1.Mai 1976 Richard war auf dem Weg zur Seefahrtsschule, oder 'Hochschule fuer Schiffahrt', wie sie sich grosspurig nannte. Er hatte es vorgestern schonmal versucht, den Rektor jedoch nicht angetroffen. Zwischen 9 und 10 sei er heute wahrscheinlich zu sprechen, hatte ihn die Sekretaerin beschieden. Ja-genau, trotz erstem Mai, man habe den Tag nachzuarbeiten. Er hatte sich mit der Auskunft zufrieden gegeben, denn es war nur ein Katzensprung, von der Klopstockterasse liess sich die Schule in 2 Minuten erreichen. Als er auf dem schmalen Fussweg herueberschlenderte, kam ihm das Gebaeude riesig vor, wie ein gestrandeter weisser Wal lag es ueber der Elbe. Haupteingang und oestliche Fassade waren verklinkert und machten einen ebenso biederen Eindruck wie die umliegenden Mietshaeuser; nach Sueden aber, zur Flusseite hin, war es hellweiss gestrichen und lief in mehreren grosszuegigen Terassen auf einen First voller Funkantennen und rotierender Radarscheiben zu, als uebe es Herrschaftskontrolle ueber das gesamte Hamburger Hafenbecken aus. - Ein Trugschluss, hier trainierten nur einige dilettierende Professoren mit unerfahrenen Studenten die Grundlagen der Nautik. Das Innere besass den Charme einer Krankenhauskantine, die Tueren waren in hell-kack-farbenem Ocker lackiert, und die Flure farbstimmig mit finsterbraunen Fliesen ausgelegt, alles vor langer Zeit vom Gruendungspraesidenten persoenlich ausgesucht, haltbar und pflegeleicht, keine Chance, es in den naechsten 50 Jahren loszuwerden. An der Tuer des Direktors hing ein grosses Schild "Bitte beim Sekretariat anmelden". Die Sekretaerin, Frau Wollenhuber, war eine kleine energische Dame und mit ihren Aufgaben voellig unterfordert. "Warten Sie einen Moment, ich werde fragen, ob Professor Katzmazik sie vorlaesst", sagte sie freundlich, als Richard um 9 Uhr 2 in ihr Buero trat, wobei sie die zweite Silbe des Namens sonderbar lang zog, was diesem eine irgendwie alberne Note gab. Ein paar Augenblicke stand er allein in dem penibel ordentlichen Vorzimmer herum, uebersichtlich stapelten sich die Akten in den Ablagen und sogar die Blumen am Fenster waren wie an einer Schnur aufgereiht, dann kam sie zurueck, wobei sie behutsam zuerst den hinteren und dann den vorderen Teil der kunstoffbeschlagenen Doppeltuer schloss. "Der Chef ist gerade erst gekommen, er bittet sie, ein paar Minuten zu warten, er muss vorher ein wichtiges Telefongespraech fuehren. Sie koennen sich solange im Korridor auf die Bank setzen, sehen sie hier", wobei sie ihm zielstrebig den Weg wies, "ich werde Ihnen Bescheid sagen", und Richard blieb keine Wahl als sich in Geduld zu ueben. Im Flur herrschte Stille - nur gelegentlich schlugen Tueren irgendwo in den Eingeweiden der Schule, die wie Echos von fernen Gewehrsalven an sein Ohr drangen. Er wartete 10 Minuten und meinte damit, dem Direktor genuegend Vorlauf fuer sein Telefonat gegeben zu haben. Dann wurde er ungeduldig, er wollte nicht zu spaet zur Demo kommen. Er lag aber mit seiner Schaetzung voellig daneben; denn erstens fuehren manche Menschen, und besonders Rektoren, die wichtigsten Unterredungen am Telefon, ausserdem handelte es sich nicht um ein, sondern mindestens um zwei Telefonate, und das zweite wuerde ein drittes nach sich ziehen - da eine neue und bedeutsame oder fuer bedeutsam erachtete Information unbedingt noch mit dem Staatsrat besprochen werden musste - und drittens darf man sich bei wichtigen Unterredungen keinesfalls kurzfassen, das weiss doch jeder. Als er also eine halbe Stunde spaeter entnervt aufs neue bei der Sekretaerin anklopfte, konnte Sie ihm nichts anderes sagen als "Prof. Katzmazik telefoniert leider noch", wobei sie die zweite Silbe wiederum laecherlich lang zog (aber wahrscheinlich war das nur eine dumme Angewohnheit) und erst als er nach weiteren 20 Minuten schon ueberlegte, das Weite zu suchen (denn um 10, das wusste er bereits, stand eine Konferenz auf des Rektors Terminplan), oeffnete sich endlich von selber die Tuer und er wurde hereingebeten. "Guten Tag, ach Sie sind das", empfing ihn Katzmazik, als waeren sie sich schon oft ueber den Weg gelaufen, anscheinend hielt er ihn fuer einen Seefahrtstudenten. Er war ebenso klein, wenn auch fuelliger und gemuetlicher, als seine Sekretaerin, hatte buschige Augenbrauen und seine beste Zeit bereits hinter sich. Aber er wusste immer noch ganz gut, wie man sich in Positur bringt, damit junge Leute einen fuer den Erben des Universums halten. An der Wand hing ein grosses Foto des ersten Buergermeisters, rechts stand ein runder Tisch, Modell Eiche Natur, und dahinter in einer Vitrine ein aufwendiges Holzmodell der Gorch Fock. Der Schreibtisch war mit Akten, Briefen und Formularen uebersaet; mittendrin ein betagtes schwarzes Monstrum von Telefon, mehr noch, eine komplette, vollfunktionsfaehige Telefonanlage wars und fuer Katzmazik das Tor zur Welt, mit dem er besser umzugehen verstand als mit allen sonstigen Geraetschaften seiner Anstalt. Er habe gehoert, die Seefahrtschule stelle ihre Aula gelegentlich fuer oeffentliche Veranstaltungen zur Verfuegung, begann Richard schuechtern. In Ottensen kuendigten sich gravierende Veraenderungen beim Mietwohnungsbau an, er, Richard, sei Vertreter der oertlichen Mieterinitiave, die die Bevoelkerung auf einer Podiumsdiskussion ueber die Vorhaben der staedtischen Verwaltung und Wohnungsbaugesellschaft informieren wolle. Warum die Verwaltung das nicht selbst uebernehme, wollte der Professor wissen, worauf Richard erwiderte, dass erstens und bekanntermassen Behoerden den Buergern nur ein Minimum an Informationen zukommen lassen, und zweitens auch nur den direkt betroffenen Buergern, alle anderen Ottenser wuerden jene Veraenderungen gar nicht zur Wahrnehmung gebracht, hier muesse demnach die Mieterinitiave einspringen und fuer die Verbreitung der Informationen sorgen. "Ich zum Beispiel", sagte er mitleidheischend, "bin auch betroffen. Ich wohne in einem Haus, welches demnaechst verkauft werden soll, und wenn die neuen Besitzer Eigenbedarf anmelden, werde ich ausziehen muessen, ohne zu wissen, wohin". Bei dem derzeitigen Wohnungsmangel sei es sehr unwahrscheinlich, dass er etwas finden wuerde. Dabei habe er sich so gut in dem Viertel eingelebt, geradezu verwurzelt sei er hier. "Ja, ja, schon gut", sagte Katzmazik. Der junge Mensch mit dem langen Haar und unsteten Blick schien ihm nicht voellig vertrauenswuerdig. Er stand kurz davor, alles rigoros abzulehnen. 'Mieterinitiative', das war doch eine private, mindestens ausserbehoerdliche oder sogar ausserparlamentarische Organisation. Er wollte seine Hochschule auf keinen Fall ins Gerede bringen, indem er sie zum Schauplatz lautstarker Streitigkeiten machte; es gab immer Situationen, in denen man auf das Wohlwollen der Stadtverwaltung angewiesen war. Da trat Frau Wollenhuber hinzu, die durch die offene Tuer mitgehoert hatte, und wies eigenmaechtig darauf hin, schon oefters haetten nichtstaatliche Organisationen in der Aula getagt, die Gefluegelzuechter, die Turner und die Sternfreunde eV (und Richard ergaenzte mit lieblicher Stimme und Schmalzdackelblick, ehrlich, es sei nichts zu befuerchten, es solle nur die Oeffentlichkeit ueber den Planungsstand fuer die Sanierung der Klopstockterasse und der angrenzenden Strassen informiert werden, das sei eine gewissermassen gesetzliche Notwendigkeit), und da setzte ein Umschwung in der Haltung des Rektors ein, denn er entnahm ihrem Tonfall, dass sie Richard fuer harmlos hielt. Es klopfte; eine untergebene Lehrkraft steckte den Kopf herein und sagte erschrocken: "Hans, ich wollte nur sagen, der Ausschuss hat sich versammelt." Dem Rektor war jedoch eine Erleuchtung gekommen, wie er sich alle Schwierigkeiten vom Leib halten konnte. "Sagen Sie, ich komme in 2 Minuten", wimmelte er den Kollegen ab und wandte sich wieder an Richard: "Also, junger Mann", sagte er listig, "ich bin grundsaetzlich bereit, ihnen zu helfen. Unter einer Voraussetzung: ich moechte nicht, dass die Veranstaltung einen einseitigen Charakter annimmt, das kann auch nicht in ihrem Sinne sein, und daher bestehe ich darauf, dass ausser der Mieterinitiative auch Vertreter der Stadt und der Wohnbaugesellschaft auf dem Podium sitzen, ich glaube, das ist nicht zuviel verlangt. - Vielleicht hatten Sie das ja sowieso geplant? ... Nein?" Und bevor Richard seinen Einspruch formulieren konnte, sagte er schnell: "Also, das ist meine Bedingung, dann bekommen sie die Erlaubnis, anders geht es leider nicht. Denken sie darueber nach und teilen Sie Ihre Entscheidung Frau Wollenhuber mit. Mit ihr koennen Sie auch den Termin vereinbaren. Sie wird dann den Hausmeister informieren." Und mit diesen Worten hielt er dem verdutzten Bittsteller die Hand hin und verschwand durch die Tuer. Er war doch der Erbe des Universums! Richard war ueber diese Entwicklung nicht begeistert, so aufmunternd ihm die Sekretaerin auch zulaechelte. Nach dem, was Karsten herumerzaehlte, hatte er es fuer ein Kinderspiel gehalten, an die Aula heranzukommen. Aber nun war ueberhaupt nicht klar, ob man mit diesen Vorgaben leben konnte, ob die Leute von der Initiave sich derart in die Organisation ihrer Veranstaltung hineinreden liessen; und ob man jemanden von der Stadt bewegen konnte, unter Leitung der Mieterinitiative, also gewissermassen auf 'feindlichem' Territorium eine Vorstellung zu geben, stand in den Sternen. Diese Sorgen verfolgten ihn bis zum Baecker, wo er sich anstellte, um Broetchen zu holen, und liessen ihn erst wieder los, als er zurueck auf die Strasse trat. Die Sonne schien, das ganze Viertel war in blendendhelles Fruehlingslicht getaucht, und Richard musste grinsen - wenn in Hamburg mal die Sonne eine halbe Stunde zwischen Wolken vorkommt, faellt es erstens schwer, ernst und bei schlechten Gedanken zu bleiben. Zweitens fiel ihm der alte Mann auf, der verhielt gegenueber von Fritz Fick Feinkost Fettwaren (so stand tatsaechlich in grossen Lettern ueber dem Laden, und steht vielleicht heute noch), mit verwegenem Kaeppchen im spruehenden Morgenlicht. Schien zu tanzen wie um die Sonne, in flackerndem Morgenlicht. Sein Schweigen deuchte ihn ploetzlich das wahre Leben. Stuetzte sich schwer auf den Gehstock ertrug so die Welt. Blickte den Frauen grad ins Gesicht, doch leider, er stellte die richtigen Fragen nicht. Hoffentlich wuerde das gute Wetter waehrend der Kundgebung anhalten. ------- Sie waren an einer Litfasssaeule beim Mittelweg mit den Leuten von der Stresemannstrasse verabredet. Den Start der Demo um acht hatten sie lange verpasst, doch man wusste, die Abschlusskundgebung war um eins vor dem Gewerkschaftshaus, und der Zug wuerde gegen zwoelf die Aussenalster passieren und von dort in die Innenstadt abbiegen. Sie (d.h. Ali, Richard und Werner) hatten beim Fruehstueck getroedelt und kamen 20 Minuten zu spaet, die Anderen warteten schon, Laura und Kalle, Martin, Ellen und Britta, und sogar Otto mit seiner neuen Flamme und deren Bekannte. Von der Demo war weit und breit nichts zu sehen, ausser dass am Ufer der Alster, wohin man sich nun bewegte, Dutzende gruenglaenzende Mannschaftswagen parkten. Davon unbeeindruckt zogen sie weiter, in Richtung wo sie den Umzug erwarteten. Richard genoss das schoene Wetter, die Alster strahlte in hellstem Blau wie ein riesiger Edelstein, die Pflanzen zeigten das erste Gruen, genoss auch den troestlichen Zusammenhalt der Gruppe, Martin, der beste Freund, Laura im Mittelpunkt, wie meist, Otto mit weitbauschendem Cape und den beiden Frauen, die ihn umwehten. "So'n schoenen ersten Mai hatten wir lange nicht, echt." "Ja, ich bin hier schon oefter mitgezogen, und jedesmal hats geregnet - oder mindestens grauer Himmel." "Ein Jahr bin ich total nass geworden, und durch das Rumstehen auf der Kundgebung hab ich mir ne Lungenentzuendung geholt." "Wir muessten es endlich mal schaffen, rechtzeitig aufzustehen und von Anfang an dabei sein." "Wie soll Otto das je hinkriegen?" "Ach hoer auf, wenn ich Taxi fahre oder Saxophon uebe, stehe ich frueher auf als ihr alle zusammen." "Wisst ihr noch, letztes Jahr in Juetland, wie wir Anfang Maerz Urlaub gemacht haben, weil die Ferienwohnung so billig zu haben war, und dann hat es die ganze Zeit geschuettet, und wir hauptsaechlich Karten gespielt." "Echt aetzend, man konnte nur in Oelzeug raus." "Nach Daenemark kannst du nur im Hochsommer fahren, und selbst dann hast du keine Garantie fuer schoenes Wetter." "Dieter ist heuer zum ersten Mal nicht dabei, ist schon irgendwo traurig, findet ihr nicht." "Guenter ja auch nicht. Er verabredet sich lieber mit seinen Kumpeln. Man nimmt ihn sowieso kaum noch wahr, frueher hat er viel oefter mit uns was gemacht." "Ja wirklich, irgendwo traurig, wie manches auseinanderlaeuft." "Er wollte doch sowieso ausziehen." "Stimmt", sagte Otto. "Obwohl er sich in letzter Zeit nicht mehr dazu aeussert. Waer aber nicht weiter schlimm. Eine Bekannte von Gabi wuerde gern bei uns einziehen, sie wartet sozusagen schon auf das Zimmer, ich glaube, sie heisst auch Gabi, und dann bin ich endgueltig von Gabis umzingelt." Die Bemerkung war an seine Freundin gerichtet, die ihm mit dem Ellbogen in die Seite stiess. "Nein, heisst sie nicht, und das weisst du auch ganz genau." "Gib zu, in der Lippmannstrasse treiben sich neuerdings jede Menge Gabis herum, man kann dabei ganz schoen durcheinanderkommen." Diesmal blickte er die Bekannte an, die ihm darauf gleichfalls in die Rippen stiess. Richard fand beide Gabis recht interessant, wenn die andere auch keine so blendende Blondine wie Ottos Freundin war. Sie schienen jedoch mit Otto voll ausgelastet, jedenfalls kuemmerten sie sich, von der Begruessung abgesehen, waehrend der ganzen Demo keinen Deut um die Anderen. "Wie gehts Dieter eigentlich?" fragte Ali. "Habt ihr noch was von ihm gehoert?" "Ja, ich habe mit ihm telefoniert", sagte Laura. "Der Maerz war wohl ziemlich schlimm, er hing noch total durch, seine neue WG hat zwar versucht, ihn aufzuheitern, aber nur mit maessigem Erfolg. Im Moment kommt er allerdings nicht dazu, viel ueber Britta nachzudenken, die Aussaat muss vorbereitet werden, einiges hat er auch schon eingesetzt, Salate und so, ich weiss nicht genau, und dann im Juni, meint er, wird es voll mit dem Jaeten losgehen, denn dann kommt das Unkraut mit Macht, und sie haben keine Maschinen und setzen auch keine Chemie ein. Und als er mir das erzaehlte, merkte ich, es geht ihm besser, er hat wieder was, woran er sich orientieren kann, und ist dabei, die Enttaeuschung mit Britta hinter sich zu lassen." "Au Scheisse!" kraehte Richard ploetzlich. "Aaaaaah." Er war in Gedanken ganz woanders gewesen und hatte die beinlange Stange, die Autos hindern sollte, auf dem Spazierweg zu parken, glatt uebersehen. Es war ein irrer Schmerz, der sein Bewusstsein zu zerreissen drohte, einer von denen, die man sein Leben lang nicht vergisst, auch wenn sie zum Glueck relativ schnell nachlassen. "He, was ist los?" "Er ist gegen die Stange gelaufen." "Und voll in die Eier. Au weia, das tut weh." Typisch Ingenieur, dachte Otto, waehrend er ihm auf die Beine half. ------- Sie hoerten die Demo naeherkommen. Zuerst war es nur ein leises Rauschen, welches sich allmaehlich in Pfeifen, Musik, Stimmengewirr und Lautsprecherdurchsagen aufloeste, und dann sah man sie endlich hinter einer Biegung des Harvestehuder Weges auftauchen. Ganz vorn die traditionellen Gewerkschafter; waren nicht viele, dem DGB gingen die Arbeiter aus. Eine, nur eine Reihe IG-Metall, Maenner mit gestutzten Baerten, und Baeuchen und roten Schutzhelmen oder Schiebermuetzen, davor die IG-Chemie, die IG-Druck war staerker vertreten, neue Technologien bedrohten das Druckergewerbe; und die BauSteineErden fuehrte diesmal den Zug mit zwei Dutzend Leuten an. Ob sie ahnten, was sich in ihrem Ruecken abspielte? Lehrerblock, Kinderblock, Frauenhausblock, und all die normalen Angestellten, das war ja noch harmlos - aber dahinter die schwarzroten Fahnen der Autonomen ... abenteuerlich vermummte Gestalten, auf Zoff aus ... Schnell schoben die WGler an den Anarchos vorbei und schlossen sich weiter hinten einer undefinierbaren Melange aus Spontis und Alternativen an, waehrend sich Ali ganz ans Ende des Zuges begab, ohne dass uebrigens Ellen, die noch immer bei Martin im Zimmer hauste, ihm nachlief. Minuten spaeter gesellte sie sich wie zufaellig zu Richard. "Gut dass Ali weg ist", sagte sie unvermittelt, "in Wirklichkeit ist er ein total verklemmter Typ." Und mit dieser kryptischen und gaenzlich ungeeigneten, aber durchaus fuer seine Ohren bestimmten Bemerkung zog sie sich wieder zurueck, gleichsam als sei das Thema Ali damit fuer sie unwiderruflich abgeschlossen. Er drehte sich nach ihr um und sah sie bei Martin eingehaengt, und so glitt sein Blick weiter ueber die hinteren Reihen. Viel alternatives Volk war darunter, wie fuer Woodstock gewandet, man lachte und hatte den Fruehling im Kopf, und einige Frauen schoben Kinderwaegen vor sich her. Otto hatte sich aus dem Arm seiner Freundin befreit und schloss zu ihm auf. Er wollte hoeren, wie es mit der Klopstockterasse weiterging. "Wenn es nach der Stadtverwaltung geht, ist alles klar. Sie haben uns zum 31.12. gekuendigt", sagte Richard. "Mmh ... ja und, wollt ihr euch das gefallen lassen? Ihr muesst doch irgendwas tun, sonst steht ihr tatsaechlich auf der Strasse." "Wir koennten den Ersatz akzeptieren, den sie uns angeboten haben, die Wohnung im Schanzenviertel ist gar nicht so schlecht. Sicher muesste da einiges gemacht werden ... Aber in der Klopstockterasse muss auf die Dauer auch einiges gemacht werden, das haben wir bisher nur verdraengt. Natuerlich wollen wir nicht kampflos aufgeben, es geht ja auch darum, ob sie Leute nach Belieben umsetzen und die schoeneren Viertel fuer Betuchte reservieren koennen; denn auf nichts anderes laeuft es hinaus. Deshalb haben wir uns verschiedene Sachen ueberlegt." Er erzaehlte von seinem Besuch in der Seefahrtschule. "Ausserdem machen wir ein Flugblatt und einen offenen Brief und wollen Unterschriften sammeln. Wahrscheinlich gehen wir sogar in die Haeuser rein und klingeln bei den Leuten, das ist nicht so anonym, als wenn man auf der Strasse einen Zettel in die Hand gedrueckt kriegt." "Ich habe gehoert, Rolf Schmidt ist seit Januar im Vorstand der Mieterinitiative ..." "Ich weiss", sagte Richard. Rolf war ihm nicht sonderlich sympathisch. Es war seltsam, dass bei den Protestgruppen so viele unsympathische Leute in Schluesselpositionen sassen. Aber man musste sich mit ihm arrangieren, in der Mieterinitiative gab es wenige, die so weitgehend und konsequent fuer die Klopstock-WG eintraten. Die meisten waren gemaessigter in ihren Einstellungen und einige meinten sogar, dass die Stadt in Bezug auf die Klopstockterasse recht hatte. Da die Studenten keine regulaeren Mietvertraege besassen, haette ihnen von Anfang an klar sein muessen, dass sie irgendwann ausziehen mussten; die Initiative sollte sich auf die Noete von regulaeren Mietern konzentrieren. - Rolfs Position dagegen war klar und eindeutig, er befuerwortete von vornherein alles, was die allmaechtige Baupolitik der SAGA behinderte. "Ich habe letzte Woche zweimal mit ihm gesprochen. Anscheinend sind wir nicht die einzigen, die sie rauswerfen wollen. Fast ganz Ottensen soll saniert werden. Der Unterschied ist nur, die normalen Mieter werden fuer ein Jahr umquartiert und koennen danach in ihre Wohnungen zurueck, haben also eine gewisse Sicherheit. Ob sie die neuen Mieten spaeter bezahlen koennen, ist eine andere Frage." Rolf hatte mit einem SAGA Vorstand geredet, und der hatte knallhart kundgetan, alle Anwohner ohne feste Mietvertraege wuerden definitiv ueber die Klinge springen. Und ob sich die uebrigen in Zukunft ihre Mieten noch leisten konnten, damit habe er nichts zu tun, das sei Sache des Marktes, oder des Sozialstaatss, der in kritschen Faellen einspringen wuerde. Die Modernisierung duerfe aber auf keinen Fall verzoegert werden, die Substanz der Haeuser sei sonst bedroht, man habe schon viel zu lange gewartet; und hatte dabei eine tragische Miene gemacht, als stehe in der Klopstockterasse das Regenwasser schon meterhoch in den Schlafzimmern. Betroffen waren fast alle Haeuser der Strassenzuege Kirchentwiete, Brunnenstrasse, Arnoldstrasse, Lobuschstrasse, Keplerstrasse, Rothestrasse, Eulenstrasse, Spritzenplatz ... Rolf sagte das auf wie ein Mantra, als haetten er und der Vorstand diese Namen auswendig gelernt, und er hatte sich auch tatsaechlich intensiv mit dem Thema beschaeftigt, nicht nur mit den amtlichen Absichten, auch Gesetzbuecher gelesen und Urteile studiert, Kontakte mit anderen Stadtteilen geknuepft und so weiter - Mieterinitiative, das war handfester und interessanter als oede Theoriedebatten. Richard aber, den das Ganze persoenlich am meisten anging, war bei diesen Mitteilungen ein Schauer ueber den Ruecken gelaufen. Was war die Klopstockterasse gegen solche gigantischen Vorhaben?, und hatte sich beklommen und ohnmaechtig gefuehlt. Wer scherte sich um ein windschiefes Haeuschen, wenn die Buerokraten mit ganzen Vierteln Monopoly spielten? "Kennst du eigentlich Gabi Lachmann schon?" schreckte ihn Otto aus seinen Gedanken, und unterbrach sich gleich selbst: "Ach ja klar, du warst ja neulich bei uns ..." Er senkte die Stimme. "Die hatten vielleicht einen Zoff in ihrer alten WG! Gabi, also meine Freundin, wohnt ja immer noch dort, aber die Lachmann hat es nicht mehr ausgehalten, wegen dem Macker, der da noch mit haust, naemlich sie und die dritte Frau haben sich seinetwegen in der Wolle gehabt, er hatte anscheinend mit beiden ein Verhaeltnis, und jede hat der anderen vorgeworfen, sie ruiniere ihr das Liebesglueck oder so aehnlich; das Ende vom Lied war, dass die Lachmann ausgezogen ist, aber mit der anderen ist er auch schon wieder auseinander. Und jetzt, das tollste, die Frauen haben sich kuerzlich wieder versoehnt, und die dritte, das ist die Elfi, haengt jetzt oefters mit den beiden Gabis bei uns rum. Und teilweise nerven sie mich. Das war mit Ulla anders, und auch mit Britta, solche stundenlangen Labereien unter Frauen hat es bei Ulla nicht gegeben. Gabi hockt bis ultimo mit ihren Freundinnen in der Kueche und kommt oft erst ins Bett, wenn ich schon schlafe. Na, egal, sonst ist sie ganz anhaenglich. Du solltest bald mal wieder vorbeikommen, sind manchmal echt interessante Gespraeche abends." Richard fragte sich, warum Otto mit dieser Geschichte ankam. Vielleicht wollte er ihn verkuppeln ... Das waere mal eine bruederliche Geste. Bei Licht besehen war er ein feiner Kerl, mit dem man sich anfreunden sollte, in seinen Augen war so ein Kick, eine Leidenschaft, die zog wahrscheinlich auch die Frauen an. Obwohl nicht viel dahinter steckte, das musste man auch sagen, ausser ein bisschen Saxophon-Getute ... Ein Reporter hastete vorbei und erzaehlte, es seien fast 50000 Leute auf der Demo, und Laura rief ploetzlich von hinten: "He, kommt ihr mit zum Papadorakiskonzert?" "Ach das Papadorakiskonzert, das hatte ich ganz vergessen?" sagte Richard schuldbewusst, und dann lauter: "Eventuell schon, aber ich hab keine Karte." "Was fuer'n Papadorakiskonzert", fragte Otto. Laura war naeher herangekommen, mit Werner im Schlepptau, und fragte: "Hat Werner euch nichts erzaehlt?", und hielt eine kurze energische Rede. "Ok, ok", sagte Richard, von so viel Power maechtig beeindruckt, "ich komme mit, vielleicht kriege ich an der Kasse noch ne Karte." "Ich hab leider keine Zeit", sagte Otto sanft, "ich bin nachher mit Gabi eingeladen." - Papadorakis, das war doch langweilig, das war doch nur oede Volksmusik, etwas aufgepeppt vielleicht, aber trotzdem oedes Tralalla. Die Andern standen auf dies Dritte-Welt-Geklampfe (und auf den ueblichen Mainstream-Rock) und verschliefen die neuen Trends, die aus England kamen, Funk und Punk und so weiter, und von Jazz hatten sie schon gar keine Ahnung, hoechstens Martin, aber der interessierte sich mehr fuer die ganz abgehobenen Sachen, so atonales Zeug, Philosoph eben!, damit konnte man auch nicht viel anfangen. Ploetzlich wurden sie aus ihrer gemuetlichen Stimmung geschreckt, ein Brausen und Bruellen erfuellte die Luft, wie von einem Sturmangriff, und um einen solchen handelte es sich auch. Aus einer Seitengasse und von der Alster her stuerzten Hunderte von Polizisten mit Schilden und Schlagstoecken bewaffnet auf die Demonstranten. Sie wollten die Autonomen vom vorderen Teil des Zuges trennen und aus der Innenstadt abdraengen, um zu verhindern, dass sie auf den Kundgebungsplatz gelangten. Die Politiker und Gewerkschaftsfuehrer waren es leid, jedes Jahr mit Eiern und Tomaten oder gar Steinen beworfen zu werden, wenn sie ihre Sonntagsreden hielten, und hatten die Ordnungshueter zum harten Eingreifen ermutigt. Der Ort war fuer einen Ueberfall wie geschaffen. Die Strasse war hier eng wie ein Schlauch, es gab kein Entrinnen. Die Demonstration oder jedenfalls ihr abgeschnuerter hinterer Teil kam sofort zum Halten. Die Letzten bekamen zuerst wenig von dem mit, was sich in der Mitte abspielte und wunderten sich nur ueber die Verzoegerung; der Mittelteil aber konnte nicht zurueckweichen, es war wie im Krieg, wenn ungeordnete Heerscharen aufeinanderprallen, die Demonstranten wurden zusammengequetscht und empoerten sich darueber und wollten sich das nicht bieten lassen, und waren doch bloss hilflose Opfer eines hoeheren Vorganges; nur die Raufbolde wussten gleich, worauf es hinauslief und eroeffneten begierig die langschon herbeigesehnte Keilerei. Darauf hatten die Gesetzeshueter nur gewartet. Besinnungslos pruegelten sie los, fesselten alle, derer sie habhaft wurden, und brachten die Festgenommenen zu den bereitstehenden Bullis. Am schlimmsten traf es die Pazifisten und jene arglosen Alternativen, die nichtsahnend direkt hinter den Militanten hergeschlurft waren. Wer Pech hatte und den falschen Fluchtweg waehlte, bezog von beiden Seiten Pruegel. Richard hatte die Arme schuetzend ueber den Kopf gelegt, um an keiner empfindlichen Stelle getroffen zu werden, verzweifelt duckte er sich vor der anstuermenden Phalanx verschiedener Truppen und versuchte im uebrigen, irgendwie von der Front wegzukommen. Endlich lag das Getuemmel hinter ihm, er nahm die Beine in die Hand und rannte davon. Mit ihm stoben Dutzende anderer Protestierer in die Seitengassen, allesamt froh, nicht verfolgt zu werden, es war ihm ganz gleich, dass er die anderen bei der eiligen Flucht verlor, Hauptsache weg von dem Irrwitz. Er schlug einen moeglichst grossen Bogen um das Zentrum der Schlacht und verlief sich dabei in Harvestehude. Waehrend er durch die Strassen schlich, ueberkam ihn eine seltsame Mattigkeit, wie er im ganzen Leben noch nicht verspuert hatte, eine voellige Kraftlosigkeit, welche sich nach und nach all seiner Glieder und auch des Bewusstseins bemaechtigte. Er meinte, nicht mehr auf den Beinen stehen zu koennen und musste sich unbedingt hinsetzen; doch es gab weit und breit nichts zu sitzen, keine Bank, kein Cafe, nicht mal Blumenkuebel oder dergleichen, nur Haeuser, die sich dicht aneinander reihten, vereinzelte Kreuzungen mit oder ohne Ampelanlage, schlanke Laternen, verkrueppelte Baeume und demolierte Telefonzellen. Und waehrend er sich weiterschleppte, ueberlegte er, ob er ernsthaft krank wurde oder alt oder ob einfach die Fruehlingsluft schuld war. Vorher hatte er sich ganz munter gefuehlt, aber jetzt war ihm schlecht und er fuehlte sich ueber die Massen schlapp und ausgepowert, als sei er Tage und Naechte ununterbrochen auf den Beinen gewesen, im Vergleich dazu musste der Alte vor der Baeckerei sich vital wie ein Wiesel vorkommen. Der Weg schien sich endlos hinzuziehen; "du der Vaterlandsstaedte grossflaechig schoenste", dachte er muede, verlangsamte seine Schritte und hoffte, die Schwaeche werde von selbst aufhoeren. Endlich stand er auf dem August-Bebel-Platz, der im Schatten des riesigen, die Sonne und den halben Fruehlingshimmel verdeckenden Gewerkschaftshauses lag. Das Caree war nicht gerade ueberfuellt, und oben auf dem Balkon standen die Offiziellen der Arbeiterbewegung, in Schlips und Kragen, und versuchten, zu der Versammlung zu sprechen, ich sage 'versuchten', weil sie von Sprechchoeren massiv gestoert wurden, bis sie es leid waren und die Kundgebung abbrachen. Das Konzert fing erst um 3 an, aber er konnte ja schon mal in die Richtung gehen, vielleicht traf er irgendwo die anderen. Gemaechlich setzte er sich in Bewegung, wobei er die Fuesse ueber das Pflaster schleifen liess, die Kopfsteine schienen ihn anzustarren, was tust du, fragten sie, wohin gehst du, ueberall ist doch nur grosse bewusstlose Einsamkeit; und die verrammelten Laeden raunten, bleib hier, es bringt nichts, all dein Tun ist sinnlos, du wirst es schon merken. ------- Die Musikhalle war ein unfoermiges Monstrum von wenigstens 10000 Quadratmetern Grundflaeche und breit wie eine Getreidescheune im mittleren Westen. Bands wie 'Jefferson Airplane', 'Emerson, Lake and Palmer' oder die Stones kamen hier mit ihren Sattelschleppern vorgefahren, wenn den Veranstaltern das Wetter draussen zu unsicher war. Im Moment herrschte eine teils andaechtige, teils unruhige Athmosphaere, das Publikum wartete auf den grossen Papadorakis, griechischen Komponisten und Dirigenten, Exilant und anerkannter Feind der Militaerdiktatur. Bei der Buehne stand ein Trupp junger Leute unschluessig herum. Sie hatten ein Transparent dabei, auf dem sie fuer die Freilassung eines kuerzlich verurteilten AKW-Gegners warben. Als er Laura sah, gesellte er sich dazu; falls noetig, wollte er helfen, es aufzurollen und hochzuhalten. Wahrscheinlich wuerden sie aber allein zurecht kommen, und er hatte genug Zeit, im gedaempften Buehnenlicht die naseweissen Gesichter der Leute aus der ersten und zweiten Reihe zu studieren, meist buergerliche Typen ueber 30, Ehepaare, die sich auf einen musikalischen Festschmaus freuten, und auf das erhaben-erhebende Gefuehl, welches Papadorakis' Auftritte und Musik gewoehnlich begleitete. "Was sind das fuer Leute", dachte er, "wo verkehren sie, wie verdienen sie ihr Geld?" So fragt sich gewoehnlich die eine Generation, wenn sie unverhofft der vorherigen gegenuebersteht. Der Komponist verspaetete sich , verspaetete sich immer mehr, das gehoerte zur Dramaturgie seiner Konzerte, um so hoeher hinaus konnte hinterher die Musik streben. Endlich trat er doch auf die Buehne, in einen bauschigen Baumwollumhang gehuellt, cremefarben, kariert, wie ein Wesir aus dem Morgenland sah er aus, vielleicht wollte er seine Koerperfuelle damit zu kaschieren, oder er hielt ihn seines besonderen, kreativen Status fuer angemessen, schliesslich war er kein gewoehnlicher Dirigent, er komponierte selbst, und seine Musik hatte eine tiefere, philosophische und politische Bedeutung. Das feiste Gesicht glaenzte vor Schweiss, doch um seine Augen spielte ein wohltrainiertes Laecheln - trotz des psychischen Drucks, unter den ihn die Konzertsituation setzte, besonders die erste Haelfte war kritisch, hinterher entspannte er sich meist - und welches nur ausnahmsweise von ihm abglitt, wenn die Technik komplett und unwiderruflich versagte, zum Beispiel, oder ein zerstreuter oder unfaehiger Musiker notorisch falsch spielte, das konnte ihn wahnsinnig machen. Wenn aber wie jetzt ein paar penetrante Fans meinten, sich etwas herausnehmen zu duerfen, und den gesetzmaessigen Ablauf der Buehnenshow stoerten, war sein inneres Gleichgewicht nicht bedroht. Denn natuerlich hatte er sie laengst bemerkt, mit einem Blick erfasste er die Situation und wusste gleich, wie damit umzugehen war, um den Ausgang des Abends nicht zu gefaehrden. Nach allen Erfahrungen, beschwor er sich, war es das wichtigste, die Nerven zu behalten. Sie liessen ihm Zeit, sein Publikum zu begruessen, doch dann begannen sie gnadenlos, ihre Stoffbahn ueber die ganze Breite der Buehne auszurollen. Der Vorgang irritierte die Zuschauer, so dass bereits die ersten Buhrufe zu hoeren waren. Mit denselben souveraenen Gesten, mit denen er seinem Orchester den Takt gab, brachte Papadorakis auch das Publikum zum Schweigen. "Ich stimme mit Euch ueberein", sagte er laut und deutlich und salbungsvoll in gebrochenem Deutsch, die sowieso nur in den ersten Reihen vernehmbare Stimme ihres Wortfuehrers unterbrechend, "Ich selbst war ein Haeftling. Freiheit fuer alle politischen Gefangenenen, dafuer kaempfe auch ich", um sofort darauf seinen Musikern ein Zeichen zu geben, die nun ohne weitere Praeludien mit dem laengsten und lautesten Stueck des Abends loslegten, mit funkelnden Harfen- und Elektronik-klaengen in hoehere Sphaeren sich erhebend, "hoeher, ein wenig hoeher noch", hiess es darin vieldeutig, und den Protestierern, die noch minutenlang ratlos mit ihrem Spruchband da oben herumstanden, blieb endlich nichts uebrig, als es wieder zusammenzurollen und sich neben der Buehne zu sammeln. Einzig ihr Sprecher mochte nicht aufgeben, mit einem grossen Zettel fuchtelte er vor der Nase des Dirigenten herum, er hatte einen Aufruf vorbereitet, den er zu verlesen gedachte. Das musste verhindert werden, sein Mikrofon wuerde Papadorakis um keinen Preis aus der Hand geben; wenn man mit dem Diskutieren erst mal anfing, war alles vorbei ... das fuehrte zu nichts, ausser zu stundenlangem Palaver, welches die Rezeption der Musik empfindlich stoerte, schliesslich komponierte er keinen Hardrock, wo sich die Hoerer nur wohlfuehlten, wenn sie ordentlich aufgemischt wurden. Und manche Besucher wuerden ihr Eintrittsgeld zurueckverlangen - es gab immer Noergler und Wichtigtuer, die sich so eine Situation zunutze machten - und so das sensible Verhaeltnis zur Veranstaltungsagentur aus dem Gleichgewicht bringen. Teils dirigierend, teils Zeichen gebend und den Kopf schuettelnd, wies er das Ansinnen ab. Nach dem Ende des Liedes musste er richtig drastisch werden, nein, nichts duerfe verlesen werden, gar nichts, es sei bereits alles gesagt, heute abend werde allein die Musik zu ihrem Recht kommen, "bitte, Sie sind eingeladen, hoeren Sie die Musik, was die Ihnen zu sagen hat". Und nach dem zweiten oder dritten Lied gaben sie auf, hatten Lust und Power verloren, sich bemerkbar zu machen, hockten sich an den Rand (mit ungehindertem Blick auf die Buehne), und liessen sich tatsaechlich von den Liedern einlullen, oder inspirieren, oder wie man die Macht bezeichnen will, welche gewisse Tonfolgen auf uns ausueben, politischer Anspruch hin oder her. Wir wollen aber Papadorakis nicht schlechter machen als er war; normalerweise hoerte man nur Positives ueber ihn, und waere nie auf den Gedanken gekommen, ihn fuer eitel und unaufrichtig zu halten, auch uns liegt das voellig fern, wir meinen, in der gegebenen Situation waren seine Reaktionen nur natuerlich und naheliegend. Und bevor jemand auf eine andere Idee verfaellt und womoeglich jeden Dirigenten oder Showmaster fuer unvermeidlich eitel und unaufrichtig einstuft, wollen wir schnell das Konzert zu Ende gehen lassen und mit Richard und seiner Gruppe solange richtungslos durch die laue Fruehlingsluft wallen, bis uns zwei durchnaesste Gestalten unterkommen, der eine vergnuegt lachend, der andere erregt gestikulierend, und von der Gaudi und Strassenschlacht Kenntnis geben, die gerade in St Georg abgeht und zu mancher Sachbeschaedigung Anlass gibt. Da machte man sich neugierig auf den Weg, die Ausschreitungen mit eigenen Augen zu besichtigen, ein bisschen Nervenkitzel konnte nicht schaden, nachdem man bei dem Konzert nicht richtig zum Zuge gekommen war, nur Richard kam nicht so schnell von dem Griechen los. Er fuehlte sich von den scheinheiligen Solidaritaetsbekundungen seltsam abgestossen und hintergangen. Papadorakis gehoerte zur selben Spezies wie der Seefahrtsdirektor, erkannte er, politisch anders gepolt, doch mit dem gleichen Instinkt, sein Ego in den Vordergrund zu spielen. Es war ihm egal, von Einzelnen durchschaut zu werden, Hauptsache, die Masse seiner hingerissenen Zuhoerer blickte weiterhin zu ihm auf. Er war eine grosse Entaeuschung, es war der Verlust einer Illusion, des Glaubens an wirklich grosse weise Maenner, die den Durchblick hatten und ueber ihren eigenen Interessen standen, an Fortschrittlichkeit ueberhaupt, und dass es irgendwo eine von ihm und den anderen Idolen bewohnte hoehere Sphaere gab, wo man mehr wusste, das Leben besser verstand und den Utopien naeher war. Und Richard meinte, das ganze Hin und Her und die sinnlosen Aufgeregtheiten und Konfrontationen nicht mehr ertragen zu koennen, weil etwas in ihm einstuerzte und zu Staub zerfiel, das er bis dahin fuer ueberaus wertvoll erachtet hatte, eine Essenz seines Daseins, und war nicht scharf auf die Strassenschlacht, deren Laerm und Widerschein schon von weitem in die Daemmerung hochstiegen, im Gegenteil, er fuerchtete sich nicht wenig davor; und an irgendeiner Kreuzung loeste er sich wortlos von den Anderen und machte sich auf den Weg nach Hause. ------- Als er aus dem Bus stieg, war es dunkel geworden. Er hoerte seine Schritte auf dem Asphalt und wunderte sich, warum nicht mehr Menschen den schoenen Abend fuer einen Spaziergang nutzten. In vielen Wohnungen brannte noch Licht, in anderen lief nur der Fernseher und verbreitete graeuliches Leuchten, einige lagen im Schatten. In der Klopstockterasse war die einzige Laterne ausgefallen, das stoerte aber nicht weiter, er kannte den Weg, er war gleich hier zuhause. Zuerst links die Wand, riesig, fensterlos, rechts der eingezaeunte Kundenparkplatz des Elektroladens, dahinter der Studienrat, auch bei denen kein Licht, und dann links das Buschwerk, das schon zum Uferpark gehoerte und im Sommer weit in die schmale Gasse hineinwucherte. Im Moment sah man nichts davon, nur finsterdunkle Schwaerze, aus welcher Stimmen vorquollen. "Komm, zier dich nich so", sagte die eine. "Wir haben uns eben so nett unterhalten." "Und jetzt wollen wir uns noch netter unterhalten", setzte eine andere froehlich hinzu. "Komm her, ich zeig dir, wie's geht." "Bitte lass mich", sagte eine weibliche Stimme leise. "Fass mich nicht an." "Ach komm, lass mich nur machen, du kennst mich doch, hab ich dir je was boeses getan? Du hast so schoen grosse Moepse, da kann ich nich widerstehen." "Nein, lass das, hoer auf damit. Oh bitte lasst mich doch zufrieden. Henning, ich will nicht, dass du mir den Rock runterziehst." Die Maenner kicherten, der Protest schien sie nicht zu beeindrucken. Die Stimmen kamen definitiv aus dem Dickicht, dachte er, wahrscheinlich hatten sie die Frau da rein gedraengt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er sich einmischte, riskierte er, von irgendzwei Kerlen verdroschen zu werden. Er konnte hoechstens so tun, als ob er nicht wuesste, was gespielt wurde, sich einfach bloed stellen, und den Naiv-Neugierigen vorkehren, falls er angegriffen wurde. Erst mal laut raeuspern, vielleicht half das ja schon. Natuerlich half es nicht, ihre Aktivitaeten waren zu weit fortgeschritten, um von zaghaften Hoeflichkeiten sich stoeren lassen. Fast haette seine Feigheit den Ausschlag gegeben, vielleicht war das Maedchen gar nicht so abgeneigt, wie es den Anschein hatte und beschwerte sich hinnterher ueber die Stoerung. Ploetzlich aber meinte er ein ersticktes Wimmern wahrzunehmen, wahrscheinlich hielten sie ihr den Mund zu oder drueckten ihr gar die Kehle ab. "Hallo wer ist da?" fragte er in die Dunkelheit hinein; und noch einmal: "Ist da jemand?" Dann klapperte er vernehmlich mit dem Schuhwerk auf den Steinen und liess nicht eher nach bis ... "Ach Mensch verdammt", kam es endlich aus dem Gebuesch, "hier wird einem auch jeder Spass verdorben. Komm Karl, lass die Alte, die hat sowieso keinen Bock", und eh er sichs versah, wurde er zielsicher zur Seite gestossen und zwei dunkle Gestalten hasteten an ihm vorueber. Er wartete einen Moment. "Hallo, sind Sie noch da", fragte er dann behutsam. Verschiedene undefinierbare Geraeusche gaben ihm Antwort, ein Scharren, ein Rascheln, Aechzen und Seufzen, ein Klopfen und Kleiderstreichen, dass er sie schon fuer verletzt hielt. Da hoerte er atmen, sie stand direkt vor ihm, er vermutete jedenfalls, dass sie es war, und keiner von den Aufdringlingen, denn er roch billiges Parfum, und eine wehleidige Stimme sagte: "Bitte entschuldigen Sie ... ich weiss auch nicht, warum mir dauernd sowas passiert." "Sind Sie verletzt", fragte er, "nein, nein, mir gehts gut", beruhigte sie ihn, und er wusste nicht, was er sagen sollte, ausser ihr anzubieten, mit reinzukommen, aber dessen enthielt er sich wohlweisslich, das waere kein guter Vorschlag nach einer solchen Begebenheit. Sie merkte, wie nah sie beianderanderstanden. Sie wich zurueck, bedankte sich noch einmal und floh auf die lachsfarben beleuchtete Elbchaussee zu; Richard lief hinterher, er wollte doch wissen, wen er gerettet hatte. Sie blieb an der Ecke stehen und klopfte Staub und Erde aus den Kleidern. Sie war ganz bleich im Gesicht. "Fehlt Ihnen wirklich nichts?" wiederholte er, und da erkannte er sie, man sah sie oefter durch die Strassen hinken, sie musste hier auch irgendwo wohnen. Sie war ihm aufgefallen, wie einem manche Frauen eben auffallen, die Tischnachbarin in der Mensa, die mit paar Popperfreunden schaekerte, die junge Tuerkin, die mit ihren Eltern ein Stockwerk ueber Martin wohnte, und ihm dort im Hausflur oefter ueber den Weg lief und immer leidenschaftlich zulaechelte, auch wenn die Verwandtschaft laengst definitiv und unwiderruflich einen Heiratskandidaten ausgesucht hatte, mit dem sie zufrieden sein wuerde bis ans Ende der Tage - auch Dagmar war ihm aufgefallen, mehr durch ihre Figur als durch ihre Behinderung oder das einfaeltig-derbe Dutzendgesicht, mit dem sie sich unsicher der Wirklichkeit stellte. "So verdreckt kann ich nicht nach Hause gehen", sagte sie freimuetig. "Soll ich Sie heimbringen", fragte er. Sie musste doch Angst haben, dass die Kerle zurueckkamen, sobald er sie alleinliess; und vielleicht war das auch so, ausschliessen konnte man es nicht, wahrscheinlich lungerten sie noch irgendwo hier herum. Aber "nein, nein", wehrte sie ab, "nicht noetig". Sie wollte ihm auf keinen Fall zur Last fallen, gerade ihm nicht, daran lag ihr unsagbar viel, schlimm genug, ihm in so einer Situation zu begegnen. Ausserdem brauchte sie Zeit, wieder zu sich zu kommen und zu ueberlegen, was sie den Eltern erzaehlte, wenn sie so gerupft nach Haus kam. Vielleicht konnte sie ins Schlafzimmer entwischen und sich umziehen, bevor sie was spitzkriegten ... Im Moment fuehlte sie sich zu nichts in der Lage, das Ganze hatte sie doch ziemlich mitgenommen. Als Henning und sein Freund von ihr abliessen, war sie zuerst einfach nur froh, aber jetzt kam die Panik richtig hoch. Gut, niemand hatte sie umbringen wollen, doch zwei solchen Typen voellig ausgeliefert zu sein, war auch nicht so toll. Sie brauchte jetzt unbedingt Ruhe. Zuhause wuerde sie Keine haben, das war mal sicher, die Wohnung war klein, in Kueche und Schlafzimmer konnte man sich kaum umdrehen, und in der Stube wurde gegessen und fernsehgeguckt, und wenn der Alte wieder mal einen Austicker hatte, wusste man ueberhaupt nicht wohin, da verdrueckte man sich lieber nach draussen. Er fragte sich, was in ihr vorging. Von der Blaesse abgesehen, schien sie das Ganze gut ueberstanden zu haben. Er haette gern nachgeforscht, wer die beiden Kerle waren, wie gut sie sie kannte, und ob sie oefter so aufdringlich wurden, doch er spuerte, dass sie darueber auf keinen Fall reden wollte, die Beiden anzuzeigen, zog sie offenbar nicht in Betracht. "Ja also dann", sagte er schliesslich, "auf Wiedersehen". "Tschuess", sagte sie schnell, viel zu sehr mit sich selbst beschaeftigt, um ihn noch zu beachten. ------- Als er die Haustuer erreichte, ging im Flur das Licht an und Birgitta stuerzte aufgebracht an ihm vorbei. Zwei Stunden sinnloser Knatsch mit Nemsi!, wenn sie sich nicht beeilte, wuerde sie ihren Termin verpassen. Zuerst hatten sie lange oben im Zimmer gesessen und ueber die Zukunft beraten. "Du musst dir unbedingt eine eigene Bleibe suchen", hatte sie gefordert, "zu zweit ist es hier auf Dauer einfach zu eng." "Ja, aber warum denn, das Zimmer ist doch ziemlich gross?" fragte Nemsi verstaendnislos, "ich finde, wir sind hier sehr gluecklich." Er konnte sich nicht vorstellen, in diesem unwirtlichen Land, mit seinen ewig unzufriedenen, sauertoepfischen und wegen jeder Kleinigkeit eingeschnappten Bewohnern in absehbarer Zeit auf eigenen Fuessen zu stehen. Sie wollte auf keinen Fall zugeben, wie sehr er sie langweilte, jetzt nicht jedenfalls, schliesslich hatte sie ihn hergelotst, weil sie ihn zu lieben glaubte und fuer immer um sich haben wollte. "Du, ich kann mich ueberhaupt nicht auf mein Studium konzentrieren", klagte sie. "Es stimmt, wir sind gluecklich, im Bett und so ..." - obwohl sie sich fragte, ob das noch zutraf, sie hatte es kommen sehen, es genau verfolgen koennen, wie ihre Gefuehle langsam erkalteten, ausliefen wie eine lecke Wassertonne, bis nur ein erdiger Bodensatz uebrigblieb - "... aber zum Leben gehoeren auch andere Sachen dazu. Waehrend des Semesters brauche ich Zeit und Platz fuer mich allein, hast du ja schon gemerkt. Das beste waere, wenn du endlich Arbeit finden wuerdest." "Natuerlich waere das schoen. Aber wo soll ich arbeiten, die meisten Deutschen lehnen mich ab. Das geht schon hier in der Wohngemeinschaft los. Vera zum Beispiel, die geht nicht ins Bad, wenn ich gerade drin war." Er laechelte und zeigte seine strahlend weissen Zaehne. "Lieber macht sie sich in die Hose." "Ich weiss auch nicht, was sie gegen dich hat. Frueher, als wir uns besser verstanden, hat sie mir erzaehlt, dass sie schon mit Schwarzen geschlafen hat. An deiner Hautfarbe kann es also nicht liegen, ich glaube, es kommt, weil du mit mir zusammenbist; sie kann mich nicht ausstehen." "Nein bestimmt, es liegt an der Hautfarbe, das habe ich im Gefuehl", beharrte Nemsi, "und Karsten ist noch schlimmer, regelrecht rassistisch, obwohl er gluecklicherweise die meiste Zeit weg ist. Aber auch bei Richard und Ali spuere ich Ablehnung. Ali ist oft schlecht gelaunt ..." "Ach Nemsi, du irrst dich. Ali ist einfach so ...." "Ja aber bei mir ist es krasser, er behandelt mich wie heisse Luft. - Und Richard ..., ja ich glaube, Richard ist in dich verliebt." Wieder laechelte er. "Komm, bitte, lass den Quatsch", sagte Birgitta aufgebracht. "Und lenk nicht vom Thema ab. Wirklich, mir ist es sehr ernst damit, du musst dir ein eigenes Zimmer suchen." "Und wie soll ich das bezahlen? Ich meine, eine Wohnung, die kostet Geld, und in Hamburg sind die Mieten unheimlich hoch." "Wir haben gesagt, du musst dir Arbeit suchen; und es muss keine Wohnung sein, ein WG Zimmer tut's auch. Ich werde dir bei der Suche natuerlich helfen. - Deine neuen Freunde halten sich doch auch irgendwie ueber Wasser." "Ja die", sagte er listig, "die dealen. Einer hat mich schon gefragt, ob ich mitmachen will." Mehr wuerde er nicht sagen, alles brauchten Frauen nicht zu wissen. "Das ist keine Alternative", sagte sie kategorisch, und ein Anflug von Verzweiflung war in ihrer Stimme, "du musst dir etwas anderes ueberlegen. - Ach", entfuhr es ihr ploetzlich, "ich halte es hier nicht aus. Hier ist es zu stickig und alles so vollgestellt. Lass uns in die Kueche gehen, was essen, ich hab Hunger, und dann muss ich sowieso nochmal weg." In der Kueche fand sie den naechsten Grund sich aufzuregen: "Nemsi, hier steht das ganze schmutzige Geschirr herum. Hast du nicht heute Spueldienst?" "Ich weiss nicht, kann sein", sagte er gepresst. "Natuerlich bist du dran", rief sie empoert, "da stehts doch, auf dem Plan. - Siehst du, das ist genau, was ich meine, Zusagen einhalten musst du dir unbedingt angewoehnen, sonst kommst du bei uns nie zurecht." Leute, die ihren Pflichten nicht nachkamen, gingen ihr ganz furchtbar auf den Geist. Sie sah nicht ein, warum sie so etwas ausgerechnet bei ihrem Lover dulden sollte. Nemsi schwieg. Er wusste aus Erfahrung, Diskussionen fuehrten zu nichts. In der Klopstockterasse hoerte er oft ueber deutsche Tugenden laestern, aber er fand, Britta war eine typische Vertreterin, je genauer er sie kennenlernte, des Ordnungsfanatismus. Und die andern waren auf ihre Art auch nicht besser, ausser Vera vielleicht, in deren Lebensart er sich wiederfand. In Afrika war ihm Birgitta so offen vorgekommen, gar nicht wie eine Weisse; da hatte sie sich IHM angepasst, und sie waren gluecklich gewesen. Wenn man dort nicht so erbaermlich leben wuerde! Die Europaer fuehrten wirklich ein bequemes Leben, fast alles wurde ihnen abgenommen, fast alles gab es in Huelle und Fuelle, fast alles funktionierte perfekt ... und trotzdem waren sie unzufrieden. "Am besten, du machst es gleich nach dem Essen", forderte sie, und um des lieben Friedens willen stimmte er zu, obwohl er keineswegs vorhatte, die Zusage einzuhalten, wozu auch, sie machte ja auch, was sie wollte. Bestimmt war sie heute wieder in ihrer OAA und wuerde erst spaetabends heimkommen. Auch er wollte nachher verschwinden, Richtung Sternschanze, wo sich die Farbigen trafen. "Du bist in letzter Zeit immer oefter bei deinen neuen Freunden", beschwerte er sich. "Kann schon sein. Aber wir brauchen die Zeit, um uns kennenzulernen. Sie arbeiten nur mit Leuten, die ihnen hoechste Prioritaet einraeumen. Ein, zwei Stunden die Woche reicht nicht. Das oberste Ziel der OAA ist gute Kommunikation, und die kann man nur erreichen, wenn man sich intensiv miteinander beschaeftigt." "Gute Kommunikation, gute Kommunikation," aeffte er nach, "das klingt huebsch, aber was heisst das genau, was machst du da wirklich?" Man hoerte von Orgien oder mindestens seltsamen Riten, und er war neugierig und eifersuechtig und witterte instinktiv, wie gross die Bedrohung seines eigenen kleinen Kosmos durch jene Sekte war. "Ach, ich habe dir doch gesagt, dass ich erst ganz am Anfang stehe, sie machen so eine Art Selbsterfahrung mit mir, nichts von Bedeutung", wimmelte sie ab. "Aber es interessiert mich eben, ich finde den Ansatz spannend." "Warum nimmst du mich nicht mal mit?" bat er instaendig, "wenn es so spannend ist, kann ich sicher auch etwas dabei lernen." Oh dieser Typ nervte! Sie hatte echt energisch werden muessen, als sie das erste Mal allein ausgehen wollte. Die ganze Freizeit zusammen verbringen, war am Anfang einer Beziehung das Schoenste, doch irgendwann wollte man seine Unabhaengigkeit zurueckhaben, zumindest zum Teil, schliesslich traf auch er sich abends oft mit seinen Freunden, so was war einfach wichtig, besonders wenn es zu kriseln anfing und man sich gegenseitig auf den Wecker ging. Sie wusste, er akzeptierte ihre Selbststaendigkeit nicht und wuerde sie wahrscheinlich nie akzeptieren, das war ein riesiges Problem, immer wieder kamen sonderbare Instinkte bei ihm hoch, und mehrmals hatte sie schon Angst gehabt, dass er sie schlug. Aber sie wusste dass er wusste dass es sofort vorbei war, wenn er damit anfing, das wuerde sie sich nicht bieten lassen, sie wusste dass er wusste dass sie am laengeren Hebel sass, er hatte keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, im Notfall, wenn gar nichts mehr ging, war das die Methode ihn loszuwerden, der letzte Ausweg, aber ok daran wollte sie nicht denken, jetzt musste sie erst mal zusehen, sich so schnell wie moeglich loszueisen, sonst kam sie zu spaet. ------- Als Richard die Kueche betrat, sass Nemsi wie meditierend auf dem Stuhl bei der Spuele und nur ein wahrhaft genialer Beobachter haette aus dem Funkeln seiner Augen und dem Ton der Begruessung einen drohenden Wutanfall herausgelesen. Richard warf seine Jacke schwungvoll auf den Ofen und dachte "erst mal Abendbrot essen", er liess sich weder von brenzligen Abenteuern noch von geistesabwesend vor sich hinstarrenden Schwarzen den Appetit verderben. Trotzdem war er froh, als der Andere unvermittelt aufstand, er wusste nie, worueber er sich mit ihm unterhalten sollte, Nemsi war zu sehr Birgittas Anhaengsel, um bei ihm als vollwertiger Gespraechspartner durchzugehen, und heute schien er besonders verschlossen, geradezu hysterisch. Er langte ordentlich zu und kam in Gedanken immer wieder auf die Szene im Dunkeln zurueck. Was, wenn er nicht zur rechten Zeit vorbeigekommen waere?, ob sie die Frau tatsaechlich vergewaltigt haetten?, oder waere das Schieben und Grapschen an einem bestimmten Punkt zum Halten gekommen, wenn sie gemerkt haetten, dass sie bei ihr absolut nicht landen konnten? Im Nachhinein glaubte er, die Beiden waren betrunken, doch daraus liess sich nichts schliessen, manche wurden erst richtig gefaehrlich, wenn sie gesoffen hatten. Etwas spaeter haette Birgitta sowieso Licht gemacht, vielleicht waeren sie davon vertrieben worden, aber sicher war das nicht, sie hatten das Maedchen ja schon ziemlich ruhig gestellt und brauchten nur abzuwarten, bis die Lampe wieder ausging. Eigentlich mussten solche Leute belangt werden. Wenn man sie laufen liess, wuerden sie weitermachen und bei naechster Gelegenheit eine Andere missbrauchen. Allerdings hatte er nicht viel gegen sie in der Hand, er hatte ihre Gesichter nicht gesehen und wuerde sie nicht wieder erkennen, so stand die Aussage des Maedchens gegen die Beiden (wenn sie ueberhaupt aussagte), die behaupten wuerden, die wollte das ja, wir mussten kaum nachhelfen. Er hatte Schwierigkeiten sich vorzustellen, wie man mit einer Frau gegen deren Willen schlafen konnte (oder wollte), allein schon, sie ueber einen gewissen Punkt hinaus anzubaggern, wo man merkte, die hat null Interesse, war nicht sein Fall. War ein anderer Typ Mann, anders gepolt als er, schwierig zu sagen, obs an den Genen lag oder soziale Ursachen hatte, er wusste, er waere niemals so vorgegangen. Trotzdem erregte ihn die Vorstellung, wie jemand speziell mit dieser Dagmar bumste ... Nach dem Essen schlenderte er durchs Haus. In Veras Zimmer brannte Licht. Gute Gelegenheit sich abzulenken, dachte er und trat ein. "Hallo." "Oh Hallo." Sie war gerade heimgekommen, und er erwartete halb, von ihr hinauskomplimentiert zu werden, weil sie wie ueblich irgendwas vorhatte, und tatsaechlich blickte sie bald auf die Uhr, und er sah ihr an, sie ueberlegte, sie war unruhig, wie sie den Rest des Abends verbringen sollte, sie erwog aufs Geratewohl noch mal loszuziehen, aber dann wuerde es wieder spaet werden, sie war keine 20 mehr, wo man straflos die Naechte durchmachte. Er schlug vor, Luft schnappen zu gehen, kein schlechter Rat, ihre Unruhe zu daempfen. Und auch seine; obwohl alles glimpflich abgegangen war, hatten die Erlebnisse seine Stimmung gedrueckt, und gehoben zugleich, ein seltsamer Zustand; er wusste, er wuerde schlecht schlafen, ausser wenn er noch rausging, um von Groesse und Erhabenheit des Flusses sich troesten zu lassen, selbst in der Dunkelheit war das Elbufer von schuldloser unvergaenglicher Schoenheit, nicht alles Schoene in der Natur war schuldlos, ein ruhigfliessender Strom aber gewiss. Nachdem sie zuerst zoegerte, und er zweimal nachfragen musste und sie es sich zwischendurch zweimal fast ueberlegte, stand er mit ihr vor der Haustuer, und sie schlenderten den Hang hinunter und wieder hinauf, bis sie sich auf einem Felsvorsprung oder Findling niederliessen. Windstill wars, wie sonst in Jahren nicht, kein Lufthauch zu spueren, eine Ahnung von Sommer lag in der Luft, und weit hinten, ueber dem Fluss, mischte sich das kuenstliche Licht der Raffinerien und Docks mit dem letzten Schimmer gleissender Helligkeit im Westen, wo sich die Elbe unerkannt in die Nordsee verlor. An sich waren das ideale Voraussetzungen fuer eine trauliche Annaeherung, und er haette jetzt den Arm um sie legen oder es wenigstens versuchen koennen, um in den Genuss intimer Zweisamkeit zu kommen, allein, er verzichtete, er war nicht aufgelegt fuer solche Avancen. Ausserdem haette er sich damit nur blamiert, weil sie verbuchte ihn in der Kategorie 'platonische Freundschaft', sie wuerde vorsichtig (aber bestimmt) die Hand von ihrer Schulter streifen, und auch wenn sie ihn nachher ihrer Sympathie versicherte, waer's doch eine Belaestigung, und die Stimmung waere hinueber, und diese Enttaeuschung wollte er sich lieber ersparen. Also einfach laufen lassen die Sache, war viel schoener und entspannender so, und es dauerte nicht lange, da taute sie auf und erzaehlte von alten Zeiten, von ausgedehnten Reisen in laengst vergangenen Sommern und durch Landschaften, in denen er noch nie gewesen war. "Als ich juenger war, bin ich viel herumgekommen", sagte sie melancholisch. "Mit vierzehn war ich das erste Mal in Italien, dann in Griechenland, Jugoslawien und Spanien, und fast ein ganzes Jahr in Indien, aber irgendwann, als ich aelter wurde, hab ich gemerkt, das ist nichts mehr, das Herumreisen; ich wollte sesshaft werden." Frueher hat nur der Krieg die Leute so zerstreut, dachte er; und auch nur die Maenner, die Frauen sind wartend zuhause geblieben. "Die erste Fahrt nach Italien, haettest du sehn sollen! Ich war mit zwei Freundinnen unterwegs, und wir haben richtig einen draufgemacht, tagsueber in der Sonne am Strand und nachts in der Disco, und manchmal die Staedte durchschlendert, wie stinknormale mittelalterliche Bildungstouristen. Strassen, Plaetze und Gebaeude sind dort nach lokalen Beruehmtheiten benannt, deren Namen uns voellig unbekannt waren, und dadurch kriegt alles so einen fremdartigen Flair, als ob man in einem ganz anderen, sonnenbeherrschten Kosmos sich aufhielte", schwaermte sie, und wenn es nicht zu dunkel gewesen waere, haette er sehen koennen, dass sie laechelte. "Wenn man jung ist, nimmt man alles viel intensiver wahr! - Und dann: Ich wollte nur mal verreisen, aber meine Eltern haben das gleich als Abhauen aufgefasst und mich suchen lassen, Polizei und so, erst als ich zurueckkam, waren sie bereit, mir meine Freiheit zu geben. Ich durfte weggehen sooft und lange ich wollte, waehrend sie mich vorher bis zum geht nicht mehr gegaengelt haben. Ich bin dann mit 18 ausgezogen und und richtig lange verreist, ueberall hin. Fast 5 Jahre war ich nur im Ausland. Aber dann, mit 24, 25, hatte ich ploetzlich keine Lust mehr; so ziellos herumtrampen, das hatte sich irgendwie totgelaufen, ich hab dann die Ausbildung gemacht, Buerokauffrau, und danach richtig zu arbeiten angefangen. Ich denke aber nicht, dass das bis ans Ende meiner Tage so weiter geht, sondern irgendwann kommt die Lust aufs Reisen vielleicht zurueck." "Ich will im Sommer mit Martin drei Wochen nach Finnland", sagte Richard. "Ich weiss, hast du neulich schon erzaehlt, du warst froh, dass Martin sich endlich soweit von Ellen geloest hat ..." "Na, ganz so wuerde ich es nicht formulieren. Er ist waehrend der Zeit mit Ellen eigentlich immer der Alte geblieben. Anfangs haben sie zwar ganz schoen aufeinandergeklebt, aber dann eine ziemlich unabhaengige Beziehung entwickelt, wo jeder seine Freiraeume und einen eigenen Freundeskreis pflegt. Viele sind da anders, die veraendern sich, wenn sie eine Frau finden, und legen auf ihre alten Freunde nicht mehr so viel Wert. Ich hab schon erlebt, dass Leute voellig aus dem Takt kamen und mit den Kumpeln gar nichts mehr lief. Martin hat seine Interessen behalten, und wir waeren wahrscheinlich auch so nach Finnland gefahren, weil wir das immer schon vorhatten, weil uns die Einsamkeit und die riesigen Waelder da oben begeistern." "Es wuerde mich unheimlich reizen, euch zu begleiten", sagte sie nachdruecklich, worauf er von einer seltsamen und unbegreiflichen Nervositaet befallen wurde, denn obwohl er wusste, dass er von ihr nichts zu erwarten hatte, besass ihre Erscheinung eine solche Macht ueber ihn (Wenn sie ihm doch nur den kleinsten Hinweis gegeben haette!), dass die Vorstellung einer gemeinsamen Reise seinen Atem ins Stocken, seinen Herzschlag ins Stolpern und seine Sinne durcheinander brachte. Gleichzeitig fuerchtete er, sie wolle nur Martins wegen mitfahren, an dem sie womoeglich interessiert war und glaubte, sich verlieben zu koennen bei genuegend intensivem Kontakt (auch wenn ihr diesbezueglich nichts anzumerken war und ihre Stimme voellig neutral blieb, nichts als Interesse an dem fernen Land), und das haette ihn verletzt, sie gefiel ihm einfach zu gut, und sie wuerde Martin genauso gefallen, auch wenn dies fuer ihn, Richard, hundertmal ohne Bedeutung war, und sicherheitshalber sagte er: "Uebrigens glaube ich, er wird wieder mit Ellen zusammenkommen. Ich habe die Beiden heute bei der Demo gesehen, sie wirkten unzertrennlich." Sie wollte sagen: "Vielleicht sieht das im Moment so aus. Mit Ali laeuft ja nichts mehr, das hab ich schon mitgekriegt, aber glaub mir, wenn eine Beziehung erst mal einen solchen Knacks weg hat, ist sie nicht mehr zu retten, das hab ich am eigenen Leib schon erlebt, und mehrmals auch bei anderen Leuten", doch sie verschwieg diese Weisheit, sie wollte nicht, dass er glaubte, Martin gefalle ihr, die Vorstellung stoerte sie irgendwie, und Martin war sowieso nicht ihr Typ, wieso sollte er etwas annehmen, was gar nicht stimmte, obwohl es andererseits egal war, was Richard annahm, ausser sie fuhr tatsaechlich mit ihm nach Finnland, dafuer war so ein Gefuehl, wenn es sich in seinem Kopf festsetzte, keine gute Voraussetzung, es wuerde ihn mindestens irritieren und womoeglich die Reisestimmung verderben, so gut kannte sie inzwischen die Maenner, sie waren in allen Dingen eifersuechtig und neidig, auch in solchen, die ueberhaupt nichts mit ihnen zu tun hatten. Stattdessen begann sie von Finnland zu schwaermen. Sie habe mal einen Film ueber Lappland gesehen ... und die Musik von Sibelius, Waelder, Felder, Karelien und vor fernen Huegeln Doerfer, die sich in die Landschaft ducken ... es koenne gut sein, dass sie die alte Reiselust wieder packe. Natuerlich habe er nichts dagegen, wenn sie mitfahre, jedoch werde er Martin fragen muessen, sagte er zurueckhaltend. - Objektiv gesehen wuerde wenig fuer ihn herausspringen, wenn sie mitkam. Einen schoenen Abend konnte man mit ihr verbringen, da hatte er sich unter Kontrolle, aber auf so einer Reise und im Trio mit Martin konnte manches aus dem Takt geraten. Sie fasste seine Zurueckhaltung als Billigung auf. Richard benahm sich eigentlich immer zurueckhaltend, ganz egal wie er einem Vorschlag gegenueberstand, mochten die Leidenschaften noch so hoch wallen, nichts davon pflegte sich in seinem Gesicht zu spiegeln, man konnte sich niemals ein Bild machen, was in seinem Innern vorging, und so nahm jeder, der ein Bild von ihm brauchte, gewoehnlich das, was ihm am besten in den Kram passte. Sie begann Plaene zu schmieden, fuer die Ueberfahrt, welche Orte und Himmelsrichtungen man ansteuerm, welche Kulturschaetze man sich unbedingt ansehen musste, und erklaerte ausfuehrlich, nach welchen Regeln in ihrer Firma der Urlaub verteilt wurde, und als sie fertig war, sagte er beilaeufig: "Wir koennen mit Interrail billig bis Helsinki fahren und noch weiter, Zuege und Faehren alles ein Preis", und da merkte sie endlich, sie gehoerte nicht richtig dazu, sie wuerde das preiswerte Ticket nicht kriegen, sondern den teuren Tarif zahlen muessen, weil sie zu alt war, und das isolierte sie von den beiden Jungen, sie war zu alt, und dies missliche Ungleichgewicht wuerde waehrend der ganzen Fahrt fortbestehen, und brachte sie auf ein anderes Thema, welches auch mit dem Altersunterschied zu tun hatte. "Die WG duerfte in naechster Zeit ganz schoen Schwierigkeiten kriegen, ich meine die Kuendigung", sagte sie zoegernd. "Ja, sie haben die Kuendigung tatsaechlich ausgesprochen." "... und keiner weiss wie es weitergeht ... Das Problem ist mir in den letzten Tagen erst richtig bewusst geworden, vorher habe ich mich kaum darum gekuemmert, und immer geglaubt, die Drohung sei nicht ganz ernst zu nehmen, die Behoerden planen viel ... Aber jetzt ... mir ist klargeworden, ich kann so nicht leben ... ich meine, nicht zu wissen, wo ich am naechsten Tag mit meinen Klamotten hin soll, ich bin fuer sowas einfach zu alt. Ich mache mir jetzt staendig Sorgen; ich moechte mir aber nicht das ganze restliche Jahr Sorgen machen, wozu soll das gut sein, das zieht die ganze Stimmung runter, also kurz und gut, ich habe beschlossen, auszuziehen. Nicht heute oder morgen, ich muss ja erst eine Wohnung finden, aber in den naechsten zwei drei Monaten. Ich moechte, dass du Bescheid weisst und mich bei euren Aktionen nicht einplanst, gegen die ich natuerlich nichts habe, aber wie gesagt, ich fuehle mich dafuer zu alt. Und nochwas: Ich moechte, dass du mich in meiner neuen Bleibe oefters besuchst. An unserer Freundschaft ist mir sehr gelegen, das sollst du wissen, du bist ein ruhiger Pol in meinem hektischen Leben, der mir hoffentlich noch lange erhalten bleibt." Er ignorierte die Lobeshymne und sagte enttaeuscht: "Ja aber eben hast du mir noch von deinen Reiseabenteuern erzaehlt und wie spannend du es findest, Neues zu erleben. Und jetzt haettest du die Gelegenheit ... im Herbst wird hier garantiert die Post abgehen ..." "Ach, das ist doch was anderes", sagte sie leise. "An dieser Art Aufregung bin ich nicht interessiert, allein schon weil ich zusehen muss, jeden Morgen zur Arbeit zu kommen, es faellt mir sowieso schwer, jeden Tag so frueh anzutreten, und wenn ich keine sichere Bleibe habe, komme ich total aus dem Rhythmus. Ausserdem will ich nicht nur wegen der Kuendigung ausziehen. Ich fuehle mich bei euch generell nicht besonders wohl. Das Leben in der Klopstockterasse ist mir zu, zu ... primitiv, entschuldige wenn ich das sage, ich wuerde es gern etwas bequemer haben, eine eigene Wohnung mit Zentralheizung zum Beispiel. Fuer Euch ist es wahrscheinlich genau richtig, es entspricht euren Ideen, aber meine Vorstellungen gehen in eine andere Richtung. Ich bin damals wegen Karsten hier eingezogen, den ich frisch kennengelernt hatte, und weil gerade ein Zimmer frei war, aber nun ist es mit Karsten mehr oder weniger vorbei, und das Haus soll verkauft werden, und ich sehe da fuer mich keine Perspektive mehr. Ich habe mich nie hundertprozent bei euch eingewoehnt und zu Einigen, besonders Birgitta, ein ziemlich schlechtes Verhaeltnis. Sie und Werner hacken staendig auf mir rum, weil ich so chaotisch und unordentlich bin. Sogar Ali ist das aufgefallen. Als wir neulich in der Kueche sassen und Birgitta ging nach oben, hat er einen Witz daraus gemacht und sich dabei halb totgelacht. Er hat haarscharf aufgezaehlt, dass ich jedesmal mindestens sechs Fehler mache, wenn ich abends heimkomme. Ich gehe in die Kueche und lasse die Tuer auf, ich schmiere mir ein Brot und benutze fuer die Leberwurst das Brotmesser; dann trinke ich Kaffee und stelle die gebrauchte Tasse statt auf die Ablage direkt ins Spuelbecken; ich gehe ins Bad, putze mir die Zaehne und lasse verbotenerweise meinen Kulturbeutel auf der Waschmaschine stehen; und wenn ich rausgehe, lasse ich das Licht brennen und mache wieder die Tuer nicht zu." Dazu fiel ihm wenig ein. Sollte er sagen, wie unpraktisch oder manchmal auch seltsam er ihre Schlampigkeit fand? Das fuehrte zu nichts, sie wuerde ihr Verhalten doch nicht aendern, weil es exakt ihrem Charakter entsprach, und ihrer Vorstellung von Gemuetlichkeit und Sich-gehen-lassen, und vielleicht war es wirklich besser, wenn sie allein lebte, da kam ihr keiner in die Quere, und sie konnte nach eigener Facon selig werden. "Dann euer komischer Kontrollmechanismus mit dem Putzplan", fuhr sie atemlos fort, sie redete sich richtig in Rage. "Wer geputzt hat, darf im Kalender ein Kreuzchen machen. Aber ich kriege das nicht auf die Reihe. Die Woche vergeht, und ploetzlich ist Sonntagnacht, und wo fehlt das Kreuzchen? Anschliessend geh ich vielleicht noch ins Casablanca, seh die andern dasitzen und weiss schon, morgen werden sie sagen: du hast wieder nicht geputzt." "Wir haben abgestimmt. Die Mehrheit war fuer den Putzplan", sagte er, "so wie es vorher lief, ging es nicht weiter." "Und dann hat Ali tatsaechlich gesagt - ob das ganz ernst gemeint war, weiss ich nicht - ", und sie versuchte die hohe nasale Stimme nachzuahmen, "'Vielleicht solltest du mal in einer politischen Organisation mitarbeiten, um zu lernen, dass eine gewisse Struktur notwendig ist.' Das ist unglaublich, findest du nicht?" "Ja, ja", sagte er nur, "die immer mit ihren Strukturen und Organisationen"; und das befriedigte sie seltsamerweise, und sie kam dann wieder auf die Finnlandreise zurueck und wollte ihn auf einen Termin festlegen, obwohl er gehofft hatte, sie wuerde das Thema fallenlassen. "Wir werden irgendwann zwischen Mitte Juli und Ende September fahren", sagte er widerwillig. "Im September sind die Uebernachtungen billiger, aber wahrscheinlich ist Finnland dann schon zu kalt ..." "Die Sommer sind dort insgesamt ziemlich kuehl, der Juli ist noch der waermste Monat, aber der August soll auch sehr empfehlenswert sein." "Na gut, fahren wir im August." Er hatte keine Lust, jetzt solche Details auszumachen, erstens war es schoener, eine Reise einfach auf sich zukommen zu lassen und zweitens mussten sie sowieso erst mit Martin sprechen. "Juli, August, September - ihr Studenten habt wirklich lange Ferien", sagte sie neidisch, "und dasselbe im Fruehling noch mal!" "Im Fruehling sind sie nicht ganz so lang, und man kann auch nicht soviel mit ihnen anfangen, weil es meist kalt und regnerisch ist, das Sommersemester faengt schon Ende April an." "Trotzdem - so viel Freizeit moechte ich auch mal haben. Darum beneiden euch alle Normalverdiener, die von morgens bis abends in ihrer Tretmuehle stecken. Ich kann das voll nachvollziehen, bin froh, mir mit Anfang 20 ein paar Jahre Auszeit gegoennt zu haben, aber bei euch geht das ueber viele Jahre, die meisten brauchen ziemlich lang fuer ihr Studium - und hinterher finden sie nichts. Eine Kollegin von mir ist Diplomsoziologin, und arbeitet jetzt als Sekretaerin, genau wie ich mit meiner bescheidenen Lehre. - Was willst DU eigentlich machen, wenn du fertig bist", setzte sie neugierig nach. Die Frage war ihm schon oft gestellt worden, allzu oft, die gesamte Erwachsenenwelt schien permanent neugierig, wie sich die Studenten ihre Zukunft vorstellten, die schlechten Berufsaussuchten geisterten durch alle Medien. Am aergsten traf es Leute wie Martin, die Philosophie studierten oder ein anderes nutzloses Fach, die wurden staendig geloechert, was sie spaeter damit anfangen wollten, so dass sie ganz zappelig wurden und ihr Selbstvertrauen dahinschwand und manche fuehlten sich bald ihrem Fachgebiet nicht mehr gewachsen, denn natuerlich hatten sie keine Ahnung, wohin ihre Wahl sie fuehren wuerde. Wer Philosophie studierte, durfte seine Gedanken gar nicht in diese Richtung gehen lassen, sonst lief er vor Sorgen ueber und konnte gleich aufstecken. Maschinenbau, das hoerte sich zwar praktisch, nuetzlich und rationell an, aber die Industrie stellte viel weniger Ingenieure ein, als momentan ausgebildet wurden, das lag am Geburtenueberschuss in den 50er Jahren, und es gab angeblich serioese Berechnungen, nach denen sich diese Situation auf laengere Sicht nicht aendern wuerde, mindestens 15, 20 Jahre nicht, und solange, wurde unterstellt, wuerden diese armen Wuerstchen arbeitslos sein, man konnte das nachgerade als Aufforderung betrachten, sein Studium hinzuschmeissen, auf jeden Fall demotivierte und verunsicherte es die Studenten, der Wert der Ausbildung sank in ihren Augen auf den absoluten Nullpunkt, und manche machte es derart depressiv, dass sie behandelt werden mussten. Alle diejenigen aus der aelteren Generation aber, die es irgendwie geschafft hatten, in eine halbwegs gesicherte Position hineinzurutschen, ergoetzten sich an der Unsicherheit und hackten hartnaeckig in der Wunde herum. Er hatte sich ein Sammelsurium von Reaktionen zugelegt, welche er ebenso beharrlich abspulte, ohne dass ihm diese halfen, die unangenehme Stimmung zu vertreiben, die solche Fragen unweigerlich verbreiteten und den Gespraechspartner nicht eben sympathischer machten (so attraktiv er auch sein mochte). "Ich weiss nicht genau, vielleicht gehe ich in den Entwicklungsdienst", erwiderte er gepresst. Das passte zu seiner sozialen Ader, und liess die Leute normalerweise nicht nachhaken, oder wenn, dann konnte man sich ueber den Entwicklungsdienst allgemein unterhalten, und war damit schon halb von dem Reizthema weg, weg vom ueberschwemmten deutschen Arbeitsmarkt. In Wirklichkeit hatte er null Bock auf Entwicklungsdienst; es kollidierte mit seinen technischen Interessen, irgendwo in der Wueste alte verstopfte Wasserpumpen zu reparieren, und womoeglich in eine Stammesfehde zu geraten und en passent von rivalisierenden Banden niedergemetzelt zu werden. Immerhin, vielleicht war es da unten einfacher, eine Frau zu finden, dachte er hysterisch, die waren froh, wenn jemand sie aus der Steinzeit herausholte, das koennte eine echte Moeglichkeit sein, wovon sich traeumen liess, mit deutschen Frauen war ja kein Anfang zu machen, die richteten gleich ihren Abwehrwall auf, wenn er auf sie zukam. Und auf einmal war ihm die Schoenheit des Abends verdorben, der Stein, auf dem sie sassen, kam ihm eiskalt vor, und schmutzig, die Baeume schwiegen abweisend, und in der Luft hing ein sonderbarer Chemiegeruch, der seinen Atem zum Stocken brachte. Er hatte keine Lust mehr, hier hocken zu bleiben, wollte sich in sein Zimmer zurueckziehen, in irgendein Buch verkriechen, egal ob Maschinenbau oder Philosophie, irgendein interessantes Thema, womit man sich ablenken konnte, was interessierte ihn die Zukunft, die war weit weg, und er war jung, wenn er nur in der Gegenwart gluecklich waere, oder wenigstens in Ruhe gelassen wurde! Abrupt sprang er auf und beendete den gemeinsamen Abend; ging zuhause gleich auf sein Zimmer, schaltete den Fernseher ein und liess sich entnervt aufs Bett fallen. 11 Uhr, die Nachrichten. Dann lief '12 Uhr mittags', er hatte den Film vor Jahren, als Teenie, schon mal gesehen, und keine besondere Erinnerung daran. Halt irgendso'n Western, dachte er, aber es war eine weise Entscheidung, den Fernseher anzulassen, denn die Qualitaet mancher Dinge entfaltet sich erst mit dem Alter, dem eigenen wohlgemerkt, und der Film war ihm hinterher immerhin eine Tagebucheintragung wert: "Sah '12 Uhr mittags' von Zinnemann wieder, 1952 gedreht, und war von seiner minimalistischen Diktion begeistert. Hatte geglaubt, Sheriff Kane wuerden am Ende seine Fellow-Citizens doch noch beispringen; aber nichtsda, ein herrlich existentialistisches Werk! Von all seinen Kameraden rafft sich am Ende nur die Ehefrau auf, einen Gangster zu erschiessen. Unter allen Buergern der Stadt, fuer die er jahrelang sein Leben riskiert hat, gibt es nicht einen verlaesslichen Freund. Jenseits von Ehe und Familie scheint keine tiefere menschliche Bindung zu existieren ... Doch auch fuer Kane ist das Motiv, in der Stadt zu bleiben, nicht die Ehre oder sonst ein metaphysicher Hokuspokus, nein, es ist technischer, taktischer Art, er meint, die Verbrecher dort besser stellen zu koennen. Diese Hoffnung erfuellt sich nicht, stattdessen wird er von seinen Mitbuergern im Stich gelassen und sogar zusammengeschlagen, weil man ihn loswerden will, bevor die Banditen auftauchen. Wozu arbeitet jemand in einem Gemeinwesen, in dem er keine wirklichen Freunde hat? Und wofuer kaempft er? Ist das nicht Pflichterfuellung ad absurdum? Dieser Schluss wird von Zinnemann nahegelegt, auch wenn der Sieg Ueberleben bedeutet, denn der Stern liegt im Staub, und Cooper reitet davon mit der Frau und nichts sonst in der Hand. In seinem Kampf und Nicht-Fliehen liegt wenig Sinn. Und vielleicht hat er auch weniger mit Pflichtbewusstsein zu tun als mit dem Sosein der meisten Menschen, die nicht anders koennen als ihre Rolle zu Ende spielen, auch wenn sie dadurch an den Abgrund gefuehrt werden. Die Fuehrer aber, die Buergermeister und Bankdirektoren, die mit den Banditen verhandelt haben und in der Stadt weiter den Ton angeben werden, sind von anderem Kaliber, flexibler und nachgiebiger, sie passen Moral und Verhalten den aeusseren Bedingungen an; selbsternannte Eliten, die angeblich das Sozialwesen voranbringen; in Wahrheit Interessengruppen, Minderheiten, denen ihre Privilegien ueber alles gehen. Natuerlich ist Nonkonformismus nicht per se positiv, und ein Verbrecher, der die Welt herausfordert, kein Held. Von denen rede ich nicht, sondern von solchen Aussenseitern, die die Wahrheit und Menschlichkeit lieben und mit der Verlogenheit der Gesellschaft nicht zurechtkommen. Sie sind die Antithese zur gesellschaftlichen Lobby. Sie machen sich um das Sozialwesen nicht verdient. Wenn ueberhaupt, gehoeren sie zu der imaginaeren Elite, von welcher Martin neulich gesprochen hat, und die unter gewoehnlichen Umstaenden nicht in Erscheinung tritt, da es ihr nicht um Rang, Einfluss oder Anerkennung geht, sondern um ganz andere Ziele ... Das Gegenteil der Aussenseiter sind die, welche um jeden Preis dazugehoeren wollen. Solche Leute definieren erst eigentlich, was 'dazugehoeren' heisst, sie erzeugen den noetigen Innendruck, damit eine geschlossene Gruppe entsteht. Ihre Gier mitzuspielen ist notwendige Voraussetzung, um Dritte von der Teilnahme auszuschliessen. Leute wie Papadorakis sind gewiss keine Outsider, in ihrer Szene sind sie Insider, Platzhirsche, die die Leute anfuehren. Und die Meisten lassen sich allzu gern anfuehren." Als er diese Saetze schrieb, hatte er eine Art Vision ueber den sich aller Rollen verweigernden Martin: 100 Jahre Einsamkeit, ohne Beschaeftigung fuer den Philosophen in einer die Natur immer effektiver ausbeutenden Welt, die sich wie ein Perpetuum Mobile um sich selber drehte, wo die sinnlose Taetigkeit des Einen die des Anderen rationalisierte und alles endlich in einen grossen Mahlstrom taumelte, aus dem sich niemand mehr befreien konnte. Er hoerte Ali heimkommen, unwillkuerlich glaubte er auch Ellen sei dabei, bis ihm einfiel, die beiden waren ja nicht mehr zusammen. Er wuerde Leute wie Ali, Ellen oder Britta nie verstehen. Fuer ihn bedeutete der Beischlaf das Aeusserste an Zuwendung und Liebe, man kam sich so nahe dabei!, ideale Gelegenheit, die uebermaechtige und alle Lebensbereiche durchdringende Isolation und Entfremdung zu besiegen. Und was machten die Leute daraus? Den vielen kleinen Schmutzigkeiten, die man mit der Sexualitaet erlebte, weil der Trieb sich nun einmal vermehren wollte, und im entscheidenden Augenblick ueber alles, wirklich alles sich hinwegsetzte, konnte anscheinend keiner entkommen. Richard war kein Verfechter rigider Moralvorstellungen, befand aber instinktiv, die 'neue Sensibilitaet', von der alle redeten, verpflichte auch zu einer neuen Moral. Ali zum Beispiel, der wuerde es bezweifeln, ein abgeklaerter Pragmatiker der Gleichheit, der kein gut und boese kannte, fuer ihn war das Leben eine gleichsam wissenschaftliche oder medizinische Operation auf rein materiellem Hintergrund. Das erleichterte seine Rechtfertigungen und half ihm, die eigenen Probleme unter dem Teppich zu halten. Dass er mit so vielen Frauen seinen Spass hatte, war nur die eine Seite; schliesslich musste es Gruende geben, warum sie sich alle an einem bestimmten Punkt von ihm abwandten. Gut, man wusste nie, was in solchen Liebschaften vorging, aber dass das alles ganz normal war, konnte er seiner Oma erzaehlen. In Wahrheit lag bei Ali einiges im argen, eigentlich war auch er ein Aussenseiterkandidat ... jedoch einer von der uebleren Sorte. Richard ahnte, dass er sich im Kartenhaus der menschlichen Verhaltensgestoertheiten nie zurechtfinden wuerde. Jeder lebte nur so dahin und bog Wahrheit und Wirklichkeit nach eigener Facon zurecht. Da aber alles ins Irrationale eingebettet war, wie sollte sich die Vernunft jemals durchsetzen?