Vorrede

 

Die Bedeutung der Philosophie liegt seit jeher darin, das gemeinsame Dach für die Natur- wie auch die Geisteswissenschaften zu bilden, und darüber hinaus deren vom Bewusstsein vorgegebene Einschränkungen mitzudenken. Dabei sind Objekte der Philosophie nicht nur die Methoden und Resultate des menschlichen Reflektierens, sondern auch die Totalität des materiellen und geistigen Seins. Unter den Wissenschaften nimmt sie daher eine natürliche Sonderstellung ein.

Diese hat ihr zuweilen den Ruf eingebracht, sie bewege sich in einem zurückgebliebenen, ja unreifen Stadium und habe den Rang einer Wissenschaft vorläufig noch nicht erreicht. Einer solchen Einschätzung ist jedoch zu widersprechen. Abgesehen davon, dass sich die Philosophie den jeweils neuesten Entwicklungsstand der Wissenschaften zunutze machen kann und muss, gibt es bei ihr - genau wie in jeder anderen Wissenschaft - richtige und falsche Ansätze, Modelle und Standpunkte. Darüber hinaus ist auch nicht einzusehen, weshalb eine so alte Disziplin wie die Philosophie unreif sein könnte. Im Gegenteil: die Philosophie zeigt ihre Reife, indem sie selbst in Fällen, wo keine neuen Elemente zur Betrachtung hinzugetreten sind, neue Akzentuierungen ohne weiteres zulässt, und sich auch nicht scheut, durch diese den Blick auf die Totalität zu verändern.

Schon gar nicht darf man den Fehler begehen, die Philosophie näher bei Kunst und Religion anzusiedeln als bei den Wissenschaften. Während das vorherrschende Merkmal der Kunst die Schönheit ist, und das der Religion der Glaube, hat Philosophie von Definition und Begriffsbildung her mit dem Denken zu tun, und weniger mit Empfindungen - oder sagen wir besser: es hat mit Empfindungen nicht mehr zu tun als jede andere Wissenschaft auch. Die Philosophie kann sich der Schönheit und dem Glauben mit philosophischen Methoden nähern, doch das heißt natürlich nicht, dass sie in irgendeiner Form Kunst oder Glaube wäre.

Ein Mensch kann Philosophie betreiben und leidenschaftlich von ihr ergriffen sein, weil er spürt oder zu spüren meint, dass sich seine Gedanken auf das Große-Ganze oder etwas Kosmisches beziehen; es geht ihm damit aber nicht anders als jenem Naturwissenschaftler, der von dem letztlich unergründlichen Zauber eines Naturgesetzes beseelt ist und darin eine göttliche Wirkung durchscheinen sieht. Kurz gesagt: von Emotionalität und Intuition werden auch die Kollegen in den Fachdisziplinen inspiriert und beeinflusst, und es kann aber die Philosophie genau wie die Einzelwissenschaft nicht bei Gefühlen stehenbleiben.

Es ist auch nicht so, dass alle Philosophie die Endlichkeit des Menschen reflektieren muss, die Potenz seines Geistes und seiner Kultur oder die Unendlichkeit des Universums. Diese können ihr Thema so gut sein wie jedes andere, etwa das Geld, die Armut oder jene Art der Entfremdung, die dem Menschen nicht einmal sein Einzeln-Sein lassen will. Philosophie kann sich auf eine Welt beziehen, die vom menschlichen Denken und Tun derart beeinflusst ist, dass darunter liegende objektive Materiestrukturen scheinbar keine Rolle mehr spielen, aber genauso gut kann sie versuchen, einen letzten materiellen Grund allen In-der-Welt-Seins zu entdecken. Es gibt eben verschiedene Wege der Philosophie, verschiedene Einstellungen gegenüber Natur und Gesellschaft, und auch verschieden akzentuierte Bewertungen wissenschaftlicher Erkenntnis. Es gibt die Naturphilosophie, und es gibt eine Einstellung, die die materielle Natur für ein nachgeordnetes Phänomen hält und vordringlich ge-sellschaftliche oder politische Betrachtungen anstellt. Dann wieder gibt es diejenigen Philosophen, die die Welt nur zusammen mit der Psychologie des Menschen für begreifbar halten, oder die, welche dem Denken mit den präzisen Werkzeugen von Logik und Mathematik auf die Spur kommen wollen.

Alle diese Zugänge sind erlaubt. Was allein zählt, ist der Erkentnisgewinn. Indem sie die Gesamtheit dieser Aspekte zu integrieren versteht, wird die Philosophie zu einer umfassenden Wissenschaft. Das gilt sogar für die Metaphysik, die heute oft als Scheinwissenschaft abgelehnt wird, nach meiner Auffassung aber immer ihren Platz in der Philosophie behaupten wird, in jenen Bereichen, die die Grenzen der menschlichen Existenz und Erkenntnis markieren. Kurz gesagt gilt: Philosophie sollte so präzise wie möglich vorgehen - und so metaphysisch wie nötig.

Von jeher geht philosophisches Denken darauf, in weitem Kontext tiefgründige Fragen zu beantworten. Doch gerade diejenigen Fragen, die die Menschheit seit dem Eintritt der Vernunft in die Geschichte am brennendsten interessieren, wie zum Beispiel die nach dem Sinn oder Ziel des Lebens, dem letzten Urgrund des Daseins oder die tiefere Verfasstheit und Freiheit unserer Individualexistenz, sind bisher nicht oder nur unvollständig beantwortet worden.

Möglicherweise lassen sie sich gar nicht beantworten, auch nicht durch noch so verklausulierte rationale Konzepte, sondern man kann sich ihnen höchstens im Rahmen metaphysischer Konstruktionen nähern, einfach weil die auf der Erde entstandene menschliche Intelligenz dafür wenig geeignet ist. Viele neuere Konzepte der Philosophie zielen ohnehin nur funktionalistisch auf die Entzifferung struktureller Abläufe und streben gar nicht an, jene Metaebene zu erreichen, auf welcher jene Fragen zu behandeln wären. Auch die Wissenschaften von der Natur sind vor allem beschreibend tätig und können jene Probleme daher kaum lösen.

Trotz solcher Hemmnisse lässt sich durchaus zu Recht behaupten, dass die Philosophie heute immer mehr einem Abschluss zustrebt - wenngleich nur in einem relativen Sinn, d.h. modulo weiterer möglicher Akzentuierungsstrategien. Dies hängt nicht allein damit zusammen, dass die enge Welt der Menschen, die traditionell einen wesentlichen Bestandteil philosophischer Betrachtungen ausmacht, dem Grundsatz nach unveränderlich ist. Das menschliche Leben und Zusammenleben findet unter verschiedenen, jedoch immer von der Natur vorgegebenen Vorzeichen und immer auf der Erde statt. Der Mensch kann die Natur und seine eigenen Lebensverhältnisse kulturell und technisch beeinflussen, kann sich Gedanken über die von ihm beobachteten kleinsten Teilchen und größten Galaxienansammlungen machen, ist aber nicht in der Lage, die dem kosmischen Geschehen zugrunde liegenden Naturgesetze aus eigener Kraft zu modifizieren.

Darüber hinaus hat sich auch die Menschheit als Ganzes in den letzten Jahrtausenden nicht allzu sehr verändert; sonst würden uns Heutigen die philosophischen Fragen und Ansätze antiker Denker nicht so selbstverständlich erscheinen.

Tatsächlich ist der Fundus philosophischer Fragen weitgehend erschöpft, und auch die meisten Antworten sind bereits gefunden. Abgesehen von den bereits genannten 'metaphysischen' Sinnfragen gibt es allerdings noch einige weitere Bereiche, in denen vollständige Antworten kontrovers oder nicht gegeben sind. Obwohl meine Abhandlung den Fundus als Ganzes umfasst, konzentriert sie sich auf eben diese Bereiche und versucht, sie zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. Im Einzelnen geht es darum,

-was die Natur der Substanz ist, aus welcher der Kosmos in Wahrheit besteht, und wie sich Raum und Zeit als deren Umgebungsbedingungen konstituieren.

-wie Geisteserkenntnis in und über die äußere Welt überhaupt möglich sein kann. Eine alte Frage, von Lorenz schlüssiger beantwortet als von Platon oder Kant. Ich werde diese klassischen Deutungen um den Begriff des Pointers erweitern, vermittels dessen Ideen mit Erkenntnisobjekten verbunden werden können.

-ob es Gedanken oder Erkenntnis ohne Sprache geben kann. Gewiss in dem Sinne, dass jeder Gedanke mit etwas Vorsprachlichem ansetzt und somit der Keim jedes Gedankens sprachlos ist. Ein Bild zum Beispiel, das wir uns vorstellen, ist i.a. nichts Sprachliches, und wir können durch Bilder gewissermaßen an der Sprache vorbei Erkenntnis gewinnen. Sprache besteht aus Zeichen, Wörtern, Begriffen und Pointern, Erkenntnis liegt näher bei den Dingen an sich.

-ob es menschliche Freiheit gibt, oder ob unser Leben in jedem Moment vollständig determiniert ist. Zunächst muss man sich darüber klarwerden, dass Freiheit kein an-sich ist, sondern eine Eigenschaft für-uns. Sie ergibt sich aus der Existenz des Zufalls, weil das an sich determinierte Weltgeschehen für uns nicht völlig erfassbar ist. Ein wichtiger Wesenszug ist ihre Negativität.

-welches die bevorzugte Gesellschaftsform ist, in welcher wir leben sollten.

-ob es ein Telos oder einen tieferen Sinn in der Geschichte bzw der künftigen Menschheitsentwicklung gibt. Ein Telos wohl nicht, doch es gibt technischen und sozialen Fortschritt, der freilich immerzu vom Entgleisen bedroht ist; und es gibt im Zeitalter der Globalisierung vielleicht so etwas wie eine Universalgeschichte, auf die alle gegenwärtigen Kulturen der Erde hin konvergieren.

-ob Letztbegründungen unseres Seins und der Erkenntnis überhaupt möglich sind.

-was Metaphysik wann zu leisten vermag.

Man könnte vermuten, der erwähnte technische Fortschritt, etwa das Internet oder Eingriffe in das menschliche Erbgut, generiere beständig neue Aspekte und Sichtweisen der Philosophie. Das ist aber nur selten der Fall, da sich die Schlüsselfragen der menschlichen Existenz selbst durch Technologiesprünge höchstens graduell verändern und normalerweise auch keine neuen hinzutreten. Unsere Lebensweise und viele gesellschaftliche Prozesse mögen sich durch Technik vereinfachen, aber an den fundamentalen Fragen des Daseins ändert sich meistens nicht viel.

Die Situation der Philosophie ist damit komfortabler als die der Naturwissenschaften. Diese haben zwar beträchtliches Wissen aufgehäuft, auf dessen Basis sich viele natürliche Prozesse zum Beispiel der Chemie und Biologie begreifen lassen, und von ihren Auguren wird gern selbstbewusst verkündet, mit den beiden sogenannten Standardmodellen der Teilchenphysik und der Kosmologie sei ein vollständiges Weltbild bereits gegeben. Leider ist diese Behauptung falsch. Um das zu erkennen, muss nur daran erinnert werden, dass etwa das Standardmodell der Teilchenphysik ebenso wie seine Erweiterungen Dutzende von nicht berechenbaren Parametern sowie ein Ensemble von 24 fermionischen Teilchen enthält, die man allesamt als fundamental zu betrachten gezwungen ist.

Auch gibt es, von einigen nicht verifizierbaren und voluntaristischen Ansätzen abgesehen, bis heute keinerlei Verständnis dafür, wie sich Quantenmechanik und Gravitationstheorie - und damit die beiden genannten Standardmodelle - zusammenführen lassen. Der Leser mag hinnehmen, dass eine neuere Theorie des Autors, die diesen Problemen Abhilfe schafft, an verschiedenen Stellen des Tractatus zur Absicherung der philosophischen Argumente herangezogen wird.