+++s7 Den naechsten Morgen "Hallo Laura und Martin und alle Leute aus der Stresemannstrasse, jetzt habe ich mich endlich mal hingesetzt, um fuer euch aufzuschreiben, wie es mir in den weissblauen Landen ergeht. Also: Ich wohne mit vielen Leuten und zwei kleinen Kindern in einem herrlichen Haus mit grossem Garten und viel Wald drumherum. Zum naechsten Ort sind es zwei Kilometer, also eine halbe Stunde zu Fuss. Daraus ist nicht zu schliessen, dass wir auf die Uralt-Ideologie vom schoenen Leben auf dem Lande hereingefallen sind. Wir wollen ein neues Zusammenleben ausprobieren, Moeglichkeiten ausloten, die mir in der Stadt immer gefehlt haben, aufgrund der beschraenkten auesseren und inneren Gegebenheiten. Wenn ich nur an Britta oder Otto und ihre seltsamen Allueren und Lebensgewohnheiten denke! Dann wird mir speiuebel; Mann bin ich froh, dass ich weggegangen bin. Nach aussen sind wir politisch nicht besonders engagiert, obwohl hier in diese herrliche Landschaft demnaechst ein neuer Flughafen hineinbetoniert werden soll, dem der ganze Wald, das Moos und wahrscheinlich auch dies Haus zum Opfer fallen werden. Dann wird man nicht mehr wie ich jetzt auf der Terasse sitzen koennen und zu den gruenen Tannen hinueberblicken und den tausend Vogelstimmen lauschen. Du fragst, womit ich meine Zeit verbringe? Zuerst haben wir lange ueberlegt, was wir tun koennen. Bei mir hat sich immer klarer herauskristallisiert, seit ich die Enttaeuschung mit Britta verarbeitet habe, ich will mich auf den oekologischen Landbau konzentrieren. Am Wochenende fahre ich zu lokalen Maerkten, nach Freising, Erding, Moosburg, um meine Produkte zu verkaufen, und auch die von anderen Biobauern aus der Umgebung, und das Brot einer alernativen Baeckerei. Ich werde ein Auto brauchen, obwohl ich grundsaetzlich gegen Autos bin und ausserdem nicht weiss, wie ich es finanzieren soll. Zuerst hatte ich ueberlegt, einen Esel und einen Karren anzuschaffen, aber damit waere ich zu lange unterwegs. Also muss es ein Auto sein, irgendein altes Ding fuer maximal 1000 Mark, moeglichst ein Kombi mit grosser Ladeflaeche, sonst brauch ich noch einen Haenger dazu. Die anderen sind auf die Idee verfallen, einen kleinen Verlag zu gruenden, fuer alternative Publikationen, vegetarische Kochbuecher und so weiter, bitte lach jetzt nicht. Das Projekt ist schon ziemlich weit gediehen, in einem der Schuppen steht eine nagelneue Druckerpresse, und Jochen ist in ganz Bayern unterwegs, um Auftraege an Land zu ziehen. Allerdings gibt es auch schon die ersten Schwierigkeiten ... Wir verbringen viel Zeit, unsere Rolle zu diskutieren, das heisst die Rolle jedes einzelnen innerhalb der WG, und je mehr wir diskutieren, um so heftiger werden die Auseinandersetzungen, denn manch einer kennt keine Grenzen bei diesen Diskussionen, und es besteht die Gefahr, dass wir unsere urspruenglichen Absichten aus den Augen verlieren. Trotzdem weiss ich, meine Entscheidung ist richtig gewesen. Die Aufgabe des Studiums war eine Kulmination verschiedener Effekte, nicht allein die Trennung von Britta, nicht allein der Bruch mit der Universitaet. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem mir klar wurde, dass jede Handlung, die sich fremden Anspruechen beugt, zugleich gegen meine eigenen Wuensche gerichtet ist ..." Richard legte den Brief beiseite. Er hatte in der Stresemannstrasse uebernachtet. Gestern war es weinselig spaet geworden, und er war zu traege gewesen, noch nach Hause zu fahren. Kalle, der meist sowieso bei Laura schlief, hatte ihm bereitwillig sein Bett ueberlassen. Wie immer war er frueh wach geworden - dagegen liess sich anscheinend nichts machen, sein Rhythmus war so eingestellt, auch wenn er noch so spaet ins Bett ging, Schlag sieben trieb es ihn hoch - und hing abwartend allein in der Kueche herum, weil er die anderen nicht wecken wollte. Raeumte Reste beiseite und nahm Brot und Kaese aus dem brummend altersschwachen Kuehlschrank, der schwer zu atmen schien wie ein Asthmakranker und gelegentlich ein besorgniserregendes Husten und Klickern hoeren liess. Hinter dem Fenster donnerte die S-Bahn vorbei. Hoffentlich musste er Horst nicht ertragen, soviel er wusste, stand der immer ziemlich frueh auf. Kaum hatte dieser Gedanke Gestalt angenommen, da erschien Jener auch schon in der Kueche, samt Freundin, verschlafen. Seine ostfriesische Flamme hatte er vor einiger Zeit abgelegt, und es irgendwie geschafft, quasi ueber Nacht und im fliegenden Wechsel auf eine Kommilitonin umzusatteln, und dies hatte sein Leben eindeutig zum Vorteil veraendert, im Gegensatz zur alten war die Neue dauernd verfuegbar, er musste zur Triebabfuhr nicht jedesmal nach Friesland fahren. - Man fruehstueckte schweigend und abweisend, der Kuehlschrank rauschte jetzt wie ein Wasserfall, das war wirklich ein Paerchen, fand Richard, zwei Lehrerstudenten, die sich voellig gegen die Aussenwelt abschotteten, und ums Verrecken nicht aus der Stresemannstrasse auszogen, dazu war die Miete zu guenstig. Etwas spaeter rasselte ein Wecker. Der Laerm kam eindeutig aus Martins Zimmer, er wuerde also hoffentlich gleich in der Kueche auftauchen. Normalerweise belegte er nur Nachmittagsveranstaltungen (wofuer er keinen Wecker gebraucht haette), doch seit Ellens Auszug quaelte er sich manchmal wegen einer 11-Uhr-Vorlesung hoch, besonders bei interessanten Themen wie 'Der Seinsbeweis in Heideggers vierter Schaffensphase' oder 'Die Quadratur des hermeneutischen Zirkels in der Religionsphilosophie'. Bevor ihm aber einfiel, dass sie heute nach Muenchen fahren wollten, bevor er sich ganz gereckt und auch nur ein Bein aus dem Bett gehoben hatte, bruellte es ploetzlich im Nebenzimmer: "WAS IST DENN DAS, WAS IST DENN HIER LOS?", dass ihm vor Schreck ganz schwarz vor Augen wurde. Der Wecker hatte anscheinend auch Kalle geweckt. Doch was hatte ihn zu diesem Ausbruch getrieben? Vorsichtshalber blieb er unter dem Schutz der waermenden Bettdecke liegen, indes Neugier Richard in den Flur trieb ... Folgendes war geschehen: Kalle hatte hatte halb schlafend auf Lauras Matraze gelegen, und gerade die Augen geoeffnet und ein bisschen umhergeblinzelt, und auf einmal in unmittelbarer Naehe, keine 10 cm vor seiner Nase ein seltsames Schauspiel beobachtet. "Ich glaub ich traeume", sagte er zu der schlafenden Laura, wobei seine Stimme mit jedem Wort hysterischer wurde. "Was ist denn das, was ist denn hier los? Was hopst denn da auf dem Teppich herum?" "Was, was hast du?" fragte sie schlaftrunken, waehrend Raja gleichgueltig die Schnauze hob. "Komm mal her, sieh dir das mal an, ueberall ...", keuchte er und liess seinen Zeigefinger kreisen. "Erst habe ich gedacht, das sind kleine Tautroepfchen, die aus dem Teppichboden hochspritzen, und gemeint, ich sei in einem Zauberland, aber das sind ja TIERE!" "Das werden paar Hundefloehe sein, reg dich nicht auf", versuchte ihn Laura zu beruhigen. "Was, PAAR Floehe?" rief er entruestet, "das sind Tausende, Abertausende, ganze Schwaerme von dem Ungeziefer hopsen hier herum, schau's dir an, sie sitzen ueberall, auf dem ganzen Teppich." Tatsaechlich, wohin man blickte, vom Bett ueber Rajas Korb bis zum Fenster, ueberall tanzten die Tierchen in der Vormittagssonne. "Naja", musste Laura zugeben und sagte dann erst einmal gar nichts mehr. "Was zuviel ist, ist zuviel", entfuhr es ihm. So schnell er konnte, stand er auf und streifte sich die Hose ueber. Eben noch hatte er sich auf ein liebevolles 'Guten Morgen' und vielleicht den Austausch von Zaertlichkeiten gefreut, doch danach stand ihm jetzt nicht mehr der Sinn, ihm war der Spass vergangen, von ihm aus konnte sich Laura allein mit ihren Floehen vergnuegen. Richard spaehte in Martins Zimmer. Ueber all den Radau war der Freund wieder eingeschlafen; morgens war eben nicht seine Zeit. Richard liess ihn schlafen. Warum wegen Hermeneutik in Hektik verfallen, dachte er, und setzte sich mit Laura und Kalle in die Kueche. (Horst und Freundin hatten die Fliege gemacht.) Kalle war immer noch aufgebracht wegen der Floehe und schimpfte aus allen Rohren. "Du kriegst dich ja gar nicht mehr ein", haenselte ihn Richard. "Ja echt, darueber kann ich mich voll aufregen, ey, brauchst gar nicht so zu grinsen, ich hab hier in der Stresemannstrasse schon einiges erlebt, aber irgendwo ist die Grenze, wenn man Angst haben muss, dass der ganze Dreck und Unrat einen krank macht. Seit Ellen ausgezogen ist, haengt Martin nur noch deprimiert herum und macht im Haushalt gar nichts mehr. Und ich muss sagen, ich ekele mich inzwischen vor der Raja, so dreckig und lausig wie sie immer rumlaeuft. - Doch, echt, in deinem Zimmer riecht es richtig penetrant nach Huendin", wandte er sich an Laura, die ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte, "kannst du ihr nicht wenigstens ein Flohhalsband spendieren?" "Bitte spiel nicht den wilden Mann", sagte sie. "Bisher hast du in meinem Zimmer noch keinen Grund zur Klage gehabt. Ich weiss auch nicht, warum die Floehe sich auf einmal so vermehrt haben." ------- Wenig spaeter klingelte das Telefon. "Richard, hier ist die Dagmar am Telefon, sie will dich sprechen", sagte Laura. "Ok gib her, ja-hallo, hier ist Richard." "Ja, hallo Richard, hier ist Dagmar, ich wollte mich nochmal melden, bevor du wegfaehrst und dir eine schoene Reise wuenschen." "Ja danke, du hast Glueck, dass du mich noch erwischst, spaetestens in einer halben Stunde wollen wir fahren." "Ich glaube, so lange bist du noch nie weggewesen, seit wir uns kennen. Also bitte ruf mich von Muenchen oefter mal an, damit ich mich nicht so einsam fuehle." "Du haettest mitkommen koennen", warf er ein. "Du weisst doch, das geht nicht", seufzte sie, "ich waere ja gern ... Aber wenn wir telefonieren, haben wir auch was davon, ich weiss sonst nicht, wie ich die Zeit ueberstehen soll." "Ich auch nicht", gab er zoegernd zu. "Ich werde dich bestimmt anrufen." Das Laeuten des Telefons hatte Martin wieder wach gemacht, er drehte sich hin und her und griff nach dem Wecker. Ach, schon halb zwoelf. - Naja. Morgens war er meist doppelt deprimiert, wegen des Studiums, das nicht vorangehen wollte, weil er am Institut keinen Anschluss fand und sich nicht entschliessen konnte, in welche Richtung er sich spezialisieren sollte, weil ihm das Spezialistentum an sich problematisch erschien, wegen Ellen, denn obwohl ihm die Trennung 'offiziell' nichts ausmachte, nagte das Alleinsein doch-ziemlich an ihm, er fand das Single-Leben aeusserst gewoehnungsbeduerftig, und meinte, dass er auf die Dauer ohne Ersatz fuer Ellen nicht gluecklich sein konnte, ueberhaupt aber wegen der ganzen Aussichtslosigkeit des Lebens, und manchmal kroch eine seltsame Angst in ihm hoch, er werde dem Druck der Welt nicht mehr lange standhalten und in irgendeine Form des Wahnsinns fluechten. Mit einem kurzen Stoehnen richtete er sich hoch und schlurfte verschlafen in die Kueche, wo ihn helles Mittagslicht und Richards aufgeweckte Launigkeit irritierten. Er sank auf den naechsten Stuhl und liess Kopf und Schultern haengen, dann starrte er aus dem Fenster, waehrend Richard an der Spuele wirtschaftete. (Kalle und Laura hatten die Fliege gemacht.) "Ich habe mir den Sartre aus deinem Regal genommen", sagte Richard ploetzlich und zeigte auf den Stuhl, wo das Buch lag. "Ach ja, von mir aus gern ..." "Die Existentialisten waren tatsaechlich so ne Art Jugendbewegung in Europa, ungefaehr zur selben Zeit wie die Beatniks in Amerika, im Grunde ziemlich sympathisch, weil sie vom ganzen Muff der 50er Jahre und Wirtschaftswunder und allem ziemlich abgekoppelt waren. - Von der Theorie kann ich sie allerdings nicht so ganz nachvollziehen. Sartre scheint die Begriffe 'Sein' und 'Freiheit' als mehr oder weniger aequivalent anzusehen. - Aber vielleicht meint er auch nur das PRINZIP der Freiheit, welches durch unsere blosse Existenz gegeben ist, weil wir an aeussere Dinge herantreten und sie bearbeiten koennen. Ich glaube aber, wenn man so von Freiheit spricht, verkuerzt und desavouiert man ihren Begriff. Man vernebelt die emphatische Moeglichkeit jener Freiheit, zu der wir erst gelangen wollen." Nach einem Blick auf den wie niedergestreckt dasitzenden Freund: "Was ist mit dir, du machst so einen verstoerten Eindruck." "Nein, nein, rede nur weiter", sagte Martin lahm, "es ist schlicht ... ich bin noch total muede, und der Eisschrank macht solchen Krach. Er nervt mich jeden Morgen nach dem Aufstehen." "Wenn du wissen willst, warum ich jetzt damit anfange ... weil es mich derart beschaeftigt, im Hintergrund meines Denkens ist eine dauernde eschatologische Hoffnung, dass meine Existenz nicht vergebens, marginal oder vergessen sein wird, sondern Sinn und Bedeutung hat, auch ueber meinen Tod hinaus, und zwar meine Existenz nicht als Teil der Menschheit, sondern meine spezielle Individualexistenz, die sich von anderen abhebt, indem sie die Moeglichkeiten der Freiheit tatkraeftig und ideenreich nutzt." "Der authentische Existentialismus kommt eigentlich nicht von Sartre, sondern ueber die Husserl-Heidegger Schiene", bemerkte Martin. "Ich glaube nicht, dass man in diesem Universum jemals GANZ frei sein kann. Da sind biologische Notwendigkeiten vor, die sind staerker und haben einen anderen Charakter als die sozialen Zwaenge, und ragen tief in die menschlichen Verhaeltnisse hinein. Zum Beispiel die Herr-Knecht Beziehung, Hegel und Sartre machen es sich zu einfach damit." "Sartre wuerde schon zugeben, dass man sich befreien muss, und zwar auch als Individuum", erklaerte Martin, an Richard vorbeiredend. "Ich muss jetzt erst mal was essen", setzte er unwirsch hinzu und drehte sich zum Kuehlschrank, dessen Brummen nunmehr von einem hohen, fernen Ziepen begleitet wurde, wie wenn Schmiergelpapier mit aller Kraft ueber ein Brett faehrt. Ein Laeuten an der Haustuer unterbrach seine Konzentration auf die musikalische Darbietung. "Geh mal hin, ich bin noch nicht angezogen", sagte er. - "Ach Hallochen", rief Dirk ueberrascht, als ihm von Richard geoeffnet wurde; und da der Andere nichts weiter sagte, sondern ihm nur die Tuer aufhielt und die Begruessung hauptsaechlich Raja ueberliess, fuegte er hinzu: "Ich will zu Laura, wir sind verabredet, weil wir ins Alte Land fahren wollen." "Ich habe nichts dagegen", sagte Richard trocken. "Komm rein. Ich glaube, sie ist im Bad. - Laura?" rief er, und kehrte, waehrend Dirk sich mit der Badezimmertuer verstaendigte, in die Kueche zurueck. "Entschuldigt", rief Dirk etwas spaeter geziert, "ich setze mich in Lauras Zimmer und werde dort auf sie warten." "Ich weiss gar nicht, warum er sich immerzu entschuldigt", wunderte sich Richard. "Ja der Dirk", sagte Martin und laechelte vertraeumt. "Er scheint mit Laura super befreundet zu sein, wenn er den ganzen Tag mit ihr auf Tour geht. Was sagt eigentlich Kalle dazu?" "Ach, Dirk und Kalle vertragen sich bestens. Dirk ist einfach ein angenehmer Zeitgenosse, mit dem jeder gern die Zeit verbringt." "... ich meine, stoert es Kalle nicht, dass Laura allein mit ihm herumzieht?" praezisierte Richard die Richtung seiner Frage. "Die beiden haben wirklich eine offene Beziehung." "Ich glaube nicht", sagte Martin. Er war nahe daran, zu fragen, wie offen seine, d.h. Richards, Beziehungen waren, und warum er sich in dieser Hinsicht und in allem, was Dagmar betraf, so bedeckt hielt, und sich so selten mit ihr sehen liess, obwohl er sich mehrmal woechentlich mit ihr traf. Aber er hielt den Mund, er war nicht neugierig, und ihre Freundschaft erstreckte sich gewohnheitsmaessig nicht auf solche Themen, er dachte: "Richard wird schon Gruende fuer seine Schweigsamkeit haben", und erklaerte: "Vor Dirk braucht sich Kalle nicht zu fuerchten. Man sieht doch sofort, dass er schwul ist." "Du kriegst die Motten! Nein, ich kann sowas nicht sehen, bist du sicher?" "Ziemlich. Wahrscheinlich fehlt dir der Blick dafuer. Vielleicht muss man selbst homoerotische Neigungen besitzen, um so was erkennen zu koennen." 'Homoerotische Neigungen', was sollte das wieder heissen, fragte sich Richard, aber Martin war jetzt richtig wach geworden und in Stimmung, reinen Tisch zu machen. Wenn er in jeder Hinsicht Ruecksicht auf Richard nahm, konnte er von ihm dasselbe erwarten. Natuerlich hatte auch die Trennung von Ellen damit zu tun, die hatte sein Verhaeltnis zu Frauen verhaertet, und ausserdem hatte er keine Lust, in Zukunft Versteckspiele aufzufuehren, wenn er sich mit Schwulen traf. "Ja, ich mag Maenner", sagte er also in Richards Schweigen hinein, "und ich hatte auch schon ein paar Liebeleien, besonders in letzter Zeit ...", und als der Andere noch immer keinen Ton verlauten liess, weil die Beichte ihm einen gewissen Schock versetzte ... Ohne dass freilich darauf zu reagieren gewesen waere ... Wenn Martin moeglicherweise schon seit Jahren schwul war und seinen Zustand als ganz normal ansah, war er das wahrscheinlich auch, und man brauchte davon kein Aufheben zu machen und das waere die unschuldigste Erklaerung fuer sein Schweigen, setzte er hilfos hinzu: "... ich meine ich bin nicht NUR schwul, mit der Ellen war ich unheimlich gern zusammen. Aber in letzter Zeit, besonders seit sie ausgezogen ist, sind meine Gefuehle fuer Maenner immer staerker geworden, ich kann nicht erklaeren warum, es ist einfach so." Man weiss nicht, dachte Richard, ob man sich angesprochen fuehlen soll. "Ich kann mich nicht erinnern, jemals schwule Tendenzen gehabt zu haben", sagte er sicherheitshalber, "und wenn, dann hat mein Ueber-Ich sie wahrscheinlich ganz schnell verdraengt ... ich weiss noch, einmal im Kino, ist schon Jahre her, ich war 14, 15, in einer bestimmten Szene, wo ein nasstriefender Nackter aus der Wanne stieg, da kam so ein Gefuehl hoch, aber irgendetwas hat mich gezwungen, wegzublicken und den Vorfuehrraum zu verlassen, und dann war es wieder vorbei, so dass ich bis heute nicht weiss, welche Bedeutung das hatte ... jedenfalls ist es so, der Anblick einer nackten Frau erregt mich, und ich muss regelmaessig aufpassen, dass ich keinen Staender kriege, bei einem nackten Mann passiert nichts dergleichen ... bis auf diesen einen Vorfall, meine ich." "Ist schon klar", sagte Martin rasch, "es muss auch Heteros geben. Wir Homos koennen das verschmerzen. Ausserdem koennen wir auch ganz normale Freundschaften zu Maennern pflegen, unsere Beziehung zum Beispiel, also du und ich, unsere gemeinsamen Interessen und Vorstellungen, das ist eine voellig andere Ebene, verstehst du, das hat mit Sex nichts zu tun, oder nur sehr vermittelt. Wir beide teilen eine ganz eigene Welt von Vorstellungen und Ideen, es reicht, wenn ich eine kurze Bemerkung mache, und du weisst meist schon genau, wo auf unserem Globus ich hinwill, und umgekehrt. So eine Freundschaft ist viel mehr wert als jedes sexuelles Verhaeltnis." Richard hielt es fuer das Beste, im Moment nicht weiter auf das Gestaendnis einzugehen und es auch in Zukunft moeglichst zu verdraengen, dann wuerde es ihre Freundschaft am wenigsten tangieren. Er musste aber doch denken, wie fremd und unverstaendlich anders Martins Sexualitaet war, so dass er trotz der beschworenen Gemeinsamkeiten den Freund niemals vollstaendig verstehen konnte, alles, was dieser ueber seine Beziehungen sagte, die oefters wiederholte Behauptung zum Beispiel, er habe die Trennung von Ellen schon weitgehend verarbeitet, war das ein leicht dahin gesagtes Placebo, oder glaubte er wirklich daran? Oder damals, die kaltbluetigen Kommentare, als sie mit dem Perser voegelte ... Vielleicht war die Erklaerung ganz einfach, vielleicht hatte er sich als Kind, bei der Trennung der Eltern, eine harte Schale zugelegt, und konnte jetzt einiges besser verkraften als Andere ... oder es war nur die vergebliche Illusion einer harten Schale, die er sich vorspielte, wer konnte das wissen? Und ploetzlich, waehrend sie einander musterten und ihre tiefsten Gedanken zu ergruenden suchten, kamen Erinnerungen aus jener Zeit der Kindheit und Jugend bei ihnen hoch, wo man am freisten ist, von Sorgen und Gebrechlichkeiten und den allerlei Demuetigungen der Erwachsenexistenz, und vor lauter Unerfahrenheit am deutlichsten den Kuckucksruf der Zukunft zu hoeren meint (von dem Eltern nicht wissen, wie damit umzugehen ist). Einmal hatte er lange geschlafen, es war Wochenende, keine Schule, ein Sonntagmorgen also, denn samstags hatte man noch zur Schule gemusst, 4, 5 Stunden, Englisch und Chemie, nur der Sonntag war frei gewesen, hatte im Bett noch gelesen und gegen 9 mit der Mutter gefruehstueckt. Der Vater war Fruehaufsteher, auch am Wochenende, und im Keller am Werkeln. Danach hatte er eine halbe Stunde in seinem Zimmer gehockt und Musik gehoert (Rory Gallagher, Emerson, Lake & Palmer und so, Hardrocker, die auf Sattelschleppern mit schweren Instrumenten und Elektronik und riesigen, wuchtigen Lautsprecherungetuemen durchs Land tourten, der Junge, der er gewesen war, konnte sich gar nicht recht vorstellen, wie das ist auf solchen Konzerten, die Stimmung und die Joints und die Bierflaschen, die bleichen Gesichter, er war noch bei keinem gewesen, aber die Musik, die fand er gut, die wurde aufgezeichnet und von eifrigen Moderatoren im WDR abgespielt) und dabei sich ueberlegt, dass er etwas aufschreiben wollte, was ihn bewegte und was wichtig war. Aber nicht einfach ins Tagebuch, welches er seit einiger Zeit fuehrte, wo er mit aeusserster Ernsthaftigkeit Aphorismen und Reflexionen umrisshaft festhielt oder Vorgaenge kommentierte, die ihn besonders beruehrten (ganz normale, alltaegliche Erlebnisse hielt er nicht fuer erwaehnenswert), in unfertigen, ungeordneten Paragraphen; nein, es sollte etwas Ausfuehrliches, Zusammenhaengendes werden, was Bestand hatte und von Vielen gelesen wurde, die Welt sollte ihn und seine Meinungen wahrnehmen, er hielt dies fuer den besten Weg, seine Gedanken und sogar sein Bewusstsein und den ganzen sein Cogito umgebenden Gefuehlsraum fuer alle Zeit zu fixieren, so dass sie sein eigenes und noch das Ende der westlichen Kultur ueberdauern wuerden. Ein Buch waere genau das Richtige. Und er wollte natuerlich auch bei den Zeitgenossen Anerkennung finden damit. Gut, nicht bei allen; schliesslich waren seine Ideen kontrovers, und kritisch; die Theorien der Studenten hatten ihn vom ersten Moment elektrisiert, er wollte sie fundamental reflektieren, so dass jedermann dem Text Respekt zollen und sich der bestechenden Klarheit der Argumente beugen wuerde ... So oder aehnlich gingen seine hochgespannten Erwartungen, und dazu langte kein Kugelschreiber, das musste mit Schreibmaschine geschrieben werden, dann liess es sich leichter vervielfaeltigen ... Obwohl - zum Kopieren haette er Matrizen gebraucht ... Immerhin, Schreibmaschinen standen zur Verfuegung; Mamma besass ein altes klappriges Gestell aus der Zeit vor ihrer Hochzeit, auf der sie gelernt hatte und wo jedesmal das Farbband wegrutschte, wenn man zwei Grossbuchstaben hintereinander tippte, und Vater hatte neulich aus der Firma, wo man auf Elektrische umstieg, die voller Kinderkrankheiten und Konstruktionsfehler waren und nicht halb so lange haltbar, ein dunkelgruen-glaenzendes Gebraucht-Modell mitgebracht, ebenfalls 50er-Jahre, klobig und schwer wie eine dieser modernen Skulpturen, mit denen Bildhauer den Stumpfsinn der menschlichen Existenz darstellen, aber beeindruckend in ihrer Verlaesslichkeit, welches im Wohnzimmer unter dem Radio seinen gebuehrenden Platz fand, der Junge, gerade 15, hatte Muehe, sie auf den runden Stubentisch zu hieven, doch Hilfsangebote kategorisch abgelehnt. Es stoerte ihn nicht, dass der Vater nebenbei fernsah, damals konnte er sich auch beim droehnendsten Laerm konzentrieren, internationaler Fruehschoppen mit 6 Journalisten aus 5 Laendern, und Werner Hoefer als Gastgeber, der gehoerte zum Sonntagvormittag wie Kuechengerueche und Beinehochlegen und die ruhige Musse, sich auf wirklich wichtige Dinge zu konzentrieren. Der Fernseher war auch gebraucht. Die Eltern hatten sich nicht recht an das Wirtschaftswunder gewoehnt, das so unversehens ueber sie hereingebrochen war, sie zoegerten, so etwas eben mal neu anzuschaffen. Man haette sich einen Neuen schon leisten koennen, war aber auf das Angebot eines Bekannten eingegangen, der seinen kaum benutzten Apparat verkaufen und sich einen in Farbe anschaffen wollte. Mit wichtiger Miene hatte er die Maschine auf den Tisch gewuchtet, und war doch froh, dass Pappa nur neugierig guckte und keine Fragen stellte, sogar sich die Weisung verkniff, "aufzupassen" und sie nicht "kaputtzumachen", diese bedaechtige, allzu vorsichtige Art, die er neuerdings an den Tag legte, seit er aelter wurde ... damals war er in allem (oder fast allem) viel lockerer gewesen. Und waehrend Hoefer mit sonorer Stimme um Antworten bat, und seine Miene und Gesten sich ins Gedaechtnis der Bundesrepublik einpraegten, hackte der Junge um so heftiger in die Tasten, denn-ja er wollte Antworten geben auf brennendere Fragen. An die ruhigen Sonntage musste er jetzt oefter zurueckdenken, und Wehmut legte sich wie ein Scheinriese ueber seine Erinnerung, indem sie ueber die Jahre anwuchs, jedesmal wenn er die Szene aus seinem Gedaechtnis hervorkramte, schien sie ihm kostbarer, weil unwiederbringlich. Denn die Zeit ging unerbittlich darueber hinweg, ein Strudel schien ihn immer schneller, immer weiter von der Sorglosigkeit der Kindheit fortzureissen. 'Was bleibt, sind nur die Erinnerungen', heisst es in einem alten Film, und zuerst hatte die Erinnerung an die Inhalte im Vordergrund gestanden, die er damals auf Papier bannte, seine ersten, wie er fand, politisch ernstzunehmenden Aeusserungen, noch heute in hinteren Winkeln seines Hamburger Schreibtisches stolz und innig gehuetet. Spaeter dominierte die weichgezeichnete Reminiszens ans Elternhaus, an selbstverstaendliche Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen (denn die Eltern hatten ihre Sorgen fuer sich behalten. Oder hatten sie wirklich keine gehabt - tuechtig, im besten Alter, alles im Griff?), die ihm mittlerweile fuer Kindheit das einzig Richtige zu sein schien - soviel sie zuletzt gestoert hatten, das heisst im Jahr vor dem Abi, damals wollte er raus, schnellstmoeglich weg von zu Hause, die Schwingen ausbreiten, vermeintlich freiere Luft atmen, das war in Tengern unmoeglich. Hamburg also. Dort hatte er bald genug von der Politik, von den elendlangen ergebnislosen Debatten und dem Narzissmus der Studentenfuehrer, waere gern Schriftsteller geworden, da konnte einem keiner was vorschreiben. Er hing mit den Ohren am Radio und lauschte kniffligen Hoerspielen und weitschweifigen Essays und Vortraegen ueber die Gruppe 47 und die Beatliteratur, er las 'On the Road': "I first met Dean in Denver. One day I was hanging around the campus and Tim Gray told me, he was staying in a cold-water pad downtown, where he had arrived the night before getting off the Greyhound bus from Santa Fe. I went to his place straight and introduced myself. We chatted a lot. I told him of Old Bull Lee, Elmer Hassel, Jane Tiden: Lee in texas growing weed, Hassel on Riker's Island, Jane wandering on Times Suare in benzedrine hallucinations. And Dean told me of unknown people in the West, like Tommy Snark, the clubfooted poolhall rotation shark and cardplayer and queer saint. He told me of Roy Johnson, Big Ed Dunkel, his boyhood buddies, his innumerable girls and sex-parties, his heroes and adventures. With the coming of Dean Moriarty began my life on the road. Before that I'd often dreamed of going West to see the country, always vaguely planning and never taking off. But now came spring, the great time of travelling, and eventually, in the month of May 1947, having saved about 50 Dollars from old veteran benefits, I was ready to go to the West Coast. Somewhere along the line I knew there'd be girls, visions, everything; somewhere along the line the pearls would be handed to me", und hielt sich fuer ebenso unbesiegbar wie Jack und fuehlte sich stark genug, die Welt nach eigenem Willen auf den Kopf zu stellen und niemals Abstriche bei seinen Ideen zu machen, er glaubte, alles erreichen zu koennen, was er fuer erstrebenswert hielt, wenn er es nur mit genuegend gluehender Inbrunst und Leidenschaft und Glauben ehrgeizig verfolgte. Doch irgendwann erkannte er, dass er nicht so stark war und nicht so gut schreiben konnte, und von den girls und pearls nur wenig abkriegen wuerde. Er war zwar noch nicht so weit, sich voellig der sogenannten Realitaet zu unterwerfen, aber teilweise schon (auch wenn er es sich nicht rational eingestand), und in Erwaegung seiner deutschen Tugenden entschied er sich fuer den Maschinenbau. In dieser Phase hielt er sich nicht mehr fuer unbesiegbar, aber er meinte noch immer und trotz aller Faehrnisse, gemeinsam mit anderen die Welt veraendern zu koennen, und zwar dermassen, dass die 70er Jahre als DIE Uebergangszeit auf dem Weg in ein neues Zeitalter in die Geschichte eingehen wuerden; und wenn er 'The Times they're a'changin' und die anderen Dylan-Lieder hoerte, fuehlte er sich in seiner Meinung bestaetigt, ohne zu bedenken, dass Bob Dylan und Jack Kerouac einer anderen Generation als er angehoerten und Traeume und Idealismus schon lange begraben hatten. Jede Zeit hat ihre Licht- und Schattenseiten, und vermutlich haelt jeder Jahrgang sich und seine Epoche fuer besonders, aussergewoehnlich oder gar einzigartig, ohne daran zu denken, dass der Strom des Zerfalls ihn unweigerlich hinwegreissen wird in ein anderes Zeitalter, in dem er alt ist und verbraucht und seine Ideen fuer rueckstaendig erklaert werden oder fuer vergessen, oder verbannt aus dem oeffentlichen Bewusstsein. Solange die Geschichte Gegenwart ist, und wir in ihr aufgehen, erscheint sie uns als unendliches ewiges Flechtwerk, welches uns naehrt und wohlgehen laesst und worin wir mit unseren Zeitgenossen verwoben sind. Bevor wir aber beschliessen, uns von dieser Warte weiter emporzuschwingen, um Geschichte zu machen, und anfangen herumzuhobeln und nicht nach den Kosten fragen, sollten wir innehalten und bedenken, es gibt einen unveraeusserlichen Kern des Modernen, den man nie preisgeben, woran sich keiner vergehen darf, er ist das fruchtbare Substrat, auf dem die Vorstellungen und Ideen einer jungen Generation wie ein leuchtender Blumenstrauss niemals verwelken, und so der Maxime 'Forever Young' einen tieferen Sinn verleiht. Alles, was gedacht und geglaubt wird, existiert nur, insofern es auch von Anderen, von kommenden Generationen gedacht und geglaubt wird. Ohne lebende intelligente Wesen, die ihn hervorholen und waegen und wenden, existiert kein Gedanke, da mag er in noch so grossen Lettern auf toten vergilbten Flugblaettern prangen. Die Strukturen der Materie und die Prinzipien ihres Zusammenwirkens waeren auch in einem menschenleeren Universum gueltig. Doch ohne den erkennenden Geist wuerden sie nur ziellos dahintreiben. Kerouc ist von Vielen imitiert worden, und einige dieser Autoren, die in den 70ern noch nicht Vergangenheit waren, fanden bei Richards Freunden groesseren Anklang als das Original. Bukowski, ok, der war indiskutabel, aber Ed Sanders' 'Glanz und Gloria der Beatniks', seine 'Stories der Wilden Generation' und 'DO IT!' von Jerry Rubin, 1970 erschienen, von dem besonders Dieter begeistert war. Man schlug das Buch auf einer beliebigen Seite auf und fand sofort was zum Feixen, und Unmengen surrealer Slogans ueber das Leben und die politischen Fuehrer Amerikas. Nur Martin blieb skeptisch. Wenn man mit ihm ueber Literatur redete, verwies er darauf, in Kerouacs Romanen bluehe wie frueher bei Hemingway der Geist des Machismo, eine unertraegliche Note von Angebertum, die ihm solche Schriften verleide. "... und Keroucs Epigonen sind absolut unertraeglich!", sagte er naseruempfend. "Aber viele Maenner moegen das. - 'DO IT!' beginnt mit dem Satz 'Jerry Rubin ist der Fuehrer von 850 Millionen Yuppies'. Ernst gemeint oder nicht, ich finde sowas zum Kotzen. Warum liest du nicht richtige Literatur? Flaubert, das ist einer, der sich beim Schreiben zuruecknimmt, Stendhal's 'Rot und Schwarz', oder Nabokov, Heinrich Mann oder Brecht - oder Eichendorff?" "Hoer auf", sagte Richard, "demnaechst faengst du noch mit Goetheschiller und Thomas Mann an, das ist nichts fuer uns, dafuer interessiert sich kein Arsch oder hoechstens die Literaturgeschichte. Da geh ich lieber auf den Fussballplatz, da ist die Luft frischer!" "Du weisst doch viel zu wenig von den Leuten, um sie so schnell zu verurteilen." "Hoer auf", wiederholte er. "Die Riege kennen wir aus der Schule, belangloses Zeug von arrivierten alten Knackern, allesamt auf der Seite des Establishments." ... besonders Bert Brecht, der die Lesebuecher und Kleinstadttheater beherrschte, allem DDR-Mief zum Trotz. Warum sollte ausgerechnet er anfangen, Brecht zu lesen? Martin meinte zwar noch, man duerfe nicht alle beruehmten Schriftsteller ueber einen Kamm scheren und schon gar nicht mit den verspiesserten Studienraeten gleichsetzen, von denen sie postmortem bewundert wurden, aber er liess sich nicht beirren. Jahrelang war die schoengeistige Bildungslyrik wie ein klebriger Regen im Deutschunterricht auf ihn niedergegangen, in dem er sich nicht zurechtfand, weil das Terrain von Lehrern und Lesebuchlektoren uebervoll besetzt war, die selbst keinen grossen Durchblick hatten und gern leeres Stroh droschen und sichs ansonsten nachmittags gutgehen liessen, im satten Sold des Staates. Von denen riss sich keiner im Dienst ein Bein aus, und wuerde sich niemals aus Liebe zur Kunst bei der Obrigkeit querlegen oder unbeliebt machen. Ihr ganzes Getue war total verlogen, mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Am Ende aber, das ahnte er, wuerden sie das letzte Wort behalten; und man selber fand seinen Platz nicht und wurde von Gefuehlen der Unzulaenglichkeit und Minderwertigkeit und Nutzlosigkeit und Unzeitigkeit geplagt und niedergedrueckt und wundgescheuert, weil man sich in Tengern nicht mehr richtig heimisch fuehlte, waehrend man durch die Gassen zog, die neu verklinkerte Einkaufsstrasse, den huckligen Schulweg, an der alten Schule vorbei, die sie stillegen wollten und teils schon stillgelegt hatten, weil drueben, auf der anderen Seite der Stadt, ein monstroeser Neubau hochgezogen wurde; das Postamt, 'totalsaniert', die Kastanienallee, die zu einer laermenden Durchfahrtstrasse geworden war, die neue Stadthalle samt Hallenbad und und drumherum Neubausiedlungen, die sie mitten ins Gruene gesetzt hatten, wo es frueher ueber Felder und Wiesen ins norddeutsche Tiefland ging ... Oder wenn man die Eltern des Schulfreundes besuchte, der laengst fortgezogen war, und sich nur alle paar Monate in Tengern sehen liess, alles war dunkel und stickig in ihrem Haus, wie man es frueher nie wahrgenommen hatte, die Beiden vordem ueber die Kinder Befehlsgewaltigen so trostlos in ihrer Zweisamkeit. Oder besonders in IHRER Strasse! War schon so ne Art Herzkrampf, da vorbeizugehen, obwohl sie dort gar nicht mehr wohnte, die ganze Familie war laengst nach Hannover gezogen, schon vor dem Abi, nur Cornelia hatte noch eine Zeitlang oben in der Dachkammer gehaust, wo er sie zum letzten Mal sah. War schon so ne Art Herzkrampf; und trotzdem ging er gern dort vorbei. Sie hatte immer so getan, als ob sie wahnsinnig an ihm interessiert sei, 'wahnsinnig' war ueberhaupt ihre Lieblingsvokabel gewesen, und er hatte ihr das allzugern abgenommen. Aber wenn er ihr sonstiges Verhalten jetzt im Nachhinein objektiv analysierte, schien ihm, dass sie an Anderen mindestens ebenso interessiert gewesen war, dass sie an ihrer gesamten Umwelt ein gleichmaessig reges Interesse hatte und ein bisschen herumprobieren wollte, was ja an sich nicht schlecht ist, aber in diesem Fall passte es nicht ... ging einfach nicht mit seiner Unerfahrenheit zusammen. - Und komischerweise fiel ihm da ploetzlich die Wandluke zuhause ein, aus einer viel aelteren Zeitschicht, als er noch klein war, hinter der heute nichts sich befand als nacktes Mauerwerk, und jenseits davon das repraesentative Wohnzimmer, aber frueher, vor dem Umbau, war dort ein provisorisches Kinderzimmer gewesen, und er erinnerte sich, wie er immer durch die Klappe gekrochen war und es sich in dem kleinen Reich hatte wohlgehen lassen, er meinte sich an jede Kleinigkeit dieses Raumes zu erinnern, der so seltsam zwischen den Stockwerken schwebte, und ein Gefuehl ueberkam ihn, wie von Reue fuer eine Tat, die er gar nicht begangen hatte, und auch in dem Sinne gar keine Tat war, in ueberhaupt keinem Sinn. Doch nichts, kein Geld, nicht Wohlstand noch Revolution wuerde ihm dieses Zimmer und diese Vergangenheit zurueckbringen, die Luke war ihm auf immer verschlossen. ------- "Ach Brecht", dachte Martin, indem er den imaginaeren Dialog der Erinnerung fortspann. Brecht hatte sich nicht verraten muessen, auf die Misstoene brauchte keiner zu hoeren. Martin kannte Brecht, ja er kannte ihn, von der Schule und von zu Hause, er wusste, Brecht hatte nichts gegen gepflegte Tischgespraeche, und dafuer hatte er ihn frueher gehasst. Er blickte von seinem Teller hoch, verzeifelt, hassend, es war 1972, aber bei seiner Mutter sah es aus wie 1958, geschiedene Frauen hatten fuer die aktuellen Moebel kein Geld. - Doch es war ordentlich in der doerflichen Stube, weit weg vom Bahnhof Zoo, sogar von Tengern ein ganzes Stueck weit weg, bis zur Innenstadt war es mehr als eine Stunde zu Fuss, die einer erst mal schaffen musste, und Tengern war gewiss keine Metropole; nein, kein Fernseher in der Stube, der sich sowieso nicht mit Mutters Bildungsanspruch vertrug, dafuer stand ein Klavier an der Wand, auf dem er als Kleinkind immer herumgeklettert war, und mit dem sie ihn spaeter bis zum Exzess getriezt hatte, bis ihm die Klassik zu den Ohren herauskam. Er mochte die Suppe nicht. "Irgendwo endet die Bereitschaft zur Auseinandersetzung", sagten die Lehrer. - Im Grunde wusste er nicht, wohin er gehoerte. Die Bauernsoehne wuerden sich auf ihren Landsitzen etablieren, Martin aber, der dort jeden Dienstag und Freitag die Milch holte, blieb nur der truebe Blick aus dem Fenster, niemand wusste damals, was in ihm vorging, er selbst am wenigsten. Er haette die Anerkennung vorgezogen, die der Michael unter seinen Mitschuelern genoss, Sohn des Tengerner Herzspezialisten, oder der Andi, der Sohn vom Direx. Es war tatsaechlich so, Macht wurde bewundert und ging auf die ganze Sippe ueber ... ausser einer kam aus einer Scheidungsfamilie, oder schlug aus der Art, aber das taten die nicht, die doch nicht, die funktionierten und benahmen sich richtig. Und falls sie doch Probleme hatten, kriegten Aussenstehende nichts davon mit. Er fing gerade mit Dope an. (Auf den Doerfern ist man mit siebzehn noch nicht so weit.) Er lebte mit seiner Mutter in einem alten Dienstmeierhaus, unweit der Kirche, im Zentrum dieses durch und durch oeden Kaffes. Reiner Gluecksfall, dass kuerzlich eine WG aus Berlin in den Kotten gegenueber eingezogen war, mit Leuten, die das Landleben ausprobieren wollten und Martin hereingewunken hatten, als er mehrmals interessiert neugierig schielend bei ihnen vorbeischlich. Er hatte lange Haare wie sie, Stein des Anstosses seiner Mutter, und verbrachte viele schwuele Sommernachmittage an ihrer Feuerstelle, an denen nichts passierte ausser Donnergrollen ueber den suedlichen Huegeln, und dass er beim ersten, nein zweiten Besuch die Pfeife mitrauchte, und da fuehlte er sich gar nicht mehr einsam, er gehoerte dazu. Solche Leute sollten nicht Vorbild fuer ihren Sohn sein, fand seine Mutter, und bearbeitete ihn entsprechend, ohne Erfolg natuerlich, sowas machte ihn erst recht renitent. Wer hoert schon in der Pubertaet auf die Alten? Was hatte die Mutter denn an Erfahrungen aufzubieten? Nur Negatives. Erst vom Mann nach Strich und Faden betrogen, und anschliessend hin und her geschubst, bis eine Tante sich scheinbar erbarmte, von der sie sich dann jahrelang tyrannisieren liess, bis endlich, endlich eine Gelegenheit kam, das Weite zu suchen. Auch Martin war von der Tante gegaengelt worden, auch das, fand er, war seiner Mutter vorzuwerfen. Er sass bekifft im Physiksaal, in der letzten Reihe, die Beine uebereinander geschlagen, und fixierte den Lehrer. Ein langmuetiger Typ, der Leute wie ihn selten aufrief, wirklich human, der Buesching, legte sich mit den Schuelern nicht an. - So sass er untaetig in der letzten Reihe; und in der Freistunde schlenderte er allein durch die Tengerner Hauptstrasse, kam sich nach was vor, mit dem kleinen Stueck Shit in der Tasche, das fuer abends bestimmt war und ihm momentan ein geiles illegales Feeling gab, er war garantiert der einzige hier mit Stoff in der Tasche. Nichts als Hausfrauen ringsherum, und die Halluzinogene und Euphorika der Konsumstrategen waberten aus den Boutiquen auf den Gehsteig, und darueber lagen die Abgase aus hundert unruhigen Ottomotoren, was waren die stickigen Klassenraeume gegen diesen Odel?, und was war dieser Odel gegen den suesslich halbdunklen Geruch schmauchenden Grasses. Auch heute noch und in Zukunft und immer, wenn er jene olfaktorische Mischung wahrnahm, fuehlte er sich in die Zeit der Jugend zurueckversetzt, die ihm zeitlebens so vollkommen gegenwaertig und gelaeufig blieb, als sei sie eben erst im Gange, auch wenn andere, juengere Zeitgenossen sie fuer ein laengst versunkenes Zeitalter hielten. Denn was bleibt sind mehr als Erinnerungen, die Vergangenheit ist Gegenwart, fuer den, der sie jugendhaft erlebt hat, und wird fuer immer Gegenwart bleiben. Wir aber wollen in die tatsaechliche Gegenwart zurueckkehren und wenden uns Richard zu, der kurzerhand beschloss, den Freund beim Wort zu nehmen, und sich auf ihrer geheimen, gemeinsamen Welt in Bewegung zu setzen, in Richtung auf einen Landstrich, wo einen der Sexualtrieb nicht irritiert oder gar aus dem Gleichgewicht bringt, weil er dort nur ein Schatten, allenfalls eine theoretische Vorstellung ist. "Ich glaube, dass der Existentialismus die Natur der Unfreiheit nicht richtig versteht", setzte er seine vorigen Erlaeuterungen fort. "Nimm zum Beispiel die Selbstzensur. Solche Phaenomene funktionieren nach viel zu komplizierten psychologischen Regeln, als dass man sie mit einem einfachen 'der Mensch ist zuerst frei' begradigen koennte." "Um den Existentialismus vollinhaltlich zu begreifen, musst du die Philosophiegeschichte kennen", belehrte ihn Martin. "Die urspruengliche Intention Heideggers war, wie kann man die Existenz des Ich, des Cogito in der von Husserl entworfenen Phaenomenologie verstehen. Ich will die Leute gar nicht verteidigen, denn ich habe meine eigenen Vorstellungen zu dem Thema, aber es war eben so, man musste in der Nachfolge der Phaenomenologie versuchen, Sein und Materie miteinander in Einklang zu bringen. Das erste ist, du musst zusehen, materielles und Bewusst-Sein auf eine Reihe zu kriegen. Die Materie existiert gewiss, und auch das menschliche Bewusstsein von ihr existiert, wenn auch auf einer anderen Ebene. Und gekoppelt sind beide durch die Sinneswahrnehmungen. Die Sinne ragen in die materielle Welt, indem sie physikalisch mit ihr wechselwirken, aber sie bilden auch die Grundlage fuer das Bewusstsein in seiner einfachsten Form. Und dieses Zusammenwirken hat eben Husserl zu beschreiben versucht." "Ich glaube nicht, dass die Wahrnehmung zur Festlegung dessen, was Bewusstsein ist, ausreicht ... und auch nicht zur Festlegung dessen, was Materie ist. Es gibt doch so viel, was unserer Wahrnehmung entzogen ist, die Substanz zum Beispiel und die Totalitaet der Dinge, oder auch einfach, wenn jemand uns anluegt ..." "Du weisst, wie ich zum Substanzgedanken stehe, er gehoert in den Bereich des Jenseitigen, worueber man ganz wenig sagen kann. Aber egal, das ist hier nicht die Frage. Ich wollte nur deutlich machen: das Bewusst-Sein ist das Sein, um das es der Ontologie hauptsaechlich geht, weil sie sich mit dem Kantischen 'Ich denke also bin ich' nicht zufrieden gibt. Ich glaube, man muss auch den Aspekt der Evolution hereinehmen, um zu verstehen, wie die reflektive und selbstreflektive und sich selbst reproduzierende Struktur 'Mensch' entstanden und geworden ist. 'Reflektiv' heisst, in der Lage zu denken und verstehen und sich der Existenz der Welt und seiner selbst bewusst sein. Auf dieser Basis entstehen dann auch Gesellschaften und unsere ganze soziale Welt, denn sich der Welt bewusst sein, das heisst insbesondere sich des Anderen bewusst sein. Ich wuerde sogar so weit gehen, dass dies ein essentieller Bestandteil des Bewusstseins ist, dass wir nur auf dem Hintergrund der Gesellschaft als Bewusstseinswesen existieren koennen." "Was du sagst, ist vielleicht richtig, oder auch nicht. Ich fuerchte nur, ich sehe das alles in einem ganz anderen Licht, viel pessimistischer. Es ist doch so, die Leute muessen irgendwie miteinander auskommen, und wichtige Faktoren des Miteinander-Auskommens sind Heuchelei und Luege, in ihrer Wirksamkeit befoerdert durch die Beschraenktheit des Verstandes, die uns ueber die wahre Natur des Lebens und unserer Existenz und auch der Gesellschaft hinwegtaeuschen. Luege und Selbstbetrug sind geradezu die Basis fuer unsere Faehigkeit, uns bedachtsam oder bis zur Raserei in Etwas hineinsteigern zu koennen, und dabei von den Anderen Ernst genommen zu werden, und auf diesem schwankenden Boden sogar (mafiotische) Gemeinschaften zu bilden und gegenseitig die Haende die Unschuld zu waschen. Die Philosophen, also Heidegger und Co, sind in dieser Hinsicht noch extremer als andere Menschen. Sie glaenzen als gute Rhetoriker, behaupten dieses und jenes, und weil sie eine gute Figur dabei machen, nimmt man ihnen auch manche logische Luecke ab. Menschen sind eindrucksfaehig. Unser Verstand wird durch Gluecksfaelle oder Enttaeuschungen wie von Nebel getruebt, dessen Wirkung wir uns durchaus nicht widersetzen, sondern bereitwillig annehmen, und die fatalen Urteile, die wir auf dieser Basis faellen, umso vehementer verteidigen. Denn wir sind keine Mathematiker und unsere Urteile keine Theoreme, sondern vegetative Nervensysteme, an denen das Gehirn wie ein Wurmfortsatz befestigt ist, einzig zu dem Zweck, uns mit wertlosen Argumenten unsere Illusionen zu erhalten. Wir wissen, dass sich das Leben ebenso in die unmenschlichen Weiten des Raumes wie in die Engen der Atomwelt verliert, aber dazwischen behandeln wir eine Schicht von Gebilden und Vorstellungen als die Dinge der Welt, ohne uns im geringsten von der Subjektivitaet dieser Eindruecke anfechten zu lassen. Diese Verblendung erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein aeusserst kuenstlicher Bewusstseinszustand, der dem Menschen erlaubt, ueber dem Abgrund und im Bewusstsein der ungeheuerlichsten Greuel die Hand ans Zaumzeug zu legen und mit einem 'Hoppla jetzt komm ich' sein Scheffelchen einzufahren." "Das mag schon so sein, aber ich weiss nicht, warum du dich darueber aufregst und auf was du ueberhaupt hinauswillst." "Ich bin mir schlicht nicht sicher, ob es sich lohnt, ueber die Natur des Menschen zu philosophieren, wenn sie so viele unwahre Aspekte enthaelt. Manchmal packt mich einfach der grosse Ekel, ich meine Ekel am Lauf der Dinge, wie die Welt organisiert ist, wie sie funktioniert und so weiter. Es geht doch bei dem ganzen Spiel des Lebens letztlich nur darum (auch wenn diese Wahrheit oft verschwiegen und der Aufstieg in die hoeheren Kreise kulturell verklaert wird), wer durch Anhaeufen von moeglichst viel Kohle am meisten fressen, saufen und ficken darf - und vielleicht noch um Herrschaft ..." "Ok, auf Geld und Herrschaft wollte ich spaeter noch kommen, im Moment war ich noch nicht soweit ..., ich wollte dir vom Standpunkt der Philosophie die Grundzuege des gesellschaftlichen Seins entwickeln, aber wenn dich das nervt ..." "Nein, nein, es nervt mich nicht, ich habe ja damit angefangen, red ruhig weiter." "Also, das Cogito kann sich ueber den Austausch von Sprache, Blicke, Gesten mit anderen Individuen verstaendigen, wobei dieser Austausch eine materielle Form hat, also die Schallwellen, Lichtquanten und so weiter, und einen immateriellen Inhalt, Informationen logischer oder emotionaler Art, welche fuer das Bewusstsein der Individuen einen Sinn oder Bedeutung haben, der ueber die materielle Ebene hinausweist, ein schoenes Beispiel ist in der Tat das Geld, und wenn ich sage, 'ueber die materielle Ebene hinaus', meine ich genau die Bewusstseinsebene, auf der alle Gedanken und Vorstellungen existieren. Man muss also versuchen, das Bewusstsein etwas genauer zu verstehen, und was darin vorgeht. Bei einer Reflektion stehen ein Ding oder eine Sache dem Bewusstsein gegenueber, das Bewusstsein 'beschaeftigt' sich mit dem Ding, meist ohne es materiell zu beruehren, die Beruehrung und das Arbeiten damit sind oft erst Folge der Reflektion, wenn sich im taeglichen Leben auch keine scharfe Grenze zwischen diesen Vorgaengen ziehen laesst. Jedenfalls, das Gehirn bildet Gedanken, das heisst auf der materiellen Ebene Eiweisse, als Teile seiner Struktur, welche a priori mit dem betrachteten Ding gar nichts zu tun haben, und genau darin liegt der materielle Kern des Abstraktionsprozesses, der zugleich als eine Bewegung zum Nichts aufgefasst werden kann, jedoch nicht zum reinen Nichts der Materie, sondern zum dialektischen Nichts, und diese Bewegung ist identisch mit der Verwendung von Verstandesbegriffen." Vor Erregung fuchtelte er mit beiden Armen in der Luft und stiess dabei seine Teetasse um. Bevor sich die Wasserlache ueber den Tisch ausbreiten konnte, warf Richard ein Handtuch darueber. Martin aber liess sich nicht beirren. "Als Folge davon ist es moeglich, einen Gegenstand fast voellig von seinen Eigenschaften zu entkleiden und auf wenige Momente zu reduzieren, und damit Gegenstaende und Begriffe verschiedenster Provenienz zu hoeheren begrifflichen Einheiten zusammenzufassen. Aber der groesste Teil dessen, was den Gegenstand als Gesamt ausmacht, wird auf diese Weise eben negiert. Und es sind nicht nur die klaren Aussagen der Wissenschaft ..., sondern ein Teil unserer un- und vor-begrifflichen Vorstellungen und Gefuehle entsteht in gleicher Weise ueber jenen Abstraktionsprozess, und kann analog wie Verstandesbegriffe analysiert werden, ein anderer gehoert zu unseren Vorkehrungen, den Tod zu vermeiden. Aber das ist ein anderes Thema, und ein noch weiteres Feld, denn es gibt ueber die Nichtsung durch Reflektion hinaus noch andere Nichtsungen, zum Beispiel das Nirwana der Meditation, welche das Sein oder das Nichts nichtst, indem das Sein ausserhalb seiner es definierenden Reflektion tritt, fuer mich ist das die hoechste Stufe der Abstraktion, die Menschen erreichen koennen, und der Zen-Buddhismus kommt diesem Ideal tatsaechlich sehr nahe." Richard lehnte sich zurueck und begann, auf dem Stuhl zu kippeln. Er hoffte, dass ihm der Freund seinen bekannten Monolog ueber den Zen ersparte. "Aber ich will dir meinen Monolog ueber den Zen ersparen", fuhr Martin fort, den Ausdruck in Richards Augen falsch deutend. "Was ich meine, sollte ich vielleicht noch einmal etwas anders darstellen: ueber dem puren Sein der anorganischen Materie erheben sich die organische und darueber die selbstreflektierende organische Materie. Alle drei sind den Gesetzen des anorganischen Kosmos unterworfen, wie sie sich beim Urknall ergeben haben. Alle nutzen auch jede Gelegenheit zur Selbstorganisation, oder, was aequivalent ist, die Existenz von stabilen oder quasistabilen Gleichgewichtszustaenden, die jene Gesetze, oder aeussere Umstaende, bereitstellen. Aeussere Umstaende sind solche, wo die Materie gewissermassen ausser sich selbst tritt zu einer stabilen Umgebung, und auf sich selbst konzentriert, zu einem selbstorganisierten Quasi-Gleichgewichtszustand. Das beste Beispiel fuer Selbstorganisation im anorganischen Bereich ist das Periodensystem der Elemente." Ploetzlich war Laura wieder in der Tuer und hielt Richard das Telefon hin. "Schon wieder fuer ihn", sagte sie zu Martin. "Ja hallo, hier Richard." "Ja, hallo Richard, hier ist die Doreen von der OAA, weisst du, wir haben uns doch gestern abend unterhalten, und ich habe es mir ueberlegt, ich moechte deine Einladung annehmen." Er war wirklich bass erstaunt, dass sie hinter ihm her telefonierte und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie von ihm wollte. "Das freut mich natuerlich; aber wie komme ich zu der unerwarteten Ehre?" fragte er direkt. "Gestern wolltest du mich auf keinen Fall treffen, und jetzt auf einmal ..." Zu befangen in Martins logischen Schleifen, um gross ueber seine Worte nachzudenken, blieb er ganz cool und ueberlegen, er waere viel aufgeregter gewesen, wenn er sich jetzt schon wieder etwas ausgerechnet haette. "Naja, ich habe es mir eben anders ueberlegt", sagte sie munter. "Ich finde dich eigentlich sehr nett." "Schoen", sagte er. "Leider fahre ich heute fuer 10 Tage nach Muenchen. Wir koennen uns also fruehestens Ende naechster Woche verabreden." Und um auszutesten, wie weit ihre neue Unabhaengigkeit ging, fasste er nach: "Noch schoener waere es freilich, wenn du mitkommen wuerdest, ganz spontan. Ich besuche alte Freunde, wir wuerden bestimmt ganz viel Spass haben." Martin nippte an seinem Tee und zog die Stirn kraus. "Aeh nein, das geht leider nicht", holte sie ihn auf den Teppich zurueck. "Das passt nicht zusammen, ich muss naechste Woche geschaeftlich nach Wien. Wenn du aus Muenchen zurueckkommst, werde ich schon fort sein. - Ja, was machen wir da? - Das Beste wird sein, ich rufe dich an, sobald ich wieder in Hamburg bin." "Ok, kannst du machen, ich freue mich", sagte er, und dann war sie aus der Leitung, und er fragte sich, ob sie wirklich anrufen wuerde oder ob er wegen des Muenchen-Trips eine Gelegenheit verpasst hatte. "Na was ist", unterbrach Martin seine Betrachtungen, aber es bezog sich eher auf die Fortsetzung ihrer Diskussion als auf den Inhalt des Telefonats. "Was soll sein? Red ruhig weiter", sagte Richard. "Also, ich war bei der Selbstorganisation stehengeblieben. Woimmer Selbstorganisation auftritt, verdraengt sie unwillkuerlich andere Erscheinungen, welche daraufhin nur ein wahres Schattendasein an den Randbezirken der Realitaet fuehren (obwohl sie fuer das Fortbestehen der Realitaet moeglicherweise essentiell sind). Unter gewissen, nur schwer festzulegenden, im allgemeinen aber sehr komplexen Umstaenden, geht die Selbstorganisation soweit, dass sie ein Bewusstsein ueber diese Umstaende entwickelt, und es ist klar, dass dies Bewusstsein ihr hilft, sich weiter fortzuentwickeln und zu stabilisieren, denn eine Verrichtung oder Taetigkeit, je bewusster sie vorgenommen wird, kann desto besser gesteuert, und groessere Vorteile koennen aus ihr gezogen werden. - Wenig haelt jene Bewusstseine davon ab, auch ueber ihr eigenes Sein und das Sein an sich nachzudenken, also Selbstbewusstseine jenseits von Taetigkeiten und Verrichtungen zu werden. Ihre Entfaltung wird aber von einer entgegengesetzten Stroemung begleitet (und teilweise konterkariert), die letztlich zum Nichts fuehrt. Indem naemlich das Bewusstsein gezwungen ist, sein Denken durch Abtraktionen zu steuern, vernichtet es fuer sich einen Teil des Daseins. Wenn ich von dem 'Tisch in meiner Kueche' rede, impliziere ich, obgleich ich mich auf einen bestimmten Tisch beziehe, die Abstraktionen eines Tisches, einer Person und einer Kueche. So bewegt sich abstraktes Denken zum Nichts, und das ist, was ich oben gemeint habe. Die Non-universalitaet der abstrakten Prinzipien ist die Grenze dieser Bewegung. Je nachdem, welches der moeglichen Prinzipien man hypostasiert, ist der Weg zum Nichts ein anderer, und zuweilen ist er ganz versperrt. Auch das oberste Prinzip ist mehrdeutig, durchdrungen von seinen Alternativen, und daher ein aufgeklaertes Nichts." Bei den letzten Worten liess er seine Arme kreisen und anschliessend auf den Kuechentisch sinken. Ploetzlich verzog er das Gesicht. "Was ist das fuer ein Geschmiere", rief er ploetzlich. "Ach, der Scheisshonig", und rieb an seinem Hemdsaermel. Dann fuhr er fort: "Diese Nichtsung des Geistes ist von der Nichtsung der Materie zu unterscheiden, die eine Folge des zeitlichen Ablaufs, also der Entropiezunahme ist. Indem wir uns in der Zeit entwickeln und erziehen - die Zeit definiert ja die Abfolge unserer Reflektionen - bleiben wir auch vom Vergehen nicht verschont. Unser Tod und das Nichts ueberhaupt ist erst einmal etwas, was dem Sein entgegensteht, aber erstens, fuer hoeherentwickelte Lebensformen ist der Tod der Individuen die einzige Moeglichkeit, als Art zu ueberleben, und zweitens, ich koennte dir beweisen, dass er auf subtile Weise unser Leben stabilisiert, vielleicht komme ich noch darauf. Auf jeden Fall koennen wir als Menschen unsere Endlichkeit erkennen und darueber reflektieren und Vorkehrungen treffen, wie sie hinausgezoegert werden kann." "Auch Materie vergeht, oder nimmt zumindest unterschiedliche Formen an. Ich frage mich, ob unser Tod, so beklagenswert er uns erscheint, sich davon wirklich fundamental unterscheidet." "Das ist eben der Unterschied zwischen an-sich und fuer-uns. Physikalisch macht es keinen Unterschied geben, auch wenn es sich immerhin um den Untergang eines ziemlich komplizierten Systems handelt, aber fuer das Individuum und seine soziale Umgebung bedeutet es sehr viel, durch den Tod Einzelner konnte in der Urzeit die Existenz eines ganzen Stammes in Frage gestellt sein." "Was ich uebrigens auch noch unglaublich interessant finde", sagte Martin, "wie die Physiker mit dem Nichts umgehen, dem sie umstandslos Attribute zuordnen. In der Physik sind die aufgeklaerten Nichtse die Grundzustaende eines Systems. Ein physikalisches System kann quasi mit der Gesamtheit seiner Zustaende identifiziert werden, daneben gibt es nichts, was man ueber das System wissen muesste, und der Grundzustand ist der energetisch niedrigste Zustand, in dem alles ruht, und daher am ehesten so etwas wie ein qualifiziertes Nichts. - In der Physik gibt es das reine Nichts also gar nicht, das heisst den ganz und total leeren Raum, er ist fuer die Physiker uninteressant, und man hat fuer jedes Feld, ob masselos oder materiell, selbst wenn man alle Quellen abschaltet und das Feld klassisch also zu Null macht, nach der Quantenmechanik immer noch eine Nullpunktschwingung, die sozusagen durch den Raum wabert." - Er hatte sich in der Literatur umgetan und in Philosophie und Physik viele Stichworte zu dem Thema gefunden. "Fuers Mittelalter wars sicher eine ueberraschende Erkenntnis, als Pascal seinen Versuch mit den Halbkugeln machte, dass man einen Raum frei von Luft machen kann und dann ein Vakuum hatte, worin sich gar nichts mehr befindet, allein schon deshalb ueberraschend, weil sie die Luft nicht richtig einschaetzen konnten, weil sie sie als halb immateriell einstuften. Wir heutigen finden das ganz normal, so normal, dass wir es in einer Diskussion ueber das Nichts kaum fuer erwaehnenswert halten. Es ist ueberhaupt interessant, wie schnell sich der Geist an neue Erkenntnisse gewoehnt, ich meine Erdrotation, Nullpunktschwingungen, Relativitaetstheorie, fuer uns sind das ganz alltaegliche Begriffe." "Die Sache mit dem Nichts als Grundzustand kommt mir zu pragmatisch vor", sagte Richard, "wenn du die Felder hineindefinierst, sind sie natuerlich in deinem Raum drin, aber es ist ein gedachter Raum, und du kannst dir ebenso gut einen leeren Raum denken, wo gar keine Felder definiert sind, und auch also keine Nullpunktschwingungen vorkommen ... Der waere immer nicht nicht das reine Nichts, er waere ja immer noch Raum. Mir scheint es eine reine Geschmacksfrage, ob man die Qualitaeten der Materie auch fuer jene 'Vakua' uebernimmt, die entstehen, wenn man sich die Materie wegdenkt, und die aber mit dem reinen Nichts gar nichts zu tun haben. Ich denke, um das Nichts zu verstehen, muss man nicht unbedingt Physiker sein." "Ok, wenn du in die andere Richtung gehen willst: Das endgueltige Nichts, wenigstens fuer das Individuum und seinen Kosmos, ist der Tod. Felder, Raum, deine gesellschaftliche Stellung, alles verlischt, ... und alles, was du tust, dient dazu, dich von dieser Wahrheit abzulenken, eine Verrichtung erscheint dir um so interessanter, je mehr sie dich vom Bewusstsein deines bevorstehenden Todes ablenkt." "Ich meine es noch anders. Was ist das fuer ein Nichts, das unsere Abstraktionen oder unseren Tod enthaelt? Das Nichts, das absolute Nichts stelle ich mir ganz anders vor, naemlich als das einfache Gegenteil der Fuelle. Alles nur irgendwie ausgedehnte waere dann kein reines Nichts, reines Nichts nur im kleinsten inhaltsleeren Punkt enthalten, und daher nicht zu denken oder spezifizieren ... genau wie es dem wahren Nichts gebuehrt." "Du willst so eine Art Unsterblichkeit, hast du anfangs gesagt, jedenfalls habe ich dich so verstanden", meinte Martin, womit er nicht nur Richards Gedanken aufnahm, "und manchmal werden die kulturellen Leistungen des Menschen auch so interpretiert, dass er mit ihnen eben dieses Ziel verfolgt. Ich weiss nur nicht, ob das so ein erstrebenswertes Ziel ist, ob selbst Einstein, der ja nun wirklich in den Koepfen vieler Leute herumspukt, auch wenn sie von seinen Theorien nicht viel verstehen ... ich meine, tot ist er auf jeden Fall. Natuerlich gibt es auch die andere Variante, direkte Versuche, das Bewusstsein zu konservieren, indem man es als kuenstliche Intelligenz in eine Rechenmaschine kopiert und an eine extrem langlebige Hardware koppelt. Alles schoen und gut, aber unendlich wird man damit nicht, unendlich ist nur der christliche Gott, nur ER verheisst uns wahre Ewigkeit. Aber hier auf der Erde, pah!, abgesehen davon, dass ich mir nicht sicher bin, ob es der menschliche Geist ueberhaupt wert ist, materiell konserviert zu werden, liegt fuer mich die Loesung eher darin, auf dialektische Weise mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Wir sind Geworfene, ok, und am Ende auch dem Nichts ausgeliefert, aber wenn wir ueber unser eigenes Ende selber bestimmen koennten; also gewissermassen das Nichts, in dem wir ohne alle Bedeutung sind, gegen sich selbst wenden, das waere eine Moeglichkeit." Richard waren solche Gedanken ein bisschen unheimlich. Er wollte auch nicht, dass sich Martins Geist in diese Richtung bewegte. Fuer ihn war Selbstmord eine rein theoretische Groesse, und er konnte nicht glauben, dass der Freund im entferntesten daran dachte, da es ihm selbst so absolut fern lag. Andererseits war Martin der Typ, der alles gern ausprobierte ... Er wusste nicht genau, wie sie auf das Thema gekommen waren, solche Sujets bewegten sich monatelang durch ihren Geist, und wurden immer weiter diskutiert und von allen Seiten beleuchtet. Das Nichts war schon ein seltsames Thema, abgesehen davon, dass es bei Sartre und Heidegger auftrat, aber mehr als Gegensatz zum Sein, so dass Existentialismus und Tod in Richards Augen nicht unbedingt ganz eng zusammengehoerten, aber Martin beschaeftigte sich in letzter Zeit intensiv mit seinem Ende, und daher bekam auch Richard damit zu tun. Vielleicht hatte es mit der Frauenmisere zu tun, bei Richard war das allerdings nur ein schwelender Zustand, er hatte sich dem Missstand gebeugt und zwischendurch immer eine gehabt, momentan Dagmar, und obwohl sie eigentlich nicht zusammen passten, lief es ganz gut und eine Misere war es jedenfalls nicht. Martin aber, der lange mit Ellen zusammengewohnt hatte, fiel das Alleinsein schwer. Er behauptete zwar, das neue Leben mache ihm keinerlei Schwierigkeiten, zuvoerderst habe er jetzt mehr Bewegungsfreiheit, in jeder Hinsicht, aber Richard hatte den starken Verdacht, dass Themen wie das Nichts und der Tod auf dem Naehrboden einer Trennung am besten gediehen ... Vielleicht hings auch mit der immerdrohenden Arbeitslosigkeit zusammen, besonders bei den Philosophen, meist versuchte man das Thema zu verdraengen, aber manchmal kam es einfach so hoch, gerade in schwachen Momenten, wo man die Welt ohnehin als schiere Last empfand und meinte, sie nicht ertragen zu koennen. Es war nicht so, dass einen deswegen staendig Depressionen plagten, so schlimm war es nicht, dazu war man zu jung; aber im Unterbewusstsein hatten sich solch elementare Befuerchtungen durchaus festgesetzt, besonders durch das Tamtam, das die Aussenwelt deswegen machte und das sich ueber die ganze Studienzeit hinzog, und Leute wie Martin sublimierten es eben in solche Themen, denn die Aussichtslosigkeit, die Perspektivlosigkeit waren mit Sicherheit dem Nichts verwandte Kategorien. "Aber was ist die Alternative?" fragte er auf diese Vermutungen, die er als psychologistisch abtat, da er sich mehr fuer tiefergehende ontische Schichten interessiere, in denen sich eines Tages jeder wiederfinde, der sich dem Nichtsproblem stelle, egal ob arbeitslos oder von seiner Freundin verlassen oder nicht. "Die Alternative waere, dass ich mir irgendeine entfremdete Arbeit suche, was ich nebenbei bemerkt, nach dem Studium immer noch tun kann, um einfach nur Geld zu verdienen, doch dabei liefere ich mich dem Nichts gleich in doppelter Weise aus. Zum einen vernichte ich meine Existenz, meine Zeit, zum anderen loese ich sie in Geld auf. Geld aber ist das erste aller Nichtse und das Gegenteil der Fuelle, auch jener Fuelle, die der Mensch sich erst schafft, zum Beispiel wir beide, wenn wir unsere Weltbilder entwerfen, Geld ist eine Einzigkeit, eine Absolutheit, zu der es keine Ergaenzung, Opposition oder Zusatz gibt, und damit macht es das Tor zum totalen Nichts ganz weit auf, aehnlich wie der Sex uebrigens, der auch so was Absolutes hat, woneben nichts anderes bestehen kann." Damit behielt er wiedermal das letzte Wort, denn das war so offenkundig richtig, ohne doch von praktischer Bedeutung zu sein, denn erstens waren die Menschen in jenen Sozialsystemen, in denen das Geld eine geringere Rolle spielte, auch nicht gluecklicher, und zweitens war es ueberhaupt zweifelhaft, ob die Utopie einer geldlosen Welt nicht mit dem biologischen Schweinehund 'Mensch' kollidierte. "Wann wollen wir eigentlich den Aushang fuer unsere Philosophengruppe machen", lenkte Richard ab. "Hast du schon ueberlegt, wie er aussehen soll und wo wir ihn hinhaengen?" "Da gibt es nicht viel zu ueberlegen. Wir schreiben einfach 'Philosophenstammtisch trifft sich Freitags 20 Uhr, oder so, Stresemannstr. 136, 3.Stock', dann kann kommen, wer will. Und hinhaengen koennen wir ihn in die Mensa und an schwarze Bretter in verschiedenen Fachbereichen, je mehr Leute es lesen, um so besser, dass auch Spinner vorbeikommen koennten, muessen wir in Kauf nehmen. - Ich wollte jedenfalls noch sagen, zwischen dem Sein und dem reinen Nichts gibt es noch ein Drittes, was mit dem Substanzbegriff der Antike verwandt ist. Ich nenne es 'das letzte Ding'. Es ist das Gegenteil des absoluten, reinen Nichts, es ist das Eine, doch nicht das Ding an sich. Es ist unfassbar, und unklar, ob es ueberhaupt existiert, und die Welt laesst sich aus ihm garantiert nicht ableiten. Der Versuch, sie aus solchen einfachsten, rein gedanklichen Strukturen ohne Rekursion auf physikalische Erfahrungen zu konstruieren, ist gescheitert, das offenbaren viele klaegliche Konstruktionen der Philosophie - aber uebrigens auch manche in den Naturwissenschaften; denn wo neue Experimente immer teurer werden und nur ein Minimum an neuer Erkenntnis bringen, blueht ein Wildwuchs billiger Spekulationen, fuer die es keine experimentellen Hinweise gibt. Trotz vieler Symmetrien in manchen Naturgesetzen deutet alle Alltagserfahrung auf komplizierte Prinzipien. Das letzte Ding aber hat keine Form und keinen Inhalt, mit ihm kann nicht gearbeitet werden, auch nicht in Gedanken. Es ist ein reines Einziges, niemand kann es retten, nur zum absoluten Nichts hat es eine Beziehung; auch das absolute Nichts hat ja keine Form und keinen Inhalt. Das letzte Ding ist Substrat, ohne Substanz zu sein, sein Aggregatzustand ist von der fluechtigen Art, strukturlos. Vielleicht ist es der Zustand des Universums 'vor' dem Urknall, aber wahrscheinlich nicht, denn wenigstens Keime des Seins sollten schon vor dem Big Bang angelegt gewesen sein. Niemals liesse sich etwas aus ihm berechnen, kein Echo kommt von ihm zu uns heraus. Es gibt kein Experiment, keine Handreichung, auf die es reagieren wuerde. Vielleicht ist es die letze Basis unserer Gedanken, wenn uns alles zu ueberrollen droht, aber nicht in dem Sinne, dass etwas auf ihm ruhen koennte, sondern als pure Transzendenz, zu welcher es keinen Zugang gibt. So, das wollte ich noch los werden, bevor wir fahren", schloss er. "Du hast gesagt, du willst noch zur Klopstockterasse?" "Ja, ich muss meinen Rucksack holen. Ausserdem will ich fuer die Fahrt was zum Essen kaufen, wenigstens Broetchen und Kaese." Beim Einkaufen fiel Martin ein, dass er seinen Pass vergessen hatte, Richard meinte zwar, das sei nicht noetig, weil sie ueber keine Grenze kaemen, aber Martin hielt es fuer sicherer, "bei den heutigen Zustaenden kann man nie wissen", und grinste, und wenn man sich dies Grinsen genau ansah, und Bescheid wusste, konnte man tatsaechlich etwas Tuntenhaftes darin erkennen, und das erschreckte Richard, und verunsicherte ihn in seinen Gefuehlen und darin, wie ihre ganze bisherige Freundschaft zu bewerten war, und er fragte sich zum ersten Mal, wie Andere sein enges Verhaeltnis zu Martin beurteilten. Doch als sie zur Stresemannstrasse zurueckkamen und die Wohnungstuer aufschlossen, wurden seine Gedanken von einer viel intensiveren Wahrnehmung abgelenkt. "Was stinkt denn hier so bestialisch", rief er. Im Flur roch es wie in einer Chemiefabrik und unwillkuerlich verkrampften sich die Lungen, dass man fast zu ersticken meinte. Da hoerten sie Kalles Stimme aus der Kueche: "Bitte nicht in Lauras Zimmer gehen. Ich habe dort Paral gesprueht." Und auf dem Kuechentisch standen, wie Trophaen nach einer Jagd, drei leere Dosen des Insektenvertilgungsmittels. "Ich bin schnell zu Budnikowski und habe mich ordentlich eingedeckt", sagte er stolz, "in 3 Tagen muss ich die Kur wiederholen ... wenn die naechste Generation aus den Eiern geschluepft ist." "Mensch lass doch die armen Floehe leben", sagte Richard, und Martin befand: "Ich seh schon, du willst uns alle vergiften. Mir kann es egal sein, ich duese jetzt mit Richard nach Muenchen ab." ------- Unten im Sueden lag Dieter auf der Terasse und liess es sich gutgehen (oder was man so 'gutgehen' nennt). Er hatte heute keine Lust zu arbeiten, weder fuer die Druckerei, wo er haette aushelfen sollen, noch fuer seinen eigenen klein-klaeglichen Biohandel. Er lag auf einem maroden Liegestuhl, ueber dem eine weiche Decke ausgebreitet war, und starrte in den Himmel. Die Terasse nahm die ganze hintere Breite des Bauernhauses ein. Das Haupthaus war ziemlich gross und in traditionellem bayrischen Stil mit viel Holz gebaut. Nach links zu lag in der abschuessigen Wiese eine riesige schwarzhoelzerne Scheune, in welcher die Druckpresse sowie alle landwirtschaftlichen Geraetschaften und im Winter die Schafe untergebracht waren. Nach vorn aber erhoben sich die Haenge der Chiemgauer Alpen, in deren Schoss unter fluechtigem Nebel der See sich erahnen liess. Daneben schob sich ein weiterer, unlaengst renovierter Bauernhof in den Blick, der sich vor dem Hintergrund der sonnenblitzenden Berge wie auf einer Photomontage ausnahm. Heute war mal wieder so ein Tag, an dem er auf solche Schoenheit verzichten konnte, sein Geist haette ohne weiteres auf alle Schoenheit und die ganze aeussere Welt verzichten koennen. Sie nervte ihn, mit ihrer Marginalitaet (in den physischen Dingen, denn was waren die Berge anders als aufgeworfene Gesteinshaufen?) und ihrer Verlogenheit (in den Beziehungen der Menschen). Er schloss die Augen, um fuer einen kurzen Moment in eine Welt des Gluecks, und vielleicht der wahren Erkenntnis einzutauchen. Er wusste, es gab eine imaginaere Achse, ein Sein jenseits von Worten und Taten, ohne Ungerechtigkeit oder Vernichtung. Er setzte sich ans Keybord, das vorsorglich auf dem Gartentisch bereitstand, liess sich einen langsamen Blues-Rhythmus vorgeben, und spielte eine jener immer wiederkehrenden, nie endenden Melodien nach, die sich in seinem Geist bildeten und von seinen Mitbewohnern gewoehnlich als Krach erachtet wurden. Fuer ihn aber klang es wie Hoffnung in einer Sprache, die kein anderer sprechen konnte, und Britta schon gar nicht, denn die Sprache der Hoffnung war bei ihr besonders verkuemmert. Es machte ueberhaupt nichts, dass er sich so verletzbar und einsam fuehlte. Das wusste er schon lange, wahre Ueberzeugungen und Inhalte liessen die Menschen vereinsamen, geistige Flachheit machte sie maechtig. Frueher hatte er an grosse Leidenschaften wie die Freiheit oder die Liebe geglaubt, jetzt war er nicht mehr so sicher; er hatte erfahren, dass zumindest die Liebe kein Garant des Ueberlebens war, im Gegenteil; auch sie ergab sich zuletzt, um es in Martins keimfreier Terminologie auszudruecken, den Signifikanten. Man sollte sich und den Menschen nicht vorgaukeln, sie seien fuer Hoeheres bestimmt. Verzweiflung war denen gewiss, die solch simple Utopien fuer bare Muenze nahmen. "Als ich juenger war", dachte er wehmuetig, "suchte ich wie verrueckt nach dem richtigen Weg, indem ich die radikalsten Positionen einnahm; aber ich fuehlte mich nie richtig wohl, weil ich in keiner die Loesung fand; wenn ich in mich hineinschaue und wirklich die Wahrheit sagen soll: ich suchte nach dir, obwohl ich instinktiv wusste, dass ich dich nie bekommen wuerde. Wenn ich durch die Strassen ziehe, sehe ich manchmal Frauen wie dich, welche die Erfuellung eines Traums zu sein scheinen. Man darf sie nicht naeher betrachten. Man wird verzaubert und muss doch verzweifelt erkennen, dass sie jemand anderen suchen, dass es niemals eine Verstaendigung oder Uebereinstimmung mit ihnen geben wird. Wer sich mit ihnen in Verbindung setzt, traegt nichts als schreckliche Wunden davon. Ich wusste von Anfang an, dass Britta zu attraktiv fuer mich war. So eine glaubt, ganz andere Kerle zu kriegen, und verhaelt sich entsprechend. Sie hat mich ihre Ueberlegenheit, die doch nur eine zufaellige des Koerpers ist, deutlich spueren lassen." So gingen seine Gedanken. - "Warum laesst du das Thema Britta nicht auf sich beruhen, ruehr es nicht mehr an", konnte er sich noch so oft vornehmen, es kam doch wieder hoch. Wie gut hatte er sie ueberhaupt gekannt? Hatte er sich nicht die ganze Zeit etwas vorgemacht? Alle Zuneigung und Liebe enthaelt ein irreelles, durch nichts gerechtfertigtes Moment, dessen Anteil um so groesser, je kuerzer und hastiger die Bekanntschaft ist, so dass sie der Freundschaft geradezu entgegengesetzt wirkt. Schnell und heftig Verliebte werden nur durch das duenne Band einer gewaltigen metaphysischen Hoffnung beieinander gehalten. Er fuehlte sich alt, wie 20 Jahre aelter, und eine Furcht kroch in ihm hoch, dass er mit 40 immer noch daliegen wuerde, mit nichts in der Hand als einer suessen, ewig fortwaehrenden und sein ganzes Leben dominierenden Melancholie (oder mit noch weniger, weil das Leben vorbei war). "Was waere, wenn du dich damals unsterblich in mich verliebt haettest", wuerde er fragen, wenn sie sich zufaellig irgendwo traefen, "und wir waeren bis heute zusammengeblieben, stell es dir vor, auch wenn es der Gipfel der Unwahrscheinlichkeit ist; aber ich traeume trotzdem davon, weil es unsagbar schoen ist, davon zu traeumen, und weil ich ein grosser Spinner bin." Und dann musste er denken, was fuer ein Glueck er unwiderruflich verpasst hatte und ein leiser bitterer Schmerz ergriff sein Herz und liess ihn einschlafen. Dass er um die Mittagszeit einfach einschlief, kam ziemlich oft vor und war uebrigens auch ein Relikt des ganzen Schlammassels mit Britta. Denn nachts schlief er schlecht, ohne weiteren Grund als den, dass er seit der Trennung von ihr die ganze Zeit schlecht geschlafen hatte, und litt bei Tage entsprechend unter einer immer fort waehrenden und jeden Tatendrang laehmenden Muedigkeit. Im Lauf der Monate legte er sich verschiedene Hypothesen zurecht, wie die Gnade des Schlafes zurueckzugewinnen sei. Er kannte die Theorien ueber schlafstoerende Erdstrahlen und Wasseradern, die er jedoch fuer abwegig und aberglaeubisch verwarf, zumal er ihre Verfechter fuer spleenig und hohlkoepfig hielt, und setzte stattdessen auf eigene Eingebungen. Vielleicht lag es an der Himmelsrichtung, in die man den Kopf bettete. Seine Eltern und Grosseltern hatten nie ueber Schlafprobleme geklagt und, soweit er rekonstruieren konnte, immer nach Westen geschlafen. Vielleicht, dachte er, gab es da einen Zusammenhang, zum Beispiel mit der Rotationsrichtung der Erde oder der Orientierung ihres Magnetfeldes. Bei dem Versuch, sein jetziges Zimmer, eine niedrige bayrische Bauernstube, entsprechend umzuraeumen, stellten sich ihm allerdings erhebliche Schwierigkeiten in den Weg. Die Lage der Tueren und Fenster verhinderte geradezu, das Bett in westlicher Richtung aufzustellen, und erst nach einiger und konzentrierter Ueberlegung gelang es ihm, doch eine entsprechende Ausrichtung zu erreichen, indem er das Bett einfach mitten in den Raum hineinragen liess. Damit war er zwei Tage aeusserst zufrieden, bis er sich am Dritten mit dem Schienbein derartig an der Bettkante verletzte, dass er mindestens eine Minute laut aufheulte, und in der naechsten und allen folgenden Naechten wieder in die alte Schlaflosigkeit zurueckfiel. Dann wieder verdaechtigte er die Beschaffenheit seiner Unterhemden oder der Kissenbezuege, fuer die naechtliche Unruhe verantwortlich zu sein und notierte eifrig, in welchen halbwegs und in welchen gar nicht sich schlafen lasse. Die letzteren sortierte er aus - solange, bis keines mehr uebrig war. Irgendwann arrangierte er sich mit der permanenten Uebermuedung, und verbrachte die Tage in seltsamer Trance, verrichtete nur die allernoetigsten Taetigkeiten, und liess sich treiben im salzigen Meer seiner Erinnerungen. Er war schon gluecklich, wenn er nachts wenigstens 3, 4 Stunden fest schlief. Meist wachte er dann abrupt auf, und meinte im ersten Moment, es sei schon Morgen. Doch auf dem Wecker war es halb drei (wenn's hoch kam), er fiel zurueck in die Kissen. Mit allerlei psychologischen Techniken versuchte er, sich zum Schlafen zu zwingen, aber das trieb seinen Kreislauf in die Hoehe und machte den Geist erst richtig wach, und wenn auch Zaehlen bis Tausend nicht half, liess er Bilder aus der Vergangenheit hochsteigen, von bier- und pot-seligen Schuelerfeten neben der Tengerner Klaeranlage, kein Mensch wusste, wer auf diese Stelle als Platz zum Feiern gekommen war (mit ihrem bei Ostwind beissenden Gestank, dem hohen Drahtzaun, den Betonbecken, in denen riesige Ruehrer rotierten wie muede Esel in einer Getreidemuehle, und willkuerlich herumstehenden Baeumen, die sich von alldem nicht beeindrucken liessen), wie er sich als DIE feste Lokalitaet hatte etablieren koennen, fuer die Parties seines Primanerjahrgangs und bis zum Ende der Schulzeit, bis man in alle Winde verstreut wurde. An sein erstes Maedchen erinnerte er sich, mit der er an der Klaeranlage mehrmals zusammen war, und nur dort, anderswo wich sie ihm aus, mochte sich nicht mit ihm treffen. Und fuer immer vermischte sich der Geruch gaerender Faekalien mit dieser Erinnerung, dem Fuehlen und Schmecken der ersten Kuesse, im Ruecken der Zaun als letzter, fester Widerstand, wenn der Trieb allzu maechtig wurde. Dann schlief er ein und bestellte im Schlaf den Garten seiner Traeume. Er erlebte unbeschreibliche Glueckseligkeiten, indem ihn Alle umringten, die er jemals gekannt und geliebt hatte, die Eltern, Geschwister und Grosseltern, die besten Freunden, mit denen er Hardrock improvisierte oder hitzige Debatten fuehrte, ... und all die Frauen, denen er verfallen gewesen war. Jetzt erfuellten sie die Versprechen, die er in ihren Augen zu lesen gemeint hatte und liessen sich bedingungslos auf ihn ein. Die Tiere und Pflanzen der Erde lebten in Eintracht. Er ruhte sanft in ihrer Mitte, waehrend eine frueher sproede Geliebte mit ihm die Tiefen der Seele ergruendete. Alles war voll friedlicher Ruhe, und die Freiheit, um die er einmal geglaubt hatte mit Waffen kaempfen zu muessen, gab es umsonst. Und waehrend die reale Sonne mit ihren Strahlen den letzten Nebel ueber dem Chiemsee vertrieb, zog er das Maedchen zu sich herunter und bedeckte ihren Koerper mit stuermischen Kuessen, was sie sanft und nachgiebig machte. Hinterher stand er auf und spielte einen belebteren Rhythmus und seine Tatkraft kehrte zurueck. Er traf sich oefter abends mit John und verschiedenen Leuten aus der Gegend beim Sohn des hiesigen Baeckers, der im alten Backhaus einen schalldichten Uebungsraum eingerichtet hatte. Jeder brachte mindestens ein Instrument mit, Dieter sein Keyboard, und sie spielten laut roehrenden Rock, der in seinem Dilettantismus dem Ideal einer freien wilden Musik schon ziemlich nahe kam, sie traeumten, und auch er traeumte jetzt davon, damit beruehmt zu werden und grosse Konzertsaele zu fuellen. Frauen wie Britta wuerden ihm reihenweise die Fuesse kuessen, und noch mehr, und er wuerde sie alle abweisen, oder doch nicht abweisen?, jedenfalls hatten sie ihre Songs auf Tonbaender kopiert und an verschiedene Labels geschickt, und danach, wenn sie mit dem Ueben fertig waren, sassen sie ziemlich erschoepft zusammen, und liessen den Joint kreisen, und gaben sich in beredten Bildern ihren Traeumen hin, wobei der Baeckersohn immer mal wieder hinausschaute, ob sie von seinem Vater beobachtet wurden. In der WG fuehlte er sich relativ wohl. Von den aeusseren Bedingungen war sie ideal, eine groessere Gruppe, zwei Kinder dabei, die ernsthaft ein alternatives Landleben anstrebten, auch das Haus und seine Lage waren ideal geeignet fuer die ungestoerte Entwicklung eines Kollektivs. Im Sommer und sooft es das Wetter zuliess, schafften sie Baenke und Tische auf die Terasse, fruehstuckten stundenlang, sonnten sich und kloenten. In der ersten Zeit hatte es grosse Diskussionen ueber die Art des Zusammenlebens gegeben - und groessere Erwartungen als sich erfuellen liessen. Sie hatten das Gefuehl bekommen, von aeusseren Pflichten aufgefressen zu werden und ploetzlich alles liegengelassen und wochenlang diskutiert, wie die Beziehungen untereinander verbessert werden konnten, bis ihnen ganz schwindlig geworden war vor sich kreisenden Gedanken. Das Hauptproblem war das Verhaeltnis zwischen Landarbeit und Druckerei, und die Arbeit ueberhaupt auf die richtige Reihe zu bringen. Sie entwickelten den Anspruch, jeder sollte voellig gleichberechtigt und in gleicher Weise an allen Arbeiten beteiligt sein. Franz, der das Kollektiv mit aufgebaut hatte, wurde wegen seines Fuehrungsanspruches so hart angegriffen, dass er auszog. Dadurch wurde das Chaos noch groesser, die Verlage und Buchhandlungen murrten, weil nichts mehr funktionierte. Einige begannen daraufhin, die vorherigen Diskussionen zu hinterfragen, sie gerieten geradezu in Panik und meinten, die neue Struktur werde unweigerlich in den finanziellen und organisatorischen Ruin fuehren. Sie wollten die Arbeit wie vorher oekonomisch organisieren, waehrend andere wie Dieter bei ihrer Forderung blieben, alles gemeinsam zu machen. Am Ende spaltete sich die Gruppe, und da die Trennlinie in etwa zwischen den 'Druckern' und den 'Landarbeitern' verlief, beschloss man, diese Zweige organisatorisch zu trennen. Arbeitsmaessig hatte er mit den Druckern nichts mehr zu tun, ausser dass er gelegentlich bei ihnen aushalf, und auch zusammenlebensmaessig sah es auch nicht viel anders aus. Denn obwohl man anfangs versuchte, das soziale Leben weiterzufuehren, also gemeinsame Mahlzeiten, Ausfluege und so weiter, war es anscheinend unmoeglich, die Beduerfnisse zu organisieren, man war in einem Schwebezustand haengengeblieben, wo die beiden Gruppen sich mehr und mehr auf sich selbst und ihre eigenen Plaene zurueckgezogen, und die gemeinsam gepachtete Hofstelle nur noch den Rahmen fuer individuelle Aktivitaeten abgab. Immerhin war es seit der Spaltung deutlich ruhiger geworden, da keine verbalen Raufereien mehr stattfanden. Wer sich wie Dieter und John fuer die Landarbeit und gegen die autoritaeren Strukturen entschieden hatte, brauchte sich nicht um die Finanzprobleme der Druckerei zu kuemmern. Ueberhaupt waren die Landarbeiter viel selbstbestimmter und hatten viel mehr Moeglichkeiten, sich ihre Zeit einzuteilen und einfach mal einen Tag auf der Terasse zu vergammeln. Als es dunkel wurde, packte Dieter Keybord und Decken zusammen und brachte sie ins Haus zurueck. Da hoerte er ploetzlich draussen die Hunde anschlagen, und als er nachschaute, standen Martin und Richard an der Pforte. Wir uebergehen die gemeinsamen Tage in Bayern, darueber gibt es wenig zu erzaehlen, die Gaeste faulenzten oder halfen ihm, seine Waren auf die Maerkte zu bringen, vom Zustand seiner WG waren sie natuerlich nicht besonders beeindruckt, selbst die Bauerngruppe schien ziemlich inhomogen und nur lose verbunden, und die Drucker waren im Grunde Stadtmenschen, deren Leben voellig auf ihre Kundschaft in Muenchen bezogen blieb ... Aber was machte das schon, Hauptsache, Dieter ging's besser und er kam endlich ueber seinen Liebeskummer hinweg. Wie es aussah, hatte er hier eine dauerhafte Perspektive, zumindest wenn er genuegsam blieb und keine grossen Absprueche stellte. "Sag mal, koennt ihr mich morgen mit hochnehmen", fragte er am Tag vor der Abreise, "ich muss in Hamburg und Tengern noch Einiges erledigen, hab auch Lust, die alten Bekannten mal wieder zu treffen, und bevor ich mich an die Strasse stelle oder ein teures Bahnticket kaufe ..." "Kein Problem", sagte Richard, der aus dem Fenster in die weissblaue Landschaft gedoest hatte, aber augenblicklich munter wurde, "du wolltest ja eh mit nach Muenchen auf die Piste, wir fahren dann gleich weiter, sobald wir mit der Stadt fertig sind." Und abends brachen sie auf und fuhren der Metropole entgegen. Bayern, das waren erstens die Alpen, die man bei Foehn von ueberall dort am Suedhimmel funkeln sah, und zweitens Muenchen, die Leopoldstrasse, Ludwigstrasse, es war schon spaet, als sie dort ankamen, herbstlich, dunstig und regenstaubig, sie schlenderten durch Schwabing und blickten in voruebergehend erwartungsvolle Gesichter, sie waren stinknormale Touristen, ausser dass Dieter dabei war, der ihnen paar Sachen erklaerte, soweit er sie selber wusste. Die Strassen hatten etwas geheimnisvoll Suedeuropaeisches, fand Richard, die Bayern deutsche Gesichter, ohne sich doch mit den bekannten ganz zur Deckung bringen zu lassen. Die Surrealisten waren in den Naechten durch Paris gezogen, hatten die groessten Belanglosigkeiten in bizarre Formen uebersetzt, sie waren in die Dinge hineingekrochen. Er aber sah nichts als Regen, fahles Neon-, scharfes Quecksilber-licht, und stumpfe halb vergammelte Fassaden. Er spuerte, wie ihm die Fuesse feucht wurden. Er war zufrieden damit. Wo die Dinge sich so bizarr entwickelten, brauchte man den Surrealismus nicht, und schon keine gigantischen Kunstsammlungen wie die Pinakothek, deren Gemaeuer die schmale Lippe Abendrot am Himmel von Schwabing verdeckten. Man konnte zu sich selbst zurueckkehren, so dass das Herz wieder regelmaessig schlug. Man sah sich um und erkannte, wer man war. Man wusste, das grelle Licht muss fort und die Werbung und alles Moerderische, und im Schoss der Prostituierten wohnt kein magisches Moment. So streiften sie durch die Nacht, und Dieter schlug diese oder jene Kneipe oder Disco vor, doch Richard und Martin stand nicht der Sinn danach, und Dieter war kompromissbereit, auch auf Kino haette er sich eingelassen, doch sie ignorierten alle Filmpalaeste, und erreichten schliesslich eine ruhigere Gegend, ein altes verlassenes Gewerbegebiet mit grossen dunklen Hallen und Hinterhoefen, die Strasse endete abrupt im Niemandsland, aber der Fussweg ging weiter, nach Westen, und wie von einer seltsamen Macht getrieben schritten sie vorwaerts, Dieter immer hinterdrein. Einmal stolperten sie ueber eine verbogene eiserne Leiter, die irgendein Trottel auf dem Weg liegengelassen hatte, und Dieter freute sich insgeheim ein bisschen, warum mussten sie auch hier wie Idioten herumrennen. Denn sie hatten ein Lichtschein gesehen, flackernde vielfarbene Helligkeit, eine Kunstausstellung, Avantgarde, und das war genau, was Martin und Richard jetzt brauchten. Die Ausstellung hatte erst nach 18 Uhr geoeffnet, man meinte, interessierte Studenten abends am ehesten zu erreichen. Doch sie waren die einzigen Besucher, die Gegend war einfach zu abgelegen, und drinnen war es fast so dunkel wie draussen, denn die Waende waren mit schwarzer Tuenche bestrichen, um die hellbunten Video- und Neon-Installationen gebuehrend zur Geltung bringen. Erwartungsfroh gingen sie durch den Vorraum, bezahlten der einsamen Frau an der Kasse den geringen Eintritt - und wurden schnell enttaeuscht. Es war wie oft in modernen Museen, man stellte als Besucher viel zu hohe Qualitaetsansprueche. Manches war langweilig, anderes laecherlich unprofessionell und vieles wuerde allein darum untergehen, weil es von den technischen Moeglichkeiten ueberholt wurde. Wen interssierte im naechsten Jahrtausend noch Computergraphik aus den 70er Jahren? Sie schlichen herum, beaeugten ernsthaft und von allen Seiten die paar gelungenen Objekte, die ihre Phantasie entfachten, und waren froh, als sie hinter einer schweren Schiebetuer unverhofft wieder auf der Strasse standen; das ganze Museum bestand nur aus drei mittelgrossen Ausstellungsraeumen. Einen Moment standen sie ratlos herum. Dieter glaubte schon, die Anderen seien von ihrer Kultureuphorie herunter und sagte hoffnungsvoll: "Lasst uns zurueckgehen, es ist genau die richtige Zeit, einen drauf zu machen, in Schwabing faengt das Leben erst nach Mitternacht an." Doch gerade die Enttaeuschung ueber die Ausstellung befeuerte ihre Diskussionswut, und ohne ihn weiter zu beachten und waehrend des ganzen Rueckweges, auf dem sie zu seinem Verdruss immer langsamer wurden, schallten ihre Stimmen durch die Dunkelheit, und liessen sich von seinem Lamento so wenig wie von den zahlreichen Liebespaaren ablenken, die sich auf den Gehsteigen tummelten, man konnte echt truebsinnig werden, fand er, wenn man mit solchen Leuten loszog. "Eigentlich sollte klar sein, es kann heutzutage nur noch moderne Kunst geben", sagte Richard, "alles andere ist provinziell und rueckstaendig, man muss sich nur die ganze Gebrauchskunst anschauen, die bei den Leuten ueberall herumhaengt, oder die Imitationen beruehmter Werke, egal aus welcher Epoche, das ist vielleicht was fuer den Flur oder fuers Klo, aber nichts fuers Bewusstsein. Wenn Kunst eine Bedeutung haben soll, muss sie modern sein, muss unbegrenzt experimentieren und die alten Methoden zerstoeren. Ich gebe ja zu, man darf kein besonderes 'Kunsterlebnis' erwarten, wie es uns manche Kulturstrategen und Museumsdirektoren versprechen, das wuerde der urspruenglichen Intention moderner Kunst zuwiderlaufen. Aber was wir eben gesehen haben, war einfach deprimierend, es war lahm, kraftlos, eine fade Sauce, da wurde zwar experimentiert, aber in absolut dilettantischer Manier." Er sagte 'Manier', und dabei konnte man an seiner Stimme hoeren, er meinte, "ich wuerde es besser machen". "Ich bin nicht sicher, ob die Unterscheidung zwischen modern und den aelteren Stilen wirklich vernuenftig ist", sagte Martin. "Die jeweils zeitgenoessische Kunst war doch in den meisten Faellen immer auch 'modern' ..." "Aber mit dem Begriff 'modern' werden ganz bestimmte Richtungen der Kunst aus unserem Jahrhundert belegt, die uebrigens eindeutig an die jeweiligen historischen und oekonomischen Bedingungen gebunden sind und zu einer anderen Zeit gar nicht haetten entstehen koennen. Adorno und andere haben sie geistesgeschichtlich so eingeordnet, dass 'moderne' Kunst sich dadurch auszeichnet, dass sie vor den immanenten Schrecken und der Entfremdung der buergerlichen Welt nicht ins Naive ausweicht, sondern beides in sich aufnimmt und verarbeitet, ihrer Form nach wie auch nach den Inhalten. In der Form nimmt sie das Kunstfremde auf, das ist bei der modernen Kunst eigentlich zum ersten Mal zu beobachten, dass man die Materialien genauso verwendet und in die Kunstwerke einbaut, wie sie auch im Alltagsleben auftreten. - Und derart provoziert sie eine Imagination und eine Kritik beim Betrachter, die auch eine Kritik an den Verhaeltnissen ist. Denn die in unserem Bewusstsein angestossenen Bilder machen den Unterschied zwischen dem deutlich, was ist und dem, was sein koennte. Und die Pop-Art laesst sich da nahtlos einbeziehen, jedenfalls soweit sie nicht kommerziell ist. Die Kommerzkunst hat in unserem Alltagsleben natuerlich ein enormes Gewicht, besonders durch die Medien, aber als Kuenstler sind ihre Heroen bedeutungslos, auch wenn die Massen sie feiern und zu Goetzen stilisieren. Die Pop-Avantgarde aber fuegt sich in die Moderne ein, das wenigstens konnte man eindeutig in der Ausstellung erkennen. - Wobei sie zwei Komponenten hat, eine zivilisationskritische, da versuchen Kuenstler, mit Plastikmuell politische Aussagen zu machen, und eine in der Tradition des Dadaismus." "Ich stimme insoweit mit dir ueberein", sagte Martin. "Man kann natuerlich 'modern' so definieren wie du es tust. Und wenn irgendwo, ist bei der Kunst die Form allein das zentrale Element (in allen anderen Bereichen wuerde ich das bestreiten, und auch in der Kunst wuerde Mancher auf die Form gern verzichten, wenn sich denn der Inhalt anders ebensogut uebermitteln liesse), bei der Kunst transportiert die Form die Inhalte (wenn es denn Inhalte zu transportieren gibt), weil sich Kunst nur durch die Form vom blossen Dasein abheben kann. Aber Kuenstler haben zu allen Zeiten die jeweils modernsten Produktionsformen gewaehlt, das ist ganz natuerlich so, warum soll man eine Fackel anzuenden, wenn man eine Gluehlampe hat?, und heute sind es eben die unglaublichen Moeglichkeiten der Druck- und der Filmtechnik usw. Wenn wir schon ueber den tieferen Sinn der Kunst diskutieren, moechte ich hier zwei Thesen in den Raum stellen, die mir von Zeit zu Zeit durch den Kopf gegangen sind und fuer mich die wahre Achse der aesthetischen Theorie bestimmen. Erstens, und damit wirst du garantiert uebereinstimmen, wie ich dich kenne, zumindest wenn ich es so formuliere, also erstens, KUNST VERSETZT IN EINE ANDERE WELT, in der andere Gesetze zu gelten scheinen als in der Realitaet, und zweitens, KUNST SCHOEPFT DIE MOEGLICHKEITEN UNSERER WAHRNEHMUNG VOLLSTAENDIGER AUS ALS DAS ALLTAGSLEBEN, welches vor allem grau und immer gleich ist, mit nur paar wenigen Farbtupfern. In dem Sinne ist sie vollkommener als die Wirklichkeit; denn in der Wirklichkeit hoeren wir einmal im Jahr, im Fruehling, ein paar Vogelstimmen zwitschern und gruenes Laub bricht aus den Zweigen, aber in der Kunst, im Konzert oder auf der Leinwand haben wir hundertfaches Singen und hundertfaches Gruen, und Blau und Rot dazu, soviel wir wollen. Dieser zweite Punkt scheint mir die hauptsaechliche Antriebsfeder fuer die meisten Kuenstler, der Grund, warum ein Kunstwerk ueberhaupt geschaffen wird. Natuerlich meine ich damit nicht l'art pout l'art, und bin auch nicht so naiv zu glauben, Kunst diene keinem Zweck ausser dem Genuss des Betrachters, ein altes Maerchen, dazu muss man Abstand halten. Mit meiner zweiten These bereitet es auch keine Schwierigkeiten, den Begriff des Schoenen zu erweitern, wie heute allenthalben ueblich, so dass er alles umfasst, was sich zur Schau stellen laesst, auch Arrangements von umgestossenen Muelltonnen, Portraits von nackten, mit schrillen Farben bemalten Toten oder zusammengeleimte Altholzhaufen, bei denen einer seine Notdurft verrichtet, mit anderen Worten, alles was du alltaegliche Materialien genannt hast. Das Problem ist doch, Kunst, ob modern oder traditionell, hat einen Anspruch, Bedeutung zu haben, etwas mit Wahrheit zu tun zu haben, in Bereichen, in denen die Wissenschaft kapituliert. Und zu der einen oder andern Erkenntnis mag sie den Betrachter auch inspirieren. Doch es gibt kein wirklich festes Band zur Wahrheit, von sich aus ist in keiner Kunst Gut oder Boese enthalten, und oft reflektiert sie nur irrationale, beliebige und wertlose Beduerfnisse, wie die Monstrositaeten der Musikindustrie. Du weisst, ich bin durchaus kein Ideologe der Ratio, der neben der Vernunft nichts anderes gelten laesst. Doch die Kunst hat ihrem Wesen nach keine Richtung, sie befriedigt vornehmlich die Beduerfnisse des Stammhirns, und vielleicht noch die Eitelkeit, und den Geldbeutel. Nur selten antizipiert sie Zukunft. Spaeter haengt sie im Museum. Dort ist alle Kunst tot, oder bestenfalls Geschichte. Einer alten Fabel zufolge wird die Welt erst dann wahrhaft versoehnt, wenn sie zur Kunst sich erhebt, wenn Kunst und Leben eins sind - einfach schoen. Diese Hoffnung basiert auf mehreren Irrtuemern, zuallererst auf dem der Einheit von Schoenem und Gutem, worueber schon die Alten mehr als genug geschrieben haben, dass es mir seit meiner Schulzeit zum Halse heraushaengt. Kunst hat aber nichts Goettliches, sie ist nicht faehig, die Menschen von ihrer Beschraenktheit zu erloesen. Nur in einer Ueberwelt, die sich der menschliche Geist kuenstlich konstruiert, deutet sie auf etwas Uneingeloestes. Doch jene ist selber irreal. Zum real Jenseitigen kann keine Kunst gelangen. Das ist der Grund, warum ich mich nur bis zu einem bestimmten Punkt mit ihr beschaeftige. Die ganze aesthetische Theorie scheint mir wie eine Schimaere, ueberspitzt formuliert koennte man sagen: Es gibt keine Theorie der Aesthetik, weil es keine Aesthetik gibt." Das letzte sagte er besonders abwertend, sollte Richard sich ruhig angegriffen fuehlen. Der aber nahm die Darlegung als Aufforderung, nun seinerseits loszulegen: "Ich verstehe deine Logik nicht", sagte er, "du hast es doch selber in der ersten These formuliert, Kunst geht auf eine andere Welt, auf Unbekanntes, (noch) nicht Seiendes, sie ist eine Moeglichkeit, ueber die bestehenden Verhaeltnisse hinauszugehen, indem sie dem Betrachter eine Ahnung davon vermittelt, was sein koennte, und damit ist sie vielleicht das einzig wahrhafte Band, welches uns mit der Utopie verbindet. Die moderne Kunst liefert fuer diesen Umstand genauso viele oder sogar mehr Beispiele als die klassische. Nimm zum Beispiel die abstrakte Malerei. Dort unterscheide ich eine real-abstrakte und eine irreal-abstrakte Richtung. Die erste ist abstrakt, indem sie Reales auf ein Wesentliches, Abstraktes reduziert. Die zweite experimentiert in der Luft, ist die Abstraktion einer (noch) nicht existierenden Welt. Beide erfuellen vielleicht nicht deine Ansprueche, aber sie unterscheiden sich von den abstrakten Begrifflichkeiten des technokratischen Denkens durch eine zusaetzliche Dimension, das heisst, die abstrakte Kunst ist eigentlich gar keine Reduktion, das habe ich falsch ausgedrueckt, im Gegenteil, sie ist eine Erweiterung, wenn sie auch den hoeheren Zustand der Gesellschaft nur ahnen, fuehlen, und niemals genau beschreiben kann. Und damit geht sie auf Unerfasstes und moeglicherweise gar nicht oder nur in einer zukuenftigen Gesellschaft Erfassbares, und steht jede Kunstinterpretation unter dem Vorbehalt, dass die Ratio der Kunst niemals voellig gerecht werden kann, es bleibt eine Differenz, da mag die Ratio noch so flexibel sein, es bleibt eine Differenz zwischen dem Kunstwerk und seiner Auslegung, und in dieser Differenz ist etwas Subversives enthalten, an die keine Interpretation herankommt, all das wohlfeile Geschwafel in den Feuilletons, gleich ob es aesthetisierend oder sozialkritisch daherkommt, stoesst niemals zum Kern eines Kunstwerkes, und dies Defizit entspricht uebrigens der Differenz zwischen Physik und Natur in der Wissenschaft, so praezise wir die Natur auch untersuchen, mit all unseren Bezeichnern und Apparaten, ihre Substanz werden wir nie ganz begreifen. Man kann dasselbe noch von einer anderen Seite aufspannen. Kunst hat (infolge der erwaehnten Abstraktion) zwar mit dem Allgemeinen zu tun, aber nur in sehr vermittelter Weise. Denn in der Kunst mischen sich Objektivitaet und Subjektivitaet, Allgemeines und Besonderes. Sie agiert auf einer Urstufe des Bewusstseins, auf der es gewisse Unterscheidungen noch gar nicht gibt - ohne aber, wie die Mythologie, zu beanspruchen, konkret und ganz wirklich zu sein. Die heutige Welt steht zunehmend unter der Herrschaft des Allgemeinen (vor allem des die Natur zur Ware degradierenden Allgemeinen), und das Kunstwerk eruiert die Moeglichkeiten des Besonderen in einer solchen Welt, es rekurriert auf Natur, aber nicht in einer naiven romantizierenden, sondern in einer der Unfreiheit Rechnung tragenden Weise. Es kapriziert sich auf das Besondere und gibt ihm den Platz zurueck, welchen es in der Warenproduktion verloren hat. Mehr noch, wir haben das neulich schon diskutiert, die Bewegung zum schlecht Allgemeinen ist eine Bewegung zum Nichts, zur Vernichtung, von welcher Individuen und Natur gleichermassen bedroht sind. Die Kunst vermag das aufzuhalten!" "Ich weiss nicht, wie du zu diesen Behauptungen kommst, mir sind Kunstwerke mit solchen Faehigkeiten noch nie begegnet", versuchte ihn Martin zu unterbrechen, "alles was ich sehe ist ..." "Bitte lass mich ausreden. Also, Kunst vermag das aufzuhalten, und dabei ist es ganz egal, ob sie durch Abstraktion die Risse der hermetischen Realitaet hervorhebt, oder durch Realismus die Wirklichkeit scheinbar absolut treu abbildet, auch die Fotografie und die Filmkunst koennen diesem Anspruch im Prinzip gerecht werden. Natuerlich sind die meisten kommerziellen Filme positivistisch, das heisst sie sind zwar nah an der Realitaet dran, aber in ihren Themen spiegeln sie nur die Logik des schlecht Allgemeinen - wenn auch zuweilen auf gekonnte Art und Weise. Wahre Kunst unterscheidet sich davon, sie laesst sich zwar auch auf die Wirklichkeit ein, macht aber jene Differenzen sichtbar, von denen ich vorhin gesprochen habe. Ich denke dabei nicht nur an die Malerei, auch in der Literatur ist das ganz deutlich zu erkennen. Natuerlich gibt es die Sprache als Sozialkitt, die uns allen zu ueberleben hilft. Und ausserdem ist Sprache das Resultat eines abstrakten Reduktionsprozesses, mit allen negativen Begleiterscheinungen, die wir schon oft diskutiert haben. Alles richtig; und dennoch: manches, was wir mit Sprache formulieren, zum Beispiel, wenn wir Fragen nach dem Glueck und dem Tod, nach Nichts und Unendlichkeit stellen oder zu beantworten versuchen, scheint nicht zu der kuenstlichen, geknebelten Welt zu passen, an die wir jene Fragen richten. Und daher meine ich, eine allzu konkrete, absolut praezise Sprache, waere etwas Fuerchterliches. Eine reibungslose Sprache, welche vollstaendig in der Welt aufginge, wuerde niemals mit den kreativen Utopien der Veraenderung zusammenspielen, wie es grosse Literatur vermag ... aeh, also, ich weiss nicht, ob du mich verstehst ... aber Literatur, Filme, Bilder, Musik, sie alle haben - als Kunst - dasselbe gebrochene Verhaeltnis zur Wirklichkeit. Kunst moechte sagen, was sich mit den Mitteln, die ihr oder die ueberhaupt zur Verfuegung stehen, gar nicht sagen laesst, und ist daher sensitiver und tiefsinniger als Politik oder Philosophie, deren rationale Erwaegungen sich notgedrungen viel zu intim auf die Wirklichkeit einlassen." Im Bezug auf die Philosophie meinte Martin, eine Spitze zu erkennen, und er war durchaus in der Stimmung, den Fehdehandschuh aufzunehmen. "Ich bin in allem voellig anderer Ansicht als du", sagte er grimmig. "Und ich sehe jetzt, es war ein Fehler, meine erste These so missdeutig zu formulieren. Kunst, die in eine andere Welt versetzt - pah. Diese andere Welt ist keine zusammenhaengende Realitaet, sondern nur eine gefaellige Illusion. Und die anderen Gesetze, die dort gelten sollen, sind gar keine Gesetze, es sind beliebige Festlegungen, zumeist widerspruechlich und inkontingent. Der Kuenstler denkt sich irgendwas aus und schon hat er seine 'andere Welt' ..." "Du machst einen grossen Fehler, wenn du die Kunst so abwertest", sagte Richard. "Zwar ist das Kunstwerk von seiner Form her nur tote und scheinbar beliebige Materie, doch durch die Wahrnehmung dringt es in unser Gehirn ein, und dort tun wir etwas hinzu, etwas Eigenes, denn Kunst weckt Erinnerung und befoerdert die Phantasie, aber auch das Erkennen von noch nie dagewesenem ist darin eingeschlossen. Was wir hinzutun, kann in eine menschlich kollektive und eine individuelle Komponente unterschieden werden, wobei letzteres frueher oft nur ein Epsilon war, bei der modernen Kunst aber den Hauptaspekt ausmacht. Das waere meine Definition der modernen oder abstrakten Kunst im Gegensatz zur Klassik, vulgaer ausgedrueckt, dass sich jeder Betrachter etwas anderes dabei denken kann. Beide Momente sind in jedem Kunstwerk als Keim angelegt, und danach, welches Feuerwerk an Assoziationen es in uns ausloest, liesse sich seine Qualitaet beurteilen." "Aber die Assoziationen, die in uns geweckt werden, sind vorgegaukelt, eine irreale Verfuehrung", erwiderte Martin erregt, "als Kunst kann jeder alles deklarieren; im Gegensatz zur Technik braucht sie nicht zu funktionieren, bei der Technik muss jedes Steinchen mit dem anderen zusammenpassen, Kunst aber arbeitet mit amorphem, funktionslosen oder inkommensurablen Entitaeten, die erst vom Geist des Betrachters in einen Scheinzusammenhang gefuegt werden. Wenn sie sich verhaspelt oder nicht weiterkommt, kann sie aus einer Idee jederzeit aussteigen und sich einer beliebigen anderen zuwenden." "Etwas von dem, was du sagst, ist sicher richtig", gab Richard zu, "Beliebigkeit ist der eine Pol der Kunstproduktion, aber es gibt eben auch den Aspekt der Bewusstseinserweiterung, zu dem man anders gar nicht gelangen koennte. Kunst ist imstande, in unserem Bewusstsein ein ganzes neues Universum zum Leben zu erwecken." "Nein, nein, und nochmals nein", schrie Martin so laut, dass ein entgegenkommender Passant zusammenzuckte und vorsichtshalber die Strassenseite wechselte. "Wenn du von irgendwelchen Welten redest, wer sagt dir, welche Qualitaet sie haben? Bekanntlich herrscht in der Kunst die Diktatur der Schoenheit und des Gefallenwollens, sie ist so voller Fallstricke und Vorurteile, dass sie mit der Tyrannei der wohlfeilen Rede und des scharfen Verstandes mehr als mithalten kann, in der Versklavung der Menschen. Die schoene Erscheinung hat keinen anderen Sinn als den, uns zu taeuschen. Wahrheit ist jenseits aller Erscheinung, jenseits voller Lippen, himmelblauer Augen und koerperlicher Unmittelbarkeit", und dabei kam ihm unvermeidbar ein Bild Ellens in den Sinn, das er jedoch mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseitefegte. "Erst wenn unser innerstes aesthetisches Empfinden voellig zerstoert ist, so dass uns die Schoenheit nicht mehr manipulieren kann, werden wir wirklich sehen koennen." Hier mischte sich ploetzlich Dieter ein. "Du hast gesagt, dass der Kuenstler sich alles erlauben kann, ohne sich wie ein Ingenieur um die Funktionsfaehigkeit seiner Maschine kuemmern zu muessen. Aber ist das nicht gerade ein wichtiges Argument fuer die Kunst, dass sie solche Beschraenkungen nicht kuemmern muss, ist das nicht ein Aspekt von Freiheit, sich ueber geltende Gesetze hinwegsetzen zu koennen? Kunst hat doch gar nicht den Anspruch zu funktionieren, sondern sie will etwas anruehren in uns, etwas wecken, wie Richard schon sagte, und wenn sie die Regeln bricht und auf die Freiheit hinauswill, achte ich sie auch. - Ueberhaupt wundere ich mich, dass du solche Ansichten vertrittst." "Du stellst dir das mit der Freiheit zu einfach vor", entgegnete Martin veraechtlich. "Diese Freiheit ist doch nur Schein und Beliebigkeit. Kunstwerke muessen nur aesthetisch sein, nur gefallen, und daher sind sie wie Potemkinsche Doerfer, reine Fassaden ohne Bedeutung. Aber nicht nur Kunst, alles Herumgedenke und Herumgerede, sind sprunghaft, sie koennen es sich leisten, sprunghaft zu sein, und damit die tollsten Sachen an die Wand projizieren, und reichlich unerfuellbare Hoffnungen wecken. Denn anders als die Technik, die Produktion und die Natur muessen sie sich nirgendwo bewaehren. Die Schwaeche des Denkens, sein Chauvinismus, sein Totalitarismus und sein Ausweichen vor den wahren Problemen, folgen nicht aus der Abstraktion - DIE hilft, Zusammenhaenge klarer zu verstehen! - sondern aus seiner Sprunghaftigkeit. Die Sprunghaftigkeit ist uns anerzogen, oder angeboren, weil sie uns beim Schwafeln nuetzt, und weil in den modernen Zeiten mit den immer komplizierter werdenden Lebensbedingungen sich vieles gar nicht mehr verstehen laesst, so dass wir uns mit Meinungen und Halbwahrheiten ueber Wasser halten, die wir munter weiterverbreiten. Und ich glaube auch, die meisten Kunstwerke dienen ganz anderen Zwecken als den von Richard hochgehaltenen, mit denen sie sich selbst beweihraeuchern, viel profaneren Zwecken naemlich, sie sollen nur den Status des Kuenstlers in seiner Gemeinde sichern. Natuerlich gibt es die Ausnahmen, Picasso, van Gogh usw, aber der Rest, der sich um sie schart ... nur unfaehige Eitelkeiten! Neulich hat mir ein Bekannter erzaehlt, wie das in der Kunstszene ablaeuft. Es gibt ein paar Galeriebesitzer und Kulturbuerokraten, die verteilen das Geld und entscheiden nach Gusto, was gute neue Kunst ist, und die Kuenstler muessen sich ihnen unterordnen, und diese Unterordnung ist genauso rigide wie in einer Fabrik, wo du dem Vorarbeiter gehorchen musst, oder noch schlimmer, weil du noch weniger Verlaesslichkeit hast, ob du dir die Geneigtheit deiner launischen Herrschaft erhaeltst; denn sie brauchen dich nicht, sie koennten leicht auf dich verzichten, du weisst es und sie wissen es, und es warten genug andere, deinen Part zu uebernehmen. Und daher habe ich von Scheinfreiheit gesprochen, denn so ergibt sich in der Kunst, wo die Freiheit die besten Moeglichkeiten haette, die allergroesste Unfreiheit." "Ich glaube nicht, dass es bei einem guten Kunstwerk darauf ankommt, unter welchen sozialen Bedingungen es entstanden ist", sagte Richard unbeeindruckt, "das Werk hat eine objektive Bedeutung, die ueber seinen Erzeuger hinausgeht, und man muss es losgeloest vom Kuenstler als Teil der objektiven Geschichte betrachten. Ich gehe sogar soweit zu sagen: da sie tief in unser Bewusstsein eindringt, kann Kunst die Geschichte beeinflussen, denn die Historie wird nicht nur von der Materie bestimmt, sondern auch von der Psychologie. Das mindeste ist, dass uns durch die Schoenheit eines Kunstwerkes Gluecksgefuehle vermittelt werden, und hier moechte ich die Schoenheit gegen dich verteidigen, und bleibe auch dabei, sie ist es (oder ist wenigstens Teil davon), die uns inspiriert und einen Hinweis gibt, was in der Welt vielleicht moeglich waere ... Gewiss, Schoenheit ist etwas Aeusserliches, die Umschreibung, Umhuellung eines wahren Kerns, oft laesst sie sich sogar recht einfach herstellen, sie muss nicht funktionieren, das ist richtig, nur eines wird von ihr verlangt, dass sie aesthetisches Empfinden in uns ausloest. Auch laesst sie sich nicht, wie was gut sei, aus einem einzigen uebergeordneten Prinzip ableiten. Von den vielen Idealen der Schoenheit ist keines vernunft- oder moral-bestimmt. Aber Kunst ist Form, das hast du immerhin bestaetigt, und bleibt ihrem Material notwendig aeusserlich, soweit wuerde ich dir recht geben, was aber widerum vermittelt ist, da die Kunst das Material benutzt, um den Aeusserlichkeiten einen Sinn zu geben, der eben ueber das Material hinausgeht. Und doch gibt es ein inhaltliches Universalis des Aesthetischen, welches in jedem Kunstwerk, in allem, was als schoen empfunden wird, enthalten ist, ohne sich allerdings daraus extrahieren zu lassen. Ein Bildnis, welches weniger aus sich selbst schoen ist als aus dem, was es darstellt, macht einen Schritt auf jenes abstrakt-schoene zu, verliert aber zugleich; denn vom Absoluten ist nach Voraussetzung im Dargestellten mehr enthalten. An die Stelle einfacher dialektischer Figuren tritt hier ein DIALEKTISCHES KONTINUUM, dessen Multidimensionalitaet die Bedeutung von Kunst ausmacht." "Ich verstehe dich nicht", sagte Martin, "deine Worte sind wie Nebelbomben, die meine Gedanken verwirren; mit dem Vorbewussten, und wohl auch Instinktmaessigen, welches die Kunst in uns ansprechen soll, kann ich nichts anfangen, denn sicher, Aesthetik spricht Gefuehle an, die unterhalb der Ratio liegen; aber das ist genau das Problem, ich glaube, darin liegt die grosse Luege; Und die Dialektik halte ich inzwischen sowieso fuer Humbug, nur Erstsemester und philosophische Amateure lassen sich von ihr beeindrucken. Ich schreibe gerade an einem Aufsatz, in dem ich zeige, dass man dialektische Wendungen ohne weiteres mit der gewoehnlichen Logik verstehen kann." "Fuer mich ist Dialektik kein logischer, sondern ein gesellschaftlicher Begriff." "Dann steht es mit dir schlimmer als ich dachte", sagte Martin, "solche Sprueche sind doch Vulgaermarxismus." "Lass mich bitte ausreden. Nehmen wir irgendein dialektisches Problem, aeh ... zum Beispiel die Frage, ob die Wahrheit dadurch sinnlos ist, dass die Menschen nichts mit ihr anzufangen wissen (seis weil sie nicht ihren Interessen entspricht oder weil sie ausserhalb ihres Wahrnehmungs- oder Erkenntnishorizontes liegt); mit anderen Worten die Frage: gibt es eine objektive, kosmische Wahrheit ausserhalb der menschlichen Bewusstseine? Dieses Problem ist dialektischer Natur; denn einerseits, wenn es niemanden gibt, der eine Wahrheit erkennt, ist sie bedeutungslos, aber andererseits gibt es sicher viele objektive und auch bedeutsame Tatsachen, die bisher nicht in unsere Gehirne gelangt sind. Das faengt bei bis dato unverstandenen Naturphaenomenen an und endet bei dem menschlichen Hang, das Fremde, Unbegreifliche auszusondern, zu benachteiligen oder gar umzubringen." "Das hoert sich schoen dialektisch an, aber nach meiner Meinung kommen solche Effekte einfach deshalb zustande, weil das menschliche Denken eine Fehlkonstruktion ist ... die sich natuerlich aus darwinistischen Zwaengen ergeben hat; ... aber nun ist der Geist da, und koennte zu den groessten Hoehenfluegen ansetzen, aber die Schlechtigkeit, die Raubtierhaftigkeit, die Steinzeit fesseln ihn an den Boden." Richard widersprach. Martin rede zu viel von den Menschen und zu wenig von der Gesellschaft. Und keiner mochte nachgeben, im Gegenteil, die Diskussion wurde immer hitziger gefuehrt, und zuletzt wurden keine Argumente, sondern nur noch Provokationen ausgetauscht. An einem bestimmten Punkt hielten sie inne (man soll mit seinem besten Freund nicht grundlos einen existentiellen Streit vom Zaun brechen) und waren froh, als Dieter wieder damit anfing, in welche Disko man gehen sollte. Freundschaft ist etwas seltsames, selten und kostbar; tut man zwei x-beliebige Menschen zusammen, so wird vielleicht ein Zweckbuendnis daraus, aber noch lange keine Freundschaft. Eine Freundschaft ist wie ein Resonanzboden, der sich in die erquicklichsten Schwingungen versetzen laesst, wie ein knallbunter, kuehlender Cocktail an einem heissen Hochsommertag; und ihre Freundschaft ging ueber das gewoehnliche Mass noch hinaus, sie waren wie Brueder, wie zwei Baeume, die in derselben Erde eintraechtig nebeneinander hochwuchsen, der eine etwas nach Westen, der andere nach Osten geneigt, zur gleichen Zeit Blaetter und Fruechte tragend, und nur allzu bald zusammen alt und knorrig werdend. Ihre dichten Kronen bildeten ein einziges gewaltiges Blaetterdach, durch welches nur gelegentlich feine Strahlen der Sonne auf den Boden gelangten. Und ihre Staemme waren ein Tor, eine Einladung, ein sich bestaendig erfuellendes Versprechen. Sie kamen wieder nach Schwabing, in den Lichtschein der vielen Laedchen und Bierkneipen, am Hauptkino des Constantin Verleihs vorbei, einem Flachbau mit grosszuegigem Innenhof, wie auf einer Hacienda, wo jeder neue Film immer zuerst gespielt wurde, und nur einmal, ehe er um die Welt ging; und bevor sie endgueltig in den Vergnuegungstempeln und Tanzpalaesten abtauchten, holte Martin einen Zettel aus der Tasche und einen Kugelschreiber und schlug versoehnlich vor, jeder, auch Dieter, solle einen Satz ueber die Kunst aufschreiben, reihum, und dann umknicken, man duerfe jeweils nur die letzte Zeile lesen, an der muesse man sich orientieren, so hatten sie als Kinder oft irre Geschichten gestrickt, doch diesmal kam, ueberraschenderweise, ein kohaerenter Text zustande: "Die Welt ist klar, wie kompliziert ihre Gesetze auch sein moegen. Alles Mysterioese kommt durch den Menschen. Man darf auch das Gegenteil behaupten. Der einzig realexistierende Mythos ist die Kunst. Kunst entsteht durch irrationale Umsetzung der Realitaet und generiert eine reale, emphatische Differenz zwischen Seiendem und Moeglichem. Kunst ist die Verwirklichung ihrer eigenen Utopie. Es gibt falsche und boesartige Mythen. Sie entstehen, wo dem Denken die Freiheit genommen wird und sind der Urgrund vieler Uebel. Mit ihnen kann die Wissenschaft fertigwerden; denn Die Wissenschaft hat ein mythologisches Fundament." Als sie fertig waren, sah sich Martin suchend um. Seine Augen fielen auf das grosse dunkle Gemaeuer zur Linken, die Pinakothek. "Das passt ja", rief er und fuehrte die Gefaehrten zur Suedseite, wo sie niemand beobachtete, weil nur selten Passanten vorbeikamen, und zu einem der hinteren Tore, und im halben Licht einer Laterne gelang es ihm irgendwie, den Zettel am Tuergriff zu befestigen. Das Tor war aus hellbraunem, feingeschnitzten Eichenholz und mindestens drei Meter hoch. Weiter oben befanden sich in regelmaessigen Abstaenden mehrere zugemauerte Fensterboegen. Er hob den Kopf, formte seine Haende zu einer offenen Muschel und bruellte: "Seht her, ihr eingemauerten Musen, das hier ist unsere Antwort auf all eure Fragen, auf alle Mythen und Mysterien der Welt." Dann lachte er irre und fuehrte einen seltsamen Tanz auf, eine Art Schuhplattler, der bei seinen Gefaehrten kein geringes Befremden ausloeste. "Was soll das", fragte sich Richard, "eben hat er noch den Sinn der Metaphysik bestritten, und jetzt fuehrt er hier so eine Art magisches Spektakel auf". Aber er hielt den Mund und liess ihn gewaehren, er ahnte ploetzlich, dass dieses Ritual nicht der Kunst, sondern ihrer Freundschaft galt. ------- Was ihnen in den Diskotheken begegnete, ist nicht erwaehnenswert, schoene Frauen gewiss, doch unerreichbar; soviel sie auch tanzten, sie blieben auf ihrer dreisamen Insel, und endlich hatte auch Dieter genug und trieb sie zum Aufbruch. So streiften sie durch die Nacht, im Geist weitere Listen des Dringlichen zusammenstellend (oder des Marginalen, je nach Charakter und Standpunkt), und langsam fand man sich in Schwabing zurecht und eh man sichs versah, daemmerte der Morgen, der Regen hatte aufgehoert und die Luft war klar wie an einem sonnigen Wintermorgen, trotz des noch immer verhangenen Himmels. Sie fuhren los, uebermuedet zwar, doch wild entschlossen. Leere Strassen, so war man schnell auf der Autobahn. Voralpenland. Dreispurig. Hinauf und Hinab. 800 ka-em noch. Selbst Wuerzburg war weit. Tannen. Der erste Frost hatte sich wie feiner Schnee ueber sie ausgebreitet. Jagdszenen aus Niederbayern, dachte Martin. Hinter Schweinfurt wurde die Welt gewaltig. Mittelgebirge, die alte Karre schaffte die Haenge kaum. Viele bogen nach Frankfurt ab, deutsches Herz und natuerliche Hauptstadt, dachte Dieter, und sagte schwaermerisch: "Eigentlich ist dies die Gegend, wo ich immer schon wohnen wollte, nicht Bayern. Hier gibt es die Rhoen, Spessart, Eiffel und Hunsrueck, und kleine Staedte in engen fruchtbaren Taelern, die sind wie Doerfer, mit einer unglaublichen, meisterhaften Fachwerkarchitektur, nicht der einfallslose 0-8-15-Stil, den man aus dem Norden oder Sueden kennt, wo die Bauernhoefe nichts als Scheunen mit eingelassenen Fensterbutzen sind. Das Stoehnen und Schleifen des Motors bei den Kasseler Bergen brachte sie von ihren Traeumereien in die Wirklichkeit zurueck; aber nur kurz. Als die Strasse ploetzlich steil bergauf fuehrte und eine fuer ihre fast 100 Ka-em-ha ziemlich enge Kurve sichtbar wurde, rief Richard begeistert: "Stell dir vor, da hinter der Kurve liegt ein tiefes weites Flusstal, und mitten in dem Tal steht ein hoher steiler Berg, der die Muendung des Flusses ins Meer zum Teil verdeckt, und auf dem Berg steht eine Burg und in der Burg ..." "Pass auf, hier wird oefters geblitzt", wollte Martin sagen, jedoch alle weitere Rede ging in dem lauten Roehren eines ungeduldigen 40-Tonners unter, der den Simca ueberholte. Er interessierte sich nicht fuer imaginaere Burgen und auch das sanfte Gesaeusel aus den Lautsprecherboxen ging ihm zum Teil auf die Nerven. Doch es war Richards Karre, da konnte man sich nur beschraenkt einmischen. Hinter Kassel wurde das Land wieder weitlaeufiger. Zuchtvolle Fichtenschonungen ersetzten vergilbende Laubwaelder. Umherschauend erkannten sie einander, dass sie Norddeutsche waren und gewannen die Sicherheit der Heimkehrenden. Ganz egal, dass der Wagen ploetzlich seltsam kraechzende, spuckende Laute von sich gab, als haette er sich schwer am Benzin verschluckt, und langsamer wurde und auf Bleifuss-antrieb kaum mehr zu reagieren schien - wenn sie mit der alten Scherbe hier liegenblieben, waer's nicht so schlimm wie unten in Bayern, wo sie keine Kontakte hatten und einen teuren Abschleppdienst bezahlen mussten. Und sie blieben tatsaechlich liegen, es war keine Einbildung, der Wagen wurde tatsaechlich langsamer, immer langsamer, und bevor er ausrollte und ganz stehenblieb, zog Richard ihn auf die Standspur. Er stieg aus und ging sinnend um das kantige unfoermige Blechdings herum, er hatte so eine Idee, woran es liegen konnte, und krempelte die Hemdsaermel hoch und bueckte sich und sah unter dem Boden ein Stueck abgerissenen Draht haengen, und hoffte, dass sein Verdacht sich bestaetigen wuerde, denn das liess sich so reparieren, und sie wuerden gleich weiterfahren koennen, ja, da vorn war die andere Haelfte, wenn er sich anstrengte und unter den Boden kroch, konnte er die Enden vielleicht zusammenbiegen. Er musste sich duenn machen, ganz geheuer war ihm nicht dabei, so tief unter die alte Muehle zu kriechen, aber eigentlich war nichts zu befuerchten. Er verdrillte die Draehte ineinander, bis ihm die Finger wehtaten, kroch aus den Eingeweiden wieder hervor, klatschte den Schmutz mit der Hand von den Kleidern, und dann liess er den Motor an, der roehrte wie wild, der Zugdraht war viel zu kurz jetzt, und die ratlosen Freunde staunten nicht schlecht, wie schnell sich ein Auto reparieren liess. Und mit durchdrehendem Motor fuhren sie weiter, erst mal auf den naechsten Rastplatz, noch mal nachsehen und abchecken, ob man so ueberhaupt bis Hamburg kommen konnte, und ein bisschen verschnaufen. Sie standen an den Simca gelehnt, und meditierten muede ueber das Gelaende. Vorbeischleichende Autos nebelten sie mit suesslichen Benzindaempfen ein, schnauzbaertige Geschaeftleute und Mamis und Papis bruellender oder eisschleckender Kleinkinder schreckten sie immer wieder hoch. Neben ihnen kamen zwei dicke Daimler zum stehen, denen acht aufgedonnerte, teils drahtige, teils bierbaeuchige Typen entstiegen, Ende 30 vielleicht, lautstark und allesamt Norddeutsche, mit bayrischen Jankern und Filzhueten verkleidet, Oktoberfest, die ganze lange Reise fuer allzu viel Stimmung und Bier, Oktoberfest, das die Freunde gemieden hatten, Oktoberfest, dem niemand entkam. Sie holten Klappstuehle und bis zum Rand mit Bierdosen befuellte Kuehlboxen aus den Tiefen der Kofferraeume, und setzten sich damit um ein Tischchen, unter den mager-silbrigen Herbstsonnenhimmel. Drei begannen gleich, auf einem Pappkarton Skat zu dreschen. Ein Vierter raeusperte sich, und alle blickten erwartungsfroh auf, er schien der Entertainer und immer fuer einen Witz gut, und fragte nach dem Unterschied zwischen einer Frau und einem Einkaufstasche? Erwartungsvoll-blanke Gesichter. "Die Tasche stoehnt nicht, wenn man eine Gurke reinsteckt!" Und das loeste endgueltig ihre Zungen, so dass sie unbeeindruckt von unseren mithoerenden Helden ihren vertrauten Umgang palaverten; unappetitliche Stereotypen aus dem Lehrbuch gegen die patriarchalische Gesellschaft. "Der Junge meiner Frau aus erster Ehe wird immer bockiger, mit dem iss kaum noch fertig zu werden. Neulich wollte er ausgehen; und ich sach zu ihm, um 12 biste aber zurueck, spaetestens, da giftet er mich gleich an: 'Du hast mir gar nichts zu befehlen; ich komme heim, wann es mir passt'. Habbich geantwortet, so, wolln doch mal sehen, wenn du um 12 nich zurueck bist, wirst dus erleben, und hab ihm mit ner Tracht Pruegel gedroht, aber da isser noch frecher geworden, 'dann zeig ich dich an', hatter gesagt, denn du bist nicht mein Vormund, und wenn ich erst im Internat bin, bin ich sowieso weg, und ihr koennt mir gar nichts mehr, und hinterher bin ich 18 und fertig mit euch.' Und so ging das weiter, und wir haetten uns fast gepruegelt, wenn seine Mutter nich dazwischengegangen waer, es ist unglaublich mit ihm." "He, sach mal, du hass doch erzaehlt, dass du dem sei Internat auch noch zahlen solls ..." "So isses, sein Vadder, der hat keine Reserven, das iss auch son Penner, frueher mal Manager, bei Karstadt, aber dann isser abgestuerzt, irgendwas Psychisches, er liess keinen mehr an sich ran, sagt meine Frau, hat sich total abgeschottet, sitzt inner Anstalt getz, naja. Jedenfalls, sie hat mich um den Zaster gebeten, und ich hab ja gesagt, weil im Moment isses das beste fuer alle Beteiligten, und ich kann es verschmerzen, die Geschaefte laufen ganz gut." "He du Ralf, du haetts die Mudder aufm Oktoberfest man ruhig ansprechen sollen", rief jemand dazwischen. "Wie die dich angehimmelt hat!" "Tscha, wenn meine Alde nich zu Haus waer ..., aber du weisst ja, ich bin schuechtern und treu." "Hastu uebrigens verstanden, was Sie macht? Hat die ganze Zeit geredet wie eine Buch und was von Massagesalon erzaehlt." "Ach komm, Jochen, hoer auf, 'Massagesalon', du wills mich verkohlen? Die war Friseuse mit nem Frisierladen, ganz nomal und serioes." "Meine Freundin hat auch son Rotzloeffel. Aber da misch ich mich gar nich ein, das interessiert mich einfach nicht, die soll ihren Bengel erziehen wie es ihr passt." "Jetzt faellt mir noch einer ein. Ein Anatomieprofessor fragt die Studentin: 'Welcher menschliche Koerperteil weitet sich bei Erregung um das Achtfache?' Sie wird rot und faengt an zu stottern: 'Der ..., das ..." Und wisst ihr, was der Professor daraufhin sagt? 'Falsch, die Pupille. Und Ihnen, gnaediges Fraeulein, wuerde ich raten, nicht mit zu hohen Erwartungen in die Ehe zu gehen.'" ------- Sie fanden es ganz erheiternd, sich sowas mal anzuhoeren, damit man wusste, wie in der Erwachsenenwelt die Musik spielte, oder wie man sein Leben moeglichst nicht gestalten sollte; aber nach einer halben Stunde, als sich die Klagen im Kreis zu drehen und die Witze zu wiederholen begannen, hatten sie mehr als genug davon. Sie setzten sich in den Wagen und fuhren davon, und wurden uebrigens spaeter von den mit doppelter Geschwindigkeit vorbeibretternden Benzen ueberholt. Die wahrhaft wichtigen Dinge lernt man sowieso nicht durch Zuhoeren. Sie wuerden nie begreifen, dass man sein Leben nicht mit kritischen oder komplizierten Gedanken beschweren soll (ausser um technische Probleme zu loesen), weil naemlich fuer oekonomischen Erfolg und selbst fuer gesellschaftlichen Aufstieg oder eine brilliante Karriere ein Vorrat weniger grober Denk- und Verhaltens-schablonen voellig genuegen, "der eine ist ein guter Sportsmann, mit dem anderen kannst du Pferde stehlen, wenn du dem einen Auftrag zu 30 Prozent gibst, macht er den Rest schwarz fuer dich", und eine vollkommene ausreichende Landkarte darstellen, um in jener Welt erfolgreich zu manoevrieren, alles andere waere nur hinderlich. Denn der Weg zum Erfolg fuehrt durch ein eintoeniges, trostloses und banales Beton-universum, mit gleichfoermigen Strassen und gleichfoermigen Haeusern, wo gleichfoermige Wesen einher gehen, die von der Vielfalt des Lebens keinerlei Kenntnis besitzen. Und hinter Hannover verflachte das Land, und die Fichtenwaelder wurden zu schweren duesteren Massen in der Dunkelheit; da wussten sie, sie waren bald da. "Lasst uns nach Tengern ruebermachen, schauen was los ist", sagte Richard unternehmungslustig. Er fuehlte sich ploetzlich gar nicht mehr muede. Also bogen sie bei Buchholz von der Autobahn und fuhren in Tengern an ihren Elternhaeusern vorbei, direkt in die Tiefgarage beim Marktplatz. Im letzten Grau hing truebe der Himmel, es hatte geregnet. Die Lichter der Schaufenster spiegelten sich in den Pfuetzen. Im einzigen Kino warb ein Kung-Fu-Film um Zuschauer. Sie fuehlten sich stark wie der King, wie Caesar, der seine Provinzen besucht. So eroberten sie, zum x-ten Mal und in weniger als einem Augenblick, die Schauplaetze ihrer Kindheit und Jugend. Sie strotzten vor Selbstbewusstsein, sie kannten hier jede Filzlaus, sie streunten an alten Laden- und Fachwerk-bauten vorbei durch die Innenstadt und erschreckten mit Laerm und Uebermut manchen Passanten, der sich nur eben ganz unschuldig an den hellen, vorweihnachtlich geschmueckten Schaufenstern freuen wollte, in denen massenhaft Waren von sattem Wohlstand zeugten. Sie kamen zu einem Rondell, das nach rechts auf den Eingang eines piekfeinen Restaurants fuehrte. Martin stolperte fast ueber die teuren Klinker, mit denen der Halbkreis ausgelegt war. Da fiel ihr Blick auf ein Paar, das beschwingt aus dem Gasthof kam. Der Mann hielt sein Jackett in der einen Hand, und mit der andern die Huefte der Frau, die sich nun von ihm loeste. Sie war unglaublich, jung und schoen, tolle Figur, volles, schulterlanges Haar und so weiter; und waehrend sie sie aus den Augenwinkeln verfolgten, schlenderte das Paar zu dem silbernen Porsche, der vorn links am Bordstein stand. Die kurze Szene daempfte ihr Reden und Lachen, und viel verhaltener setzten sie sich in den i-Punkt, wo der Wirt gewechselt hatte und von den Gaesten keiner sie kannte, ausser im hintersten Winkel, da kroch Freddy hervor, der vor Urzeiten die Schule geschmissen hatte und tagsueber in irgendeinem Laden zur Aushilfe arbeitete, ja Freddy, aber alle markanten Gestalten, alle Persoenlichkeiten, wie man so sagt, aus der alten Tengerner Szene waren verschwunden, wie vom Winde verweht. So wenigstens schien es ihnen, sie zogen nicht in Betracht, dass ihren Altersgenossen die Lust vergangen sein koennte, alle Tage im i-Punkt herumzuhaengen und auf die hohen Herren aus Hamburg zu warten, die hereinzuschneien beliebten oder auch nicht; und allein dieser Gegensatz zu frueher, wo sie in Pulks um die Theke gesessen und sich den Schuelerfrust von der Seele gesoffen hatten, und noch der Porschefahrer, und die Muedigkeit, denn Muedigkeit steigert gute Stimmung ins Euphorische, schlechte hingegen ins Depressive, liessen ihre Laune kippen, so dass sie dem Staedtchen, in dessen Mauern sie sich einst so geborgen gefuehlt, so schnell wie moeglich entflohen, um der mentalen Sicherheit des Simca sich anzuvertrauen. Schlag Mitternacht waren sie wieder auf der Autobahn. Richard konzentrierte sich aufs Fahren, Martin drehte am Radio und versuchte, einen vernuenftigen Sender zu finden, und Dieter lag auf dem Ruecksitz, kaute an der Unterlippe und starrte muede nach oben. Irgendwann richtete er sich wieder auf und fragte: "Sag mal, Martin, kann ich bei euch uebernachten? In meine alte WG moechte ich ungern ..." "Schon klar, kein Problem", sagte Martin nach kurzem Zoegern, "wir werden dich schon unterbringen", und Richard raetselte, warum Dieter nicht IHN gefragt hatte, in der Klopstockterasse war nun wirklich genug Platz, waehrend sie es in der Stresemannstrasse ziemlich eng hatten. Halb drei passierten sie den Elbtunnel und zweigten nach Ottensen ab. Es regnete. Sie fuhren durch menschenleere, von Quecksilberlampen taghell erleuchtete Strassen. "Als waere die Oelkrise schon vergessen", dachte Martin. "Ich glaub, die Max-Brauer-Allee iss noch gesperrt, ich fahr lieber aussen rum und setz euch beim Holstenbahnhof ab, dann brauch ich nicht zu drehen", sagte Richard. - Punkt drei parkte er den Wagen in der Klopstockterasse. Er stieg aus. Das Haus erhob sich wie ein dunkler Fels gegen das schwache Leuchten des Grosstadthimmels, links verschwamm das Gebuesch, aus dem er Dagmar damals herausgeholt hatte, mit den dahinterliegenden Haeuserruecken. Er musste sie unbedingt morgen anrufen. Es regnete immer staerker. Eine weisse Katze fluechtete aus dem Vorgarten, und ihm war, als ob sich weiter hinten beim Uferweg ein grosser Schatten bewegte. Ploetzlich fuehlte er sich unheimlich und zoegerte, die Tuer aufzuschliessen. Dann sagte er sich, wovor Angst haben, er war schon oft spaetnachts heimgekommen und hatte noch nie Angst gehabt, offenbar war heute niemand daheim, Werner uebers Wochenende zu seinen Eltern gefahren und alle anderen ausgezogen; warum nicht voellig unbekuemmert nach oben gehen und sich ins Bett legen? Er schloss die Tuer auf. Als naechstes waere er fast ueber ein grosses Metallding gestolpert, das irgendein Trottel mitten in den Flur gestellt hatte. Was war das? - Koennte Werners Stehlampe sein. Aber wie kam die Stehlampe hierher? Anscheinend war der Schirm eingerissen. Er tastete nach dem Lichtschalter, doch alles blieb dunkel. Auch das noch! Langsam tappte er zur Treppe vor. Jetzt ganz ruhig, er hatte alles unter Kontrolle, irgendwie wuerde er schon in sein Zimmer kommen. Wahrscheinlich war nur der Strom ausgefallen; oder die E-Werke hatten sich von der SAGA anstiften lassen, ihn ganz abzudrehen, das war auch eine Moeglichkeit. Als er sich vorsichtig voranbewegte, beruehrte er etwas unbekanntes, pelziges, das er nicht identifizieren konnte. Schnell zog er die Hand zurueck und entschloss sich, ganz still stehen zu bleiben. Aus dem Keller kam ein seltsames Geraeusch und irgendetwas in seinem Innern begann zu zittern, und dieses Zittern setzte sich zur Oberflaeche seines Koerpers fort wie bei einem Erdbeben. Er wusste, dass er ein Feigling war und so schnell wie moeglich abhauen musste. Mit drei energischen Schritten sprang er zurueck zur Haustuer, die Vortreppe herunter und lief so schnell er konnte auf die helle Laterne an der Elbchaussee zu. Nur weg hier, und es war ihm egal, dass er nass wurde. Er wuerde Martin fragen, ob er in der Stresemannstrasse uebernachten konnte und morgen bei Tageslicht nach dem rechten sehn. ------- Er schlief tief in den Morgen hinein und kam erst vormittags in die Klopstockterasse zurueck. Noch ehe er aufschloss, erkannte er durch die schmalen Scheiben der Haustuer das Ausmass der Verwuestung. Anscheinend waren uebers Wochenende Wandalen eingedrungen und hatten das unterste zu oberst gekehrt. Ein grosser Teil seiner Klamotten und der Einrichtung war in den Fluren zu Scheiterhaufen aufgeschichtet. Tapetenfetzen hingen von der Wand. Im Treppenhaus schwebten aus ihren Verstrebungen gerissene Teile des Gusseisengelaenders wie gefolterte Marionetten in der Luft. Der Teppichboden im Flur, den sie erst letztes Jahr neu verlegt hatten, war in der Laenge aufgeschlitzt. Im Bad waren die Spiegel zerschmettert und Waschbecken und mehrere Fliessen gesprungen. Ueberall stank es bestialisch nach Bier und Urin. In seinem Zimmer war der Kachelofen umgeworfen und in zwei Haelften zersprungen. Alle Schrank- und Schreibtischtueren standen offen, und auf dem Boden lag im Zentrum eines riesigen blauen Fleckes ein ausgelaufenes Tintenfass. Und ueber allem eine Schicht von Bier- und Schnapsflaschen und Zigarettenkippen. Geile Baadi. Das waren keine normalen Einbrecher, die systematisch nach Wertsachen gesucht hatten; er konnte sich aber auch nicht vorstellen, dass die Stadt zu solchen Methoden griff, um die WG herauszuekeln. Wahrscheinlich eine Horde betrunkener Aggressivlinge, die einen Platz zum feiern gesucht und ihr Muetchen gekuehlt hatten, als sie sahen, dass keiner im Haus war. Er rief bei Werner und danach notgedrungen bei der Polizei an. Die Ordnungshueter waren so hoeflich und nichtssagend, wie man es erwartete. Sie nahmen die Szenerie nur oberflaechlich in Augenschein und wiesen ihn an, eine vollstaendige Liste aller gestohlenen Gegenstaende anzufertigen. Viel Hoffnung brauche er sich nicht zu machen, es habe in letzter Zeit so viele Einbrueche gegeben, dass sie mit der Verfolgung nicht nachkaemen. Aber vielleicht, wer weiss, tauchte beim Hehler irgendwas auf, und dann sei es gut, solche Listen zu haben. "Jaja", sagte Richard geduldig, "aber viel gestohlen ist eigentlich nicht, es geht hauptsaechlich um das Chaos und die Zerstoerung." "Da muessen Sie sich an Ihre Versicherung wenden", sagten die Beamten. "Welche Versicherung", fragte er aergerlich, aber sie waren viel zu beschaeftigt, ihre Verbrechensbekaempfungstaschen zusammenzupacken, und waren verschwunden, eh er bis drei zaehlen konnte. Ein paar Stunden spaeter kam Werner zurueck, er hatte bei seinen Eltern alles stehen und liegen lassen und war sofort losgefahren. "Lass uns so schnell wie moeglich wegziehen", sagte Richard, "ich fuehle mich hier nicht mehr wohl." Werner griff mit der Hand in den Muellhaufen, der einmal seine Einrichtung gewesen war, und zog den Buchdeckel von Hegels Phaenomenologie des Geistes hervor. "Mann, das wird dauern, bis wir hier klar Schiff gemacht haben", sagte er. "In derselben Zeit koennen wir genauso die Sternschanze renovieren."