservativen Eliten, den 1. Weltkrieg zu beginnen. Sie sind Hauptverantwortliche für Millionen Tote, Verstümmelungen und Hungersnot.

1918-1925: Unter Geburtswehen Machtübernahme durch die Progressiven, hauptsächlich die SPD.

1925-1933: Weil man der ökonomischen Hypotheken des Krieges nicht Herr wird, schwingt das Pendel zurück zu den Rechten, die in ländlichen Gebieten die Mehrheit nie verloren haben. Die wirtschaftliche Krise schwächt die Progressiven, indem sie ihre Uneinigkeit verstärkt.

1939-1945: Die extreme Rechte mit Revanchegelüsten übernimmt das Ruder und fährt Deutschland an die Wand. Abermillionen Tote in ganz Europa, viele Städte durch Luftangriffe zerstört.

1946-1966: Trotzdem erhalten die Progressiven kein Mandat zur Regierung, sondern die Amerikaner besinnen sich auf die moderate Rechte, weil sie die im kalten Krieg für nützlicher halten.

1966-1976: das anti-autoritäre Jahrzehnt, wo alles durchlüftet und scheinbar für immer entstaubt wird. Im Hintergrund bleiben die alten Hierarchiestrukturen jedoch unangetastet, die Mächtigen schlucken von nun an ein bisschen Kreide, und manche sind sogar fasziniert vom Aufruhr der Jugend.

1977-heute: man fährt die Durchlüftung zurück, restauriert unmerklich, wobei diejenigen Reformelemente aus der 68er Periode bestehen bleiben und ausgebaut werden, die den Ablauf des Lebens in einer liberalen Gesellschaft vereinfachen, also: möglichst keine Diskriminierungen, Gleichstellung von Mann und Frau usw. Allerdings schaffen die von der Politik kontrollierten Medien eine teils beklemmende Atmosphäre, in der es nur darum geht, scheinbar linke oder liberale Politiker an der Macht zu halten, die jedoch in Wirklichkeit keinerlei Programm (und auch kein wirkliches Interesse) für eine progressive Veränderung der Gesellschaft haben. Indem sie untätig bleiben, werden sie den Staat demnächst wohl wieder den Rechten ausliefern.

Im Ganzen erkennt man eine Wellenbewegung, die vor allem am Anfang von starken Ausschlägen nach links und rechts gekennzeichnet ist, bei fortgesetzter ökonomischer Stabilisierung aber zusehends schwächer wird und zu konvergieren scheint - vermutlich solange bis die Eliten der neuerdings tonangebenden imperialen Mächte USA, China und Russland wieder einen verhängnisvollen Fehler begehen...

Fortschritt, Telos, Universalgeschichte

Oben wurde argumentiert, dass es falsch ist, von der Ideengeschichte her zu denken. Stattdessen wurden drei 'materialistische' Zeitalter eingeführt: das der Gravitation, das des Elektromagnetismus und das Zeitalter der starken Wechselwirkung, also der Kernkräfte. Sicherlich sind hier die Übergänge fließend, da zum Beispiel das Feuer, ein elektromagnetisches Phänomen, schon lange vor dem elektromagnetischen Zeitalter verwendet worden ist. Im Ganzen jedoch entsteht ein Bild der Geschichte, das Höherentwicklung des Menschen und seiner Gesellschaften am technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritt festmacht und den positivistischen Geschichtsansatz ablehnt, der die Menschheitsgeschichte in ein theologisches, ein metaphysisches und ein wissenschaftliches Stadium unterteilt, diese Stadien aber als bloße Erscheinungen hinnimmt, ohne nach den Hintergründe ihres Auftretens zu fragen.

Bei allen diesen Überlegungen muss das menschliche Individuum im Zentrum der Betrachtung bleiben. Die verbreitete Ansicht, der Geschichtsforschung solle es weniger um die Individuen gehen als um den Fortschritt der Gattung, ist ein verhängnisvoller Fehler - noch wesentlich schlimmer als der jener Biologen, die bestens zufrieden sind, wenn sie eine Spezies (vorläufig) vor dem Aussterben retten, und die das Abschlachten vieler Millionen Einzelwesen, die ja in genügender Zahl vorhanden seien, ohne mit der Wimper zu zucken hinnehmen oder sogar befürworten. Abgesehen davon, dass die Gattung Mensch wie jede andere eines Tages vom Planeten verschwunden sein wird, ist das Verhältnis zwischen Individuum und Art als dialektisch aufzufassen. Wenn nicht für die Individuen auch etwas abfiele, würden und sollten sie bei geschichtlichen Veränderungen nicht mitspielen. Zudem hat die Rede von der menschlichen Gattung, für die allein sich der Fortschritt zu interessieren habe, etwas Entmenschlichendes, nicht unähnlich den Argument einer Kriegspartei, die ihre Soldaten als Kanonenfutter ins Feld sendet und im Dienst eines vorgeblich übergeordneten Zieles sogar den Tod von Zivilisten in Kauf nimmt, um den Krieg zu gewinnen.

In Wirklichkeit kann aller Glaube an den Fortschritt die Opfer der Vergangenheit nicht aufwiegen. Jeder einzelne Mensch zählt, und er zählt zur Geschichte. Die Reformation und der 30-jährige Krieg, die Französische Revolution und Napoleons mörderische Eroberungskriege müssen jeweils zusammen gedacht werden. Wenn sich die Nachwelt auf einzelne Heroen kapriziert, die in jenen Zeiten eine scheinbar rühmliche Rolle gespielt haben, wird sie der Geschichte nicht gerecht.

Wer in einer Hochkultur lebt, und dazu noch in einer ökonomischen Blütezeit, und von da aus auf die Geschichte blickt, stellt sich unwillkürlich die Frage, ob die gesamte menschliche Zivilisation trotz mancher Rückschläge nicht einer Fortschrittslinie folgt, die auf ein Telos gerichtet ist. Wer die Geschichte vergangener Hochkulturen in seine Betrachtungen mit einbezieht, wird diese Frage allerdings eher verneinen. Selbst die bedeutendsten historischen Kulturen haben nie Lebensdauern von wesentlich mehr als 1000 Jahren gehabt, und dabei existieren 'kalte' Gesellschaften, in denen sich über Jahrhunderte wenig verändert und also der Fortschritt eine Schnecke ist, tendenziell noch am längsten.

Hinzu kommt: man darf die periodischen Rückschritte, die Krisen, Untergänge und Zerfallsprozesse nicht kleinreden, sondern sie stellen offensichtlich einen bemerkenswerten Teil der Geschichte dar, in denen nicht nur Atem geholt wird für den nächsten Fortschritt, oder sich gar ein Übergang von einer Kultur zu einer anderen (Höheren) ankündigt, sondern oft nur ein geschichtliches Nichts, in welchem die Individuen in Armut und Orientierungslosigkeit verharren, versprengt und verwirrt durch gesellschaftliche Zerfallslandschaften stolpern oder gleich ganz ausgelöscht werden.

Es könnte immerhin sein, dass das eigentliche Telos erst in ferner Zukunft nach einer langen Phase der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung auf uns wartet, die alle auf der Erde vorhandenen menschlichen Gesellschaften einander angleicht und die künftigen geschichtlichen Ereignisse zu einer Universalgeschichte vereinigt. Während die bisherigen Epochen und Kulturen das Bild eines undurchdringlichen Gestrüpps bieten, aus dem heraus sich Universalität gewiss nicht ablesen lässt, wird man aufgrund der momentan scheinbar unaufhaltsamen Globalisierungstendenzen vielleicht eines Tages von einer Universalgeschichte der Menschheit sprechen können - ohne aller-dings den vielen Kollateralschäden dieser Entwicklung jemals gerecht werden zu können.

Im Abschnitt über Metaphysik wurde die Frage diskutiert, ob es einen von Menschen unabhängigen Sinn und sogar Zweck der physikalischen Natur geben könne. Unter anderem wurde gezeigt, dass sich die biologische Natur einen eigenen, auf dem darwinistischen Prinzip beruhenden Sinn definiert, welcher bereits vor dem menschlichen Geist existiert, und dass es ebenso einen bisher allerdings nicht decouvrierten Sinn und eine Gesamtordnung der Welt und allen Seins geben könnte, die außerhalb von menschlicher Setzungen aktiv sind.

Diese Erkenntnisse sind für die Frage eines menschheitsgeschichtlichen Telos jedoch ziemlich irrelevant, da wir es bei geschichtlichen Ereignissen allein mit von Menschen zu verantwortenden Vorgängen zu tun haben; und von der vielleicht oder vielleicht auch nicht existierenden Gesamtordnung der sich seit den Zeiten des Urknalls abkühlenden Materieklumpen würde der soziale Fortschritt auf der Erde ohnehin nicht viel zu erwarten haben.

Andererseits lässt sich die Existenz eines geschichtlichen Telos durch solche Überlegungen auch nicht ganz ausschließen, besonders dann, wenn man darunter keinen bestimmten Zielzustand, sondern einen inneren Sinnzusammenhang versteht, welcher sich untergründig und unabhängig vom Willen der Einzelnen vollzieht. Von einem Ziel der Geschichte würde man sprechen, wenn diese ein quasi-physikalischer Prozess wäre, der nach einer mehr oder weniger determinierten Zeitentwicklung gegen einen definierten Zustand strebte.

Man muss kein Zukunftsforscher sein, um zu erkennen, worauf der gegenwärtige Fortschritt der realen menschlichen Sozietäten hinausläuft, im allerbesten Fall, wenn lähmende Rückschläge (Vernichtungskriege, Seuchen, Tyranneien und sonstige Apokalypsen) vermieden bzw dauerhaft überwunden werden können. Dann wird am Ende eine Welterde stehen, in der die organische Natur weitgehend zurückgedrängt ist, auf Schutzzonen, die vielleicht 5 bis 10 Prozent der Erdoberfläche ausmachen. Den Rest der Fläche, soweit sie bewohnbar ist oder sich ausbeuten lässt, werden die Menschen für sich beanspruchen, und sich dank technischer Errungenschaften und eines gut organisierten Sozialsystems, in dem die Freiheit des Einzelnen gegen obligate Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzipien einigermaßen austariert ist, ein bequemes und zufriedenes Leben gönnen. Eventuell kann auch das menschliche Erbgut auf ein paar Lichtjahre entfernte erdähnliche Planeten befördert werden, und ganz allgemein wird sich die Menschheit alles leisten können, was ihr Herz begehrt, von der Erforschung der fundamentalen Weltgesetze über Lufttaxis bis hin zu Süßigkeiten und Pornographie, soviel unsere Triebe verdauen können.

Natürlich wird es immer Konflikte geben. Das Streben nach Macht und die Gier nach Geld, sowie auch Rassismus und Gewalt werden das beschriebene Bild erheblich stören. Doch geht es hier ja zunächst um die Frage, auf welches Ziel sich die Geschichte hinbewegen könnte. Vom subjektiven Standpunkt der menschlichen Gattung aus würde der oben skizzierte Idealzustand der Weltgesellschaft den ultimativen Fortschritt verkörpern - besonders im Vergleich zum jetzigen Stadium, wo Millionen am Hungern und in schlechten Verhältnissen zuhause sind.

Zu beachten ist hier einerseits, dass von einem wie auch immer gearteten höheren Standpunkt der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft nicht unbedingt als ein Fortschritt-an-sich erscheinen muss - man denke etwa an das schon erwähnte Artensterben, das sich bei immer zunehmenden Wohlstand der Menschen vermutlich weiter beschleunigt - und dass andererseits das obige Idealbild kein geschichtliches Telos im Sinne einer sich automatisch vollziehenden Notwendigkeit, sondern nur eine Tendenz beschreibt, von der man unter Umständen hoffen darf, dass sie erreichbar sein könnte.

Was ihr dauerhaft entgegensteht, sind nicht nur Raffgier und Gewaltaffinität der Menschheit, sondern auch die Tatsache, dass ein solcher Zustand allzu sehr nach einem Ende der Geschichte aussieht. Ein Ende der Geschichte aber ist für eine Gattung wie den homo sapiens, die möglichst keine Grenzen akzeptieren, sondern immer weiter voranschreiten möchte, vielleicht gar nicht erstrebenswert. Vorzuziehen wäre, ähnlich dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt, eine Art von dauerhaftem Progress, wobei sozusagen die Kräfte des Lichtes und die der Dunkelheit in ständigem Widerstreit liegen, und es dem Fortschritt trotzdem immer wieder gelingt, eine nächste, höhere Stufe zu erklimmen.

Diese Sichtweise wird nicht nur durch die auf dem Planeten mittlerweise weit verbreitete kapitalistische Wirtschaftsweise gestützt, mit ihrer ständigen Verbesserung der Produktion und des Warentransports und aber auch ihrem enormen und unsinnigen Ressourcenverbrauch sowie ihren zyklischen Krisen, sondern ganz allgemein lehrt die historische Erfahrung, dass fortgeschrittene, hoch entwickelte Gesellschaften ständig vom Scheitern, von autoritären Entartungen und äußeren Konflikten bedroht sind. Aus diesem Blickwinkel erscheint die künftige Entwicklung des Westens denn auch viel risikoreicher als aus der zuvor beschriebenen eher statischen Vision eines von Notwendigkeiten befreiten Schlaraffenlandes.

Danach wäre selbst am Zielpunkt der Globalisierung ein Konzept von Universalgeschichte im engeren Sinne, wäre jede Art von holistischem Denken, das man der schlechten Realität ja doch nur überstülpt, zu verwerfen. Es wäre die Geschichte mehr als ein lineares, auf sich selbst bezogenes Fluidum, viel reichhaltiger als jedes utopische Ideal, und ihre Opfer leider auch in Zukunft unvermeidliche, wenn auch zufällig verteilte Begleitumstände einer janusköpfigen und wellenförmigen kulturellen Evolution der Menschheit. Zudem hätten die Verfechter des sozialen Fortschritts, d.h. der Freiheit des Einzelnen und der Gleichverteilung und sparsamen Verwendung von Ressourcen, auch weiterhin ständig mit der sattsam bekannten Übergriffigkeit derjenigen zu kämpfen, die den Hals nicht voll kriegen können.

Die Geschichte der Gesellschaften fügt sich ein in den allgemeinen Strom der Zeit, und ihre Phänomene sind an die physikalische Materialität des Kosmos gekoppelt, wie auch an die biologische Identität des Menschen, die zu manchen unverkennbaren Ähnlichkeiten aller seiner Kulturen Anlass gibt (mögen sie zeitlich und geographisch noch so weit auseinander liegen) und nur vom unterschiedlichen Stand der technischen Produktivkräfte in den jeweiligen Epochen gebrochen wird.

Je nach Forschungsinteresse kann man sich entweder auf diese Ähnlichkeiten konzentrieren oder im Gegenteil die spezifischen Eigenschaften der einzelnen Kulturen separat betrachten, samt ihrer Entwicklung vom Aufstieg zum Untergang. Der Untergang des römischen Reiches ist Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen; im Idealfall sollte eine blühende Kultur aber in eine andere, fortgeschrittenere übergehen, und zwar dann, wenn es zu einem Entwicklungsschub infolge einer technologischen Transformation kommt, wie etwa während der neolithischen Revolution oder beim Übergang vom mechanischen zum elektromagnetischen Zeitalter.

Da ich Technologieschübe und Produktivkraftentfaltung plus die durch sie ermöglichten Verteilungsspielräume als primären Trigger gesellschaftlicher Veränderungen ansehe, an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zum Thema

Technik und sozialer Wandel

Der Beginn des elektromagnetischen Zeitalters, d.h. das Aufkommen der ersten auf dem Elektromagnetismus beruhenden Erfindungen, fällt historisch mit der Aufklärung zusammen. Der technische Fortschritt kann hier durchaus als Teil und gleichzeitig Motor und Folge aufklärerischen Gedankenguts verstanden werden.

In der heutigen Zeit heißt technischer Fortschritt, alte Industrien durch Hightec und umweltschonende Energiegewinnung zu ersetzen. Die Errungenschaften der Technik sind dabei nach wie vor eindeutig als positiv zu bewerten. Wie man in der dritten Welt sieht, ist Unterentwicklung andauernd mörderisch, technischer Fortschritt nur manchmal. Im Durchschnitt wird unser Leben dank Technik immer angenehmer, und es ist kaum abzusehen, welchen Aufschwung die Menschheit noch erleben wird. Dies pflegen besonders diejenigen unter den Technikkritikern zu unterschlagen, die nicht nur seine Auswüchse, sondern den technischen Fortschritt als Ganzen in Zweifel ziehen.

Sicher ist die Technik kein Allheilmittel. Gegen die ontologische Sinnlosigkeit unseres Daseins wie auch manche absurde soziale Ungerechtigkeit kommt keine Technik an, und diverse exzessive Umweltzerstörungen hat sie überhaupt erst möglich gemacht. Infolgedessen sind viele Einwände von Seiten ihrer Skeptiker durchaus berechtigt. Dabei geht es vor allem um soziale Folgen oder um Umweltschäden, die mit technischen Neuerungen oft einhergehen. Zu den sozialen Schäden gehören Arbeitslosigkeit durch Automatisierung oder irrationale Ängste, wie etwa die Furcht, der Mensch könne aufgrund der zunehmenden Digitalisierung zum Knecht der Maschine regredieren. Offensichtliche Umweltschäden sind die Vergiftung des Bodens und der Luft, die mit der Technik einhergehen, sowie die Verseuchung der Weltmeere. Am Ende solcher Analysen steht oft die Einsicht, dass Technik und Politik nicht kompetent genug waren, solche Auswirkungen wieder rückgängig zu machen oder gar zu vermeiden.

Nach meiner Meinung sollte man immer zuerst die Gesellschaft entscheiden lassen, was sie zielbestimmt erreichen will. Falls Einigkeit besteht, dass das Leben der Menschen durch Fortschritt erleichtern werden soll, müssen diese Verbesserungen der Natur abgerungen werden, mehr noch: sie werden fast immer auf Kosten der Natur gehen. Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass menschlichen Interessen a priori der Vorrang gebührt. Stattdessen wäre zu fragen, wie (i) die Zahl der Menschen auf dem Planeten begrenzt und (ii) der Pro-Kopf-Verbrauch an natürlichen Ressourcen reduziert werden kann. Dies sind die wichtigsten Stellschrauben im Hinblick auf jedes der oben beschriebenen Probleme. Je mehr Menschen am Fortschritt teilhaben und je komfortabler sie leben wollen, um so mehr leidet notwendigerweise die Natur, die zu diesem Behuf immer weiter zurückgedrängt werden muss. Ergo ist es besonders wichtig, die Übervölkerung zu begrenzen und für ein Gleichgewicht zwi-schen Naturschutz und Naturausbeutung zu sorgen. Hierin besteht die eigentliche Aufgabe der Politik, und man kann kaum den technischen Fortschritt dafür verantwortlich machen, dass viele Gesellschaften nicht willens oder in der Lage sind, ein solches Gleichgewicht herzustellen.

Soviel zur Frage der Technikfolgen. Woher aber kommt überhaupt der Fortschritt? Als biologische Wesen haben die Menschen die Fähigkeit zur genetischen und durch ihr Geistesbewusstsein auch zu kultureller Anpassung. Technische Neuerungen werden aber meist nicht eingeführt, um diese Anpassungen zu erleichtern, sondern dienen eher dazu, den bereits Angepassten körperliche Arbeit zu ersparen. Wie am Beispiel der Antibabypillen ersichtlich, können technische Neuerungen allerdings auch massiven Einfluss auf die demographische Entwicklung einer Gesellschaft haben.

Allgemein gilt die Regel, dass nur diejenigen Teile der Menschheit, die mit den je aktuellen Lebensbedingungen am besten zurecht kommen und sie für die eigene Vermehrung zu nutzen verstehen, die Zeitläufte überdauern werden. Dies ist ein unerbittlicher wenn auch chaotischer Prozess, der durch äußere Einflüsse wie Kriege, Wirtschaftskrisen und Migrationsbewegungen beständig modifiziert wird und zudem relativ langsam vonstatten geht.

Der technische Fortschritt beeinflusst unsere Sicht auf die Dinge und sogar auch, welchen politischen und moralischen Leitlinien wir folgen und welche Art von Anführern wir wählen. Wegen der oben beschriebenen Flexibilität unseres Intellekts und der auf ihm beruhenden Gesellschaften heißt dies aber nicht, dass die Technikentwicklung die industriellen oder gar gesellschaftliche Abläufe zwingend und eineindeutig vorschreibt. Die Arbeitsorganisation in den modernen Fabriken etwa, der in den entwickelten Gesellschaften eine zentrale Funktion für den Wohlstand und die Versorgung der Bevölkerung zukommt, muss als ein sozio-technisches System begriffen werden, das Wahl- und Gestaltungsfreiheiten zulässt. Hier sind durchaus Experimente angebracht, um die entfremdende Arbeitsteiligkeit zu überwinden. Bisher hat sich allerdings der Effektivitäts- und Profitgedanke gegenüber solchen Ideen meistens durchgesetzt.

Ein weiterer Nachteil der beschriebenen Entwicklung ist die Gefahr der Überanpassung der Individuen an die durch Technik optimierten Sozial- und Herrschaftsstrukturen. Während die immer weiter verbesserte Organisation der Gesellschaft unser aller Leben in vieler Hinsicht einfacher und bequemer macht, steigt der allgemeine Anpassungsdruck, weil Nonkonformisten leichter identifiziert und aussortiert werden können, während die Angepassten in die Schaltstellen der Macht gelangen, wo es weniger auf technische Intelligenz als auf die Qualität der sozialen Schmierstoffe ankommt. Missliebige und unbequeme Vertreter der Spezies werden außer in extraordinären Krisensituationen nicht mehr benötigt und teils subtil, teils rigoros beiseite gedrängt. In der Konsequenz führt dies zu uniformen Gesellschaften, nicht nur uniform bezüglich der sozialen und technischen Abläufe, denen sich alle glücklich zu unterwerfen haben, sondern auch der genetischen Ressourcen. Früher zuweilen in negativen Utopien vorhergesagt, stellt eine sich auf einen uniformen Charaktertyp verengende Menschheit inzwischen eine realistische Zukunftsvision dar.

Adorno schreibt in seiner Negativen Dialektik, keine Universalgeschichte führe vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. Man kann das - bei aller Misanthropie - auch so interpretieren: ein Telos gibt es möglicherweise im Bereich des technischen Fortschritts, zumindest in dem eingeschränkten Sinn, dass die technische Entwicklung fast immer eine Vorwärtsrichtung einschlägt, also fast immer ein Fortschritt ist, der als solcher auch vielen Menschen zugute kommen kann, und dass dieser auf einen Zustand vollendeter technologischer Performance geht, die zwar nie erreicht wird, doch in Zwischenschritten das Wohlergehen (zunächst eines privilegierten Teils) der Menschheit vergrößert.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass dem so begründeten Begriff des Fortschritts kein Telos im eigentlichen, emphatischen Sinn zugrunde gelegt werden kann. Die Geschichte folgt einem Auf und Ab, während der technische Fortschritt tendenziell weitergeht, ohne dass aber ein solches Telos erkennbar wäre. Auf dieser Basis könnte man höchstens den Begriff eines 'Semi-Telos' einführen, d.h. eines Zustandes, gegen den eine Kultur unter der Voraussetzung eines gegebenen technologischen Entwicklungspotentials strebt. Ein Semi-Telos ist so etwas wie eine realistische Bestmarke für den jeweils möglichen Fortschritt sowie auch für die sozialen Beziehungen der Individuen. Diese sind nicht qua Automatismus erreichbar - denn es ist genauso gut möglich, dass die Kultur durch kriegerische Konflikte oder andere falsche Wei-chenstellungen geschwächt wird oder ganz untergeht - wohl aber durch permanente kollektive Anstrengungen von Politik und Gesellschaft. Im Falle von Fehlentwicklungen bleiben Revolten oder Revolutionen das letzte Mittel der Wahl, um etwa eine Tyrannei abzuschütteln.

Beim Begriff des Semi-Telos ist eine gewisse Analogie zu dem der biologischen Teleonomie der Biologie festzustellen. In Wahrheit sind beide nur Krücken, damit niemand auf die Idee kommt, zusammen mit Telos bzw Teleologie auch den Begriff des Fortschritts über Bord zu werfen. Fortschritt allein bedeutet nicht Telos; es gibt Fortschritte und auch zeitweise allgemeinen, durchgängigen Fortschritt vor allem in aufstrebenden Kulturen, der dann im Niedergang allerdings nahezu vollständig verlorengehen kann.

Hierbei ist zu bemerken, dass der Begriff der Kultur a priori mit dem Fortschritt wenig zu tun hat. Es gibt Kulturen, welche repressiv und völlig erstarrt sind und in denen es keinen Spaß macht zu leben. Das soll nicht heißen, dass sich Fortschritt allein über das Glück, die Bequemlichkeit und den Wohlstand der Menschen definiert. Auch wenn die Natur weniger belastet wird, ist das Fortschritt - ob es nun den Menschen zugute kommt oder nicht.

Hier erweist sich die Rückbesinnung auf alte Kulturen als unergiebig, da diese sich auf einem veralteten Stand der Technik entwickelt haben, der dann die entsprechenden Kultureffekte generiert hat. In manchen Kulturen waren die Menschen glücklich, in anderen nicht.

Der Begriff des Semi-Telos enthält auch keine Synthesis oder Versöhnung. Er kann nicht in Hegelscher Manier den Blick auf die Opfer verdecken, deren Opfergang sich schon aus der allgemeinen Sinnlosigkeit unserer Existenz als sinnlos ergibt. Darüber hinaus ist ein Semi-Telos keineswegs eindeutig bestimmt. So könnte z.B. eine Tendenz auf eine Gesellschaft im Sinne Platos gehen, wo 'Philosophen' das Sagen haben und die soziale Befreiung scheinbar nicht dazugehört. Dann kann es geschehen, dass einer Mehrheit der Menschen die Freiheit aber so wichtig ist, dass sie sich über dieses scheinbar so bedeutsame Semi-Telos hinwegsetzt.

Alle geschichtlichen Akteure einschließlich des 'gemeinen Mannes' folgen hauptsächlich ihren egoistischen Interessen und Trieben, die wiederum bedingt sind durch Tradition, Erziehung, Zeitgeist und so weiter, und durch einen Hang zu selbstzerstörerischer Spontaneität. Allein deshalb kann das geschichtliche System im strengen Sinne niemals teleologisch sein. Es ist ein selbstorganisiertes System, und wie alle selbstorganisierten Systeme kann es zwischenzeitlich zu relativ stabilen Gebilden führen, in deren Rahmen die Natur und ein unterprivilegierter Teil der Menschheit auf effektive Weise ausgebeutet werden, jedoch nie zu der besten aller Welten.