+++s4.unx Februar 1976 Mit Hunderten von Pendlern sass Richard(6) eingepfercht in der S-Bahn, auf dem Weg zu seinen Vorlesungen in Harburg. Der Widerstand der Studenten hatte sich als Windei entpuppt, oder als Rauch ohne Feuer, jedenfalls als nicht beharrlich genug, und die Politik ihren Willen in kuerzester Zeit vollstaendig durchgesetzt, es war alles viel schneller gegangen, als sie fuer moeglich gehalten hatten. Muede stuetzte er das Kinn auf die Handflaeche, waehrend er vor den am Fenster vorbeifliegenden Baeumen die Augen schloss; dann blinzelte er zu den anderen Fahrgaesten und ueberlegte, was fuer ein Leben sie fuehren mochten. Die acht Plaetze in seinem Abteil konnte er genau ueberblicken. 1 2 Gang 3 4 5 6 Gang 7 8 Gegenueber sass ein Mann(2) mit einer unfoermigen Rechenmaschine auf dem Schoss, kerzengerade um die 40 mit Bart, erste Spuren des Alterns im Gesicht, und klickte emsig auf die Tasten. Wie konnte man so frueh am Morgen schon so rege sein? Und raumgreifend, es scherte ihn wenig, dass er Richards Knie mit seinem Instrument zur Seite drueckte. - Das Herumgeklicke schien ihm Spass zu machen, doch beindruckte er niemand damit, die meisten gaehnten ihn an. Gleich wuerde er in seinem Buero sein, wo eine Menge solcher Apparate herumstanden, Leiter einer EDV Verwaltung, das war sein beschraenktes zufriedenes Leben. Schraeg rechts luemmelte ein juengerer Mensch(3) mit markanten Zuegen, und tauschte Blicke mit Nummer 5. Bartstoppeln am Kinn, erotisch erfahren. Bis jetzt beruflich erfolglos, hatte nichts, was ihn ausfuellte; doch wuerde er seinen Weg machen, mit seiner Ausstrahlung bald einen krisenfesten Job finden und gar nicht schlecht verdienen dabei und sich einen relativ aufwendigen Lebensstil leisten. 5 war eine herbe Blondine, die unwillig ihre Tasche weggeraeumt hatte, als Richard in Altona zugestiegen war und ihn seither keines Blickes mehr wuerdigte. Sie studierte Geographie(Lehramt) und wohnte mit ihrem Freund, einem Bankangestellten, in Pinneberg. Aus ihrer beider momentan recht unterschiedlichen Form der Betaetigung resultierte ein subtiles Gefaelle von Stil und Lebensanschauung, welches die junge Frau fuer Flirts anfaellig machte (mit Nummer 3 zum Beispiel; auch wenn sie nicht wusste, wie sie reagieren wuerde, falls er sie anquatschte). Doch keine Angst: abgesehen von der Frage, ob sie ihm ueberhaupt gefiel, hatte er in der morgendlichen Hektik sowieso keine Zeit dazu ... und ausserdem eine feste Freundin und mindestens noch eine andere, mit der er gelegentlich schlief. Richard vermochte sich nicht vorzustellen, wie diese Frauen aussahen und wie der andere sie kennengelernt hatte, eins war allerdings sicher: sie hatten es ihm wunderbar leicht gemacht, er hatte nicht gross hinter ihnen herrennen muessen. Auf den Fensterplaetzen 4 und 8 sassen zwei junge Frauen, dunkelhaarig, eine schlank, die andere fuelliger ohne dick zu sein; sie kannten sich, waren zusammen eingestiegen, aber redeten wenig. Die Fuellige hatte ihr dichtes Haar zu einem festen Zopf geflochten, ihre Haut war gesund und rosig. Sie guckte dreimal schnell zu ihm hin (und viermal zu dem anderen Juengling), aber er war zu muede fuer irgendwelche Reaktionen, und doeste, und spekulierte, wohin das Leben sie fuehren wuerde. Die beiden studierten Sozialpaedagogik an der Harburger Fachhochschule, das war es, und wohnten noch bei den Eltern, und schlugen niemals ueber die Straenge. Die Schlanke hatte einen Pagenschnitt und sehr grossporige Gesichtshaut und einen Freund, bei dem sie manchmal uebernachtete. Die Dickliche haette auch gern einen Mann, mehr erwartete sie nicht vom Leben. Auf 1 sass ein Polizist, ordentliche Buegelfalte in der gruenen Uniformhose; las irgendso ein Katastrophenbuch ueber den bevorstehenden Weltuntergang, worin alle moeglichen technischen oder sonstige Unheile genau beschrieben waren, und Vorkehrungen, ihm zu entgehen - eine weichgespuelte, in Schlips und Kragen verpackte Version der Apokalypse, an der man sich wohlig reiben konnte, und als deren Vorbote jener die marginalste Unordnung empfand, jedes Staubkorn auf der Hose stoerte ihn und musste gnadenlos beseitigt werden. - Harburg. Von der Bahnstation begab er sich auf gewundenen, neu angelegten und von mikrigen, unentschlossenen Baeumchen gesaeumten Pfaden zu den Neubauten der Fakultaet. In der Ferne wurden Dutzende weiterer Gebaeude hochgezogen, unaufhoerlich lieferten Transporter Material an und hohe Kraene schwenkten schwere Lasten durch die Luft (lautlos, denn der Laerm veroedete in der Weite der laendlichen Landschaft). Das Institut fuer Maschinenbau war eine seltsame, von Stahlrohren stabilisierte Konstruktion, bis zum obersten Stock mit Blechen und Leitern verkleidet. Schwer zu sagen, ob man bei dem Bau nur Understatement gepflegt oder zuwenig in die Substanz investiert hatte, das wuerde sich erst viel spaeter erweisen. Was hinter den Mauern studiert wurde und womit Richard dort seine Zeit vertat, ist fuer die Geschichte unerheblich. Spaetnachmittags jedenfalls waren die Vorlesungen vorueber und man strebte zurueck in die Stadtteile, wo man wohnte und seine Freizeit verbrachte. Richard liess sich mit hunderten Studenten zur Station treiben, wo sie wie brausende Brecher in die einlaufende Bahn schwappten. Um ihn her sassen fast lauter Freunde und Bekannte: Micha Nastvogel-Woerz, Hans-Detlev Olsen, den sie Ole nannten, und Kuno und Mutzel, von denen er nur die Spitznamen kannte, weil er nicht viel mehr mit ihnen zu tun hatte, als in Hoersaelen und Uebungsraeumen beisammen zu hocken, technisches Wissen aufzunehmen oder auszutauschen und zuweilen kindisch herumzualbern. Kuno(1) Richard(2) Gang 3 DieMutter(4) Mutzel(5) Ole(6) Gang Micha(7) DasMaedchen(8) "Habt ihr gestern Hallervorden gesehen? Die Wiederholung?" "Nein, ich habe FC St. Pauli gegen Bayern ..." "Das war vielleicht ein Gekeckere in dem einen Spot?" "Sie haben's tatsaechlich gebracht, zweimal die gleiche Werbung hintereinander." "Ich hab da nich viel von gesehen, musste den Abwasch machen. Hast du's gesehen?" "Der HSV hat sich auch total blamiert." "Waa geil, nae? Wo ist der Blinker, ... wo ist der BLINKER?" "Ey Mann, gestern wollte ich in der Uni fuer kleine Maedchen, und vor mir ging noch ein anderer rein. Erst durch den Waschraum, und dahinter der Raum mit den Klos. Gleich wo man reinkommt ist zwischen den Urinbecken und der ersten Klotuer ganz wenig Platz. Ploetzlich rauscht das Wasser in der Schuessel, die Tuer wird aufgestossen und knallt dem vor mir voll an den Kopf. So was hab ich noch nicht erlebt, Mann, der hatte vielleicht ne Beule! Und der Andere hat sich ueberhaupt nicht entschuldigt." Redeschwall huellte ihn von allen Richtungen ein. Eigentlich war er im Moment nicht zum Juxen aufgelegt, konnte sich aber der Dynamik des Jargons nicht enziehen. Micha war da konsequenter. Ein ernsthafter Zeitgenosse mit eifrigem Interesse an jederart von elektronischen Schaltungen und mechanischen Konstruktionen, hatte er sich auf die andere Seite des Ganges plaziert und gar nicht erst versucht, sich an den Spaessen zu beteiligen, sondern gleich eine Zeitschrift aus der vom Vater geerbten krachledernen Aktentasche gezogen und sich darin vertieft, ein Fachmagazin mit einem grossen silberglaenzenden Oszilloskop auf der Titelseite und worin es vor Frequenzsignalen und Signalsequenzen und Fachausdruecken wie 'Phasen-daempfungs-faktor' nur so wimmelte. Er war unsportlich und verachtete die Hirnlosigkeit jeder Koerperertuechtigung; doch es gelang ihm, mit kompetenten oder Kompetenz ausstrahlenden Reden den linkischen Rhythmus seiner Koerpersprache zu ueberspielen. Waehrend die meisten Menschen komplexere Zusammenhaenge meist nach kurzer Zeit vergessen, sich nur an Schlagworte erinnern und den Rest in Buechern oder Aufzeichnugen nachschlagen muessen, war Michas Kopf ein wandelndes Ingenieurslexikon und hatte zu den abseitigsten technischen Themen etwas beizutragen. Er trug eine starke Brille, Modell Kassengestell, was ihm nicht das Geringste ausmachte, und seine Haare waren sorgfaeltig nach vorn gekaemmt und endeten exakt 1 cm ueber den Augenbrauen. Inneres wie Aeusseres, das laesst sich ohne Uebertreibung sagen, verkoerperten die hoechste Stufe, die Avantgarde des technokratischen Ideals. Er liess sich von nichts aus der Ruhe bringen und haette seine Zeitschrift wohl auch heute von der ersten bis zur letzten S-Bahn Minute gelesen, um auch ja nicht eine Sekunde Lebenszeit zu vergeuden, waere nicht fortwaehrend ein empfindlich kalter Luftzug ueber seinem Kopf gezogen. Hals, Nase und Ohren, das waren seine Schwachstellen, seitdem er als Abiturient eine Mittelohrentzuendung verschleppt hatte, um an einem Industriepraktikum teilzunehmen. Sobald im Herbst die Temperaturen fielen, suchte er Schals, Muetzen und Ohrschuetzer aus dem Schrank und verhuellte sich bis zum Fruehjahr darin. Nachdem er festgestellt hatte, dass einfaches Hochziehen des Kragens keine Abhilfe schaffte, war er gezwungen, seine Zeitschrift beiseite zu legen, sich zu erheben, ueber seine Nachbarin zu beugen (ein Vorgang, welcher ihm ausserordentlich peinlich war) und mit einem Ruck den offenen Fensterspalt zu schliessen. Die beiden Damen sahen nicht eben erfreut aus, es war ihnen zu stickig hier, da nicht alle anwesenden Studenten des taeglichen Waschens sich befleissigten, sie hielten aber vorlaeufig den Mund. Im Keller seiner Eltern hatte Nastvogel einen Arbeitsraum eingerichtet, eine Art Universalwerkstatt fuer Mechanik, Elektronik, Chemie, Vakuumtechnik und so weiter, und in den Schubladen seiner Werktische huetete er so elitaere Geheimnisse wie einen selbstgeschliffenen Hohlspiegel, der einmal in ein Teleskop eingesetzt werden sollte, dessen automatischen Antrieb er noch entwickeln wollte, Kupferplatinen mit Schwingkreisen fuer sich selbst regelnde Funksender und braune, dickfluessige Loesungen, mit denen hochreine Siliziumoberflaechen hergestellt werden konnten. Doch wollen wir unsere Nase nicht zu tief in sein Labor stecken, da es dort entsetzlich nach Chemikalien roch. Kuemmern wir uns stattdessen um Richard, auch er still dasitzend - ein Aussenstehender haette niemals erraten, was in ihm vorging, oder ob ueberhaupt etwas in ihm vorging, waehrend er die Freunde beobachtete, wie sie hingebungsvoll herumbloedelten. Sein Blick wurde von dem Maedchen(8) angezogen, 16 oder 17 und voll geschlechtsreif, sie hatte etwas geradezu aufdringlich fruchtbares an sich (was anscheinend selbst Micha irritierte), und besonders fiel ihm das helle Handgelenk auf. Wenn sie waehrend der Unterhaltung mit ihrer Mutter den Arm drehte, so dass es ganz sichtbar wurde, haette er schier durchdrehen koennen. Und alldas (sein Fast-Durchdrehen) wurde vom rhythmischen Schaukeln des Zuges begleitet, das doch nicht vollkommen periodisch, nicht vollkommen mechanisch war, sondern an den Vorgang des Geschlechtsaktes erinnerte, und er fragte sich, ob Frauen dieses Geschaukel anders empfanden, weil sie es mit anderen Erfahrungen, einer anderen Sichtweise der Liebe in Verbindung brachten, inwieweit also die weibliche Lust von der maennlichen sich unterschied; nicht das ganze Drumherum, das war bei Frauen sowieso anders als bei Maennern, auch wenn dies in einschlaegigen Illustrierten bezweifelt wurde, nein, das Zentrum der Lust, den Vorgang, wenn sich das Glied an der Scheidenwand rieb, den mussten sie anders empfinden. Auf was fuer'n Schwachsinn man kam, wenn man seit Monaten keine Frau gehabt hatte! - besonders angesichts dieser Lolita, die so nah schien und doch so weit entfernt war, und er zwang seinen Geist auf das Geschwaetz der Kommilitonen zurueck, und schallt sich seiner Fixierung, besonders als die Kleine ihn endgueltig keines Blickes mehr wuerdigte, Sex und immer wieder Sex, darum kreisten alle Bewegungen der lebenden Materie. - Aber musste man dem Trieb immer nachgeben? Nein, man konnte sich ablenken auf verschiedene Weise, mit billigem Ulk oder elektronischen Schaltkreisen. Sein Blick wanderte zu ihrer Mutter herueber. Ob sie frueher genauso huebsch war wie die Tochter? Sicher von anderer Art huebsch, dachte er, sie war ein dunklerer Typ, mit jetzt ganz grauen Haaren. Bei aelteren Frauen war es meist schwer, sich vorzustellen, wie sie frueher ausgesehen hatten, genau wie man sich bei den Juengeren, besonders den attraktiven, kaum vorstellen konnte, wie sie spaeter aussehen wuerden, zu stark dominierte die sexuelle Anziehungskraft (oder die maennliche Wahrnehmung derselben) die uebrigen Zuege. Wenn man die Alte genau fixierte und danach die Augen schloss, liess sich aber doch ein ungefaehres Bild von ihr als junger Frau entwerfen, eine vormalige Schoenheit erahnen, sie schien auf wie ein kurzer Lichtblitz, welcher die Vergangenheit erhellte und die Falten verdraengte, jedoch viel zu schwach, um die Generationen sexuell einander anzunaehern. Hinten im Abteil entstand Bewegung, die Tuer wurde geoeffnet und zwei seltsame dunkle heftig gestikulierende Gestalten schwankten herein, fanden keinen Platz in dem uebervollen Waggon und blieben neben ihm stehen, um die 50, in dunklen Anzuegen mit Mienen wie Sargtraeger, und zu geschaeftig in ihrer Debatte, um die uebrigen Fahrgaeste auch nur wahrzunehmen, besonders der eine, der wie mit Trommeln auf den andern einredete, ueber einen Vortrag an der Sternwarte sprachen sie, Wissenschaftshistorie, wie Heisenberg seine Wellenmechanik gegen Bohr verteidigt und Bohr dies gesagt und Heisenberg jenes geantwortet hatte, und jedesmal, wenn der Name Heisenberg fiel, lief Richard ein Schauer ueber den Ruecken, so andaechtig wurden die Silben geraunt, und der eine insistierte auf das Jahr 26, der andere meinte, es sei schon 25 gewesen, und Richard musste an die graue Bueste im Dekanat denken, diese sonderbare Trophaee, welche wie der praeparierte Kopf eines erlegten Wildes hoch oben aus der Wand ragte, und an Professoren, welche nach ihren Sitzungen darunter tuschelten, "Heisenberg is a nice young guy, everybody likes him" (Planck an Einstein). Doch selbst Nastvogel-Woerz, welcher am ehesten durch solche Diskussionen zu beeindrucken gewesen waere, hoerte nicht hin, er las seine Elektronikzeitschrift. Sic transit gloria mundi, nach den Heroen starben ihre Bewunderer, und die neuen Generationen interessierten sich nicht mal mehr fuer die Raumfahrt. "Das ist noch gar nichts", gackerte ploetzlich Kuno dazwischen, "ich war neulich zufaellig auf dem Lokus im 3. Stock, da ist immer wenig los, ausser ein paar Assis, die ihre Bueros da haben, verirrt sich kein Mensch dahin, und wollte gerade lospinkeln, da ertoent hinter mir ein piepsiges Stimmchen. 'Koennten Sie mir eventuell helfen?' Da war einer eingesperrt und kam nicht heraus, weil die Tuer klemmte, und er hatte sich nicht getraut, gross Radau zu machen und ein gemuetliches Stuendchen dort zugebracht." "Ja ... die Klos an der Uni sollten besser ausgestattet sein, wenigstens ein Klingelknopf hinter jedem Thron" ... "eine Sprechanlage zum Hausmeister" ... "ein Telefon" ... "eine Dusche", so ueberbot man sich gegenseitig, die Jugend triumphierte, sie liess sich nicht aufhalten, auch durch Heisenberg nicht. Und bevor die beiden Alten sich wieder konzentrieren konnten, erzaehlte Kuno weiter: "Und letztes Jahr war ich mit Interrail in Italien, ganz runter bis Positano, und schon als wir ueber den Brenner fuhren, war der halbe Zug besoffen und die Latrinen alle verstopft, von der Kotze oder weil die Leute Papier reingeworfen oder irgendwelchen anderen Scheiss gemacht hatten, aber denen, die ganz dringend mussten, war das egal, wenn du viel Bier gezwitschert hast und wirklich pinkeln musst, und hast es stundenlang aufgehalten, ab einem bestimmten Punkt ist dir egal wohin du schiffst, Hauptsache du kannst ueberhaupt ... die Schuesseln standen randvoll und das Wasser lief durch die Gaenge nach hinten, waehrend der Zug den Brenner hinauffuhr, und als es hinter der Grenze runter nach Italien ging, floss alles wieder retour, ich kann euch sagen ... es stank, und wer keinen Platz im Abteil hatte, sondern auf dem Gang sitzen musste, war arm dran, kann ich euch sagen, der musste zusehen, dass ihm Hintern und Rucksack nicht nass wurden." Richard fragte sich, warum er keine Frau fand. Bei Andern lief alles so problemlos. Sogar Mutzel hatte eine Freundin, sie sah zwar ziemlich buergerlich aus, mit Brille und glatten langen Haaren, eben wie die Freundin von Mutzel oder wie eine, die sich nicht traut, aber immerhin eine Freundin. Er wusste, dass er einen heimlichen Wunsch in sich hatte nach Familienglueck, nach Kleinfamilie, mit allem Drum und Dran. Vielleicht nicht gerade im Moment. Aber man erlebte es schon bei einigen aus den hoeheren Semestern, wo es Ruckzuck ging, die waren dann ploetzlich weg und sassen in irgend so einem Nest. Eigentlich abschreckende Beispiele. Eine Frau zu suchen war neben dem Studium inzwischen seine unerquicklich-unergiebige Hauptbeschaeftigung, das war traurige Tatsache, und alle anderen Interessen litten natuerlich darunter. Bei den Ingenieuren sah es mit Frauen generell schlecht aus, von daher haette man doch was anderes studieren sollen, Jobs wie Frauenarzt oder so, die waren ideal. Nicht nur wegen der vielen Krankenschwestern. Erst konnte man sich die Braeute bei der Untersuchung genau ansehen und die besten aussuchen und dann im Anschluss, bevor man sich von ihnen verabschiedete, war man allein mit ihnen und konnte hoeflich und beilaeufig fragen, ob sie Lust hatten, mit einem auszugehen. Wenn nicht, wars auch gut. So hatte man jederzeit alle Moeglichkeiten. Aber leider, der Zug war abgefahren, in Medizin war Numerus Clausus, und die Arbeit an sich reizte ihn auch nicht sonderlich. Ach Scheisse, diese Fantasien waren der reine Schwachsinn, dachte er wieder, kein Frauenarzt konnte es sich erlauben, staendig geil herumzurennen, und wenn die alten, kranken Weiber ankamen, war es mit der Geilheit sowieso vorbei. Ausserdem, 50 Prozent der Menschheit bestand aus Frauen und in seinem privaten Umfeld turnten eigentlich genug herum, das war gar nicht das Problem; nur irgendwie schien es fuer ihn die richtige nicht zu geben. Manchmal huschte die ideale Frau am Rande seines Blickwinkels vorbei, beim Einkaufen oder im Gedraenge von Bahnhoefen, und sie schien es immer besonders eilig zu haben, so dass er sie nicht genauer begutachten, geschweige anquatschen, und nur spekulieren konnte, dass es seine Idealfrau war ... - Und manchmal wurde er vor lauter Verzweiflung ueberheblich, dann fand er an Jeder etwas auszusetzen, und sei es nur, bei den Huebscheren, dass etwas Unwahres in ihren Blicken lag. Kunos Bloedsinnigkeiten drangen wieder an sein Ohr, das war schon ein Witzbold, der einen stundenlang unterhalten konnte, aber nur unter Freunden, bei Frauen und Fremden wurde er ganz klein und still, mit seinem Ohrring. Und man sah genau den Unterschied zu Ole, der ebenso gern redete, doch mit ganz anderer Koerperhaltung; waehrend sich Kuno laessig zuruecklehnte, straffte sich Oles Oberkoerper beim Sprechen, er beugte sich unmerklich vor, um dem Anderen ins Gesicht zu starren, und arbeitete viel mit den Haenden. Ole trug Stoffhosen, keine Jeans. Er war der Kommilitone mit den kuerzesten, schon schuetteren Haaren und fortwaehrend lachenden Augen; es war nicht so, dass er staendig vor guter Laune ueberschaeumte wie Otto, sein Laecheln war feinsinniger, subtiler, und doch auch Appretur seines Gesichtes, welche er abzulegen nicht in der Lage war, selbst wenn er etwas Negatives oder Trauriges mitzuteilen hatte. Er lebte allein in einer kleinen Eigentumswohnung in westlicher Richtung, die sein Vater angeschafft hatte und neuerdings wieder verkaufen wollte, weil ihm die Steuerersparnis nicht hoch genug war, und weil es Ole bequemer fand, fuer die restliche Zeit des Studiums nach Harburg zu ziehen, die Zugfahrt nervte gewaltig, er hasste oeffentliche Verkehrsmittel und mied sie, woimmer sie sich meiden liessen (und jeden Tag mit dem Auto von Lurup nach Harburg?, unmoeglich!, da kam man morgens aus dem Stau nicht heraus!) Er hatte sich ueber sein Leben nie viel Gedanken gemacht, das war auch nicht noetig, er wuerde eines Tages den Betrieb uebernehmen, das war so vorgezeichnet und er war auch bereit dazu. Einmal, 67/68, in der Rezession, hatte es Verluste gegeben und die kleine Fabrik stand angeblich kurz vor dem Aus, aber Ole hatte das Gerede nicht ernst genommen, er wusste, sein Vater wuerde durchhalten. Und dann waren staatliche Hilfen gekommen. Es schien niemand zu stoeren, und stoerte ihn selbst am wenigsten, dass er nicht recht zu Richards anderen Freunden passte. Bei Besuchen in der Klopstockterasse verkehrte er mit ihnen in einem saloppen unbekuemmerten Tonfall, der seine eigentlichen Ansichten verbarg, welche dort keinen Beifall gefunden haetten, mit Kalle, Dieter und Ali war er schon mehrmals einen saufen gegangen, noch vor der Zeit, als Ali mit Britta was gehabt hatte, sonst waere Dieter gewiss nicht dabeigewesen, er, Ole, hatte sie uebrigens waehrend ihrer Beziehung mit Ali in der Klopstockterasse kennengelernt, ein Rasseweib, war ihm gleich aufgefallen, mit einer unglaublichen Koerperlichkeit, und ziemlich chaotisch, und kuerzlich hatte er sie zufaellig wiedergetroffen und war ihr schnell naehergekommen. Bei diesen Besaeufnissen jedenfalls hatte er verkuendet, was heute Drogen, Sex und Kommunismus heisse, habe man frueher Wein, Weib und Gesang genannt. Und auf Gesang koenne er, wie die Meisten, notfalls verzichten. Und als sie zum Ideologischen uebergegangen waren, also doch zum Gesang, und er sich ausnahmsweise, des Weines wegen, nicht zurueckhalten konnte, als Dieter von seiner Landkommune anfing, wo jeder genau gleich sei, die gleichen Rechte habe und Pflichten, und wo es keine Macht gebe, und keine Machtspielchen, und Geld keine Rolle spiele, da hatte er unglaeubig den Kopf geschuettelt und zu einer Generalabrechung ausgeholt. Schoen und gut sei das alles; es gebe indessen einige wichtige praktische Gesichtspunkte, die der Gleichheitsidee, oder solle man besser Gleichheitswahn sagen?, zuwiderliefen. Die niederen Arbeiten in der Gesellschaft wuerden vielfach von tumben Naturen uebernommen, wobei die Frage, ob sie urspruenglich tumb gewesen oder durch Umwelt und Erziehung erst so geworden, zweitrangig sei. Der Tumbe interessiere sich auf jeden Fall nur fuer tumbes Zeug und kaum je fuer seine Lage. Ein weiterer wichtiger Punkt, der der Gleichheit der Individuen zuwiderlaufe, sei der Fortpflanzungsaspekt. Die Fortpflanzung mache die Menschen gleichzeitig gleich und verschieden. Sie seien gleich in der Moeglichkeit, sich mit dem anderen Geschlecht zu vereinen, aber zwangslaeufig verschieden in der Realisierung. Er grinste. Vielleicht sei so die Natur des Lebens ueberhaupt! Sobald sich Mann und Frau paarten, schloessen sie andere Maenner und Frauen von ihrem Zusammensein aus, machten sie ungleich. Uebrigens sei auch der Tod ein Hindernis der Gleichheit, hatte er dann noch gesagt und nicht gewusst, wie er darauf kam, und daher werde es zwischen den Generationen immer ein Ungleichgewicht geben. "Kuckt Euch die Alten an", rief er, "mit denen hat doch keiner was am Hut, das beginnt schon bei den 40jaehrigen, die meisten werden von uns gar nicht ernst genommen (abgesehen von ein paar Obergurus, die wir aus irgendwelchen Gruenden bewundern und zu Vorbildern erklaeren), und irgendwie spueren sie das, selbst wenn sie eine Machtposition haben, und das ist vielleicht das Geheimnis, warum sie sich so leicht provozieren lassen." Und er koenne sich nicht vorstellen, wie sich all diese Ungleichheiten, die sozialen, die ontologischen und die biologischen, jemals ueberwinden liessen. Nun in der S-Bahn meinte auch er, eine Story zum besten geben zu muessen. "Ein paar alte Schulfreunde aus Kiel haben mich neulich am Wochenende besucht, sie wollten in Hamburg was erleben, 'in Hamburg sind die Naechte lang' und so, ihr wisst schon, und wir sind ueber die Reeperbahn gezogen, die ganze Samstagnacht, den Sonntag haben wir verschlafen und sind abends wieder los, mein Bruder war auch mit dabei, und haben keine Kneipe ausgelassen und sind zum Schluss in einem Zelt auf dem Dom versackt. Fuer den einen kams dann am Montag ganz dicke, der musste Klausur schreiben und hatte gemeint, die Zechtour werde ihn nicht beeintraechtigen, ein zwei Naechte durchmachen, das wuerde er wohl verkraften, und haette ihn auch normalerweise nicht beeintraechtigt, aber wir hatten schlechten Wein getrunken in so einer Kascheme um halb eins, und um acht musste er antreten, und ihm war kotzuebel, und um halb neun wars dann so weit, er stand auf", Kunstpause, Ole war nahe daran ebenfalls aufzustehen, um der Dramatik jenes Augenblicks hoeheren Ausdruck zu geben, "und reiherte los." - Bei solchen Gelegenheiten, mit seinen Kumpeln, zeigte er gleichsam sein wahres Ich, alle Seriositaet, Vernuenftigkeit, die er sonst an den Tag legte - nichts als Tuenche, oder besser gesagt, ein voellig geschiedener Teil jenes ueber alle Straenge schlagenden Ole. Stattdessen sprang ploetzlich die Mutter (der vollreifen 17jaehrigen) von ihrem Sitz hoch, von dem Vortrag sichtlich betroffen, ausserdem hielt sie die stickige Luft nicht mehr aus, und riss das Fenster auf, ohne Nastvogel zu fragen. Dem standen Augen und Ohren, sozusagen, und die Haare zu Berge, als nun ein eiskuehler Luftstrom ueber ihn hinwegwehte. Was sollte er tun? Es war schon erstaunlich, alte Leute waren doch gemeinhin so empfindlich ... "Zuch ist das schlimmste was es gibt", sagten seine Tanten immer, wenn jemand das Autofenster zu weit herunter drehte, und insoweit konnte er ihnen nur beipflichten. Nach kurzer Ueberlegung, durch welche er vollends von seiner Lektuere abgelenkt wurde, beschloss er, die Zaehne zusammenzubeissen und das offene Fenster zu ignorieren. Er hatte fuer solche Notfaelle immer eine alte Pudelmuetze dabei, wenn es auch die Anderen zu Haenseleien herausforderte, und die Lolita, die neben ihm sass und deren Koerperwaerme er geradezu spuerte (es war ihm jedoch ohne weiteres gelungen, sich mit seiner Zeitschrift von dieser Wahrnehmung abzulenken, eine Kulturleistung, die Richard niemals zustandegebracht haette), zum Kichern. Der tat sich stattdessen mit einer eigenen Story hervor, er konnte sich nicht zurueckhalten, es draengte aus ihm heraus, in der Dipling-Szene waren die Alkoholmythen eine wichtige Duftmarke und Erkennungszeichen (wie die Grassmythen bei den Sponties). "Das schaerfste, was ich mit Alk erlebt habe, war vor'n paar Jahren, wir waren 15 oder 16 und wollten unbedingt ausprobieren, wie das ist, stockbesoffen zu sein. Wir sind in einen Laden, wo es eine Riesenauswahl an billigem Fusel gab, und haben uns zwei oder drei Flaschen hochprozentiges geholt, Korn oder Rum oder Wodka, ich weiss nicht mehr genau, war uns auch egal, und dann sind wir raus in den Wald und an einer entlegenen Stelle haben wir das Zeug heruntergspuelt. Anschliessend waren wir so besoffen, dass wir uns kaum auf den Beinen halten konnten, wir verloren Zeitgefuehl und Orientierung, und als es nicht nachliess, sondern uns immer schlechter wurde, gerieten wir in Panik und schleppten uns ueber die Kreisstrasse ins Krankenhaus, das liegt in Tengern direkt am Waldrand, die haben uns eine Blutprobe abgenommen und maechtig Angst gemacht, Alkoholvergiftung und so, und dann waren sie stinksauer, weil mein Freund hat ihnen alles vollgekotzt, und haben bei unseren Eltern angerufen und gedroht, beim naechsten Mal die Polizei zu informieren, und das Jugendamt. Gab zuhause natuerlich ein schoenes Theater, hat uns aber nichts ausgemacht, irgendwie gehoerte es zum Erwachsenwerden dazu." Es war Fruehjahr gewesen und der Wald nicht sehr dicht, und an einem bestimmten Punkt hatte er geglaubt, nicht mehr lebend herauszukommen, daran erinnerte er sich genau, und an die furchtbare Uebelkeit. - Mutzel nervten diese langweiligen Anekdoten, nur vereinzelt warf er zynische oder abwertende Bemerkungen dazwischen, ohne dabei jemand anzusehen. "Immer dieselben Stories", brummte er zum Beispiel und zog die Stirn kraus, und Richard dachte, aus dem wird mal ein anstaendiger Noergler. Wie sollte er wissen, dass Mutzel im Dauerstress lebte, weil ihn seine Freundin seit Monaten mit Trennung drohte. "Ich liebe dich nicht mehr", das klang so hoffnungslos endgueltig, was sollte man darauf erwidern, es war wie ein boeses Schicksal, dem man nicht entrinnen konnte. - Nur, sie schaffte den Absprung nicht, und blieb bei ihm, aber nicht aus Zuneigung, sondern aus purer Ratlosigkeit, oder Bequemlichkeit, oder aus Angst vor Einsamkeit, oder was immer. Endlich hatten alle ihre Munition verschossen und verfielen in Schweigen. Die S-Bahn ratterte durch gruene Wiesen und schwang sich dann bei der Suederelbe auf Bruecken hinauf, man blickte in breite braune, von Beton und Eisen zugeschnuerte verwirrend weit verzweigte Kanaele, und auf der anderen Seite zum Hafen hin, wo riesige Ueberseekaehne andockten. Als sie die Innenstadtgrenzen erreichten, verschwand die Bahn im Leib der Erde. Neonroehren flackerten auf und die Fahrgeraeusche klangen schriller und unheimlicher, ohne dass sich jemand davon beeindrucken liess. Das aenderte sich ungefaehr 5 Minuten spaeter, als der Zug mit einem heftigen Ruck ploetzlich stehenblieb und die Lampen erloschen. Eine seltsame Stille zog wie stickiges Gas durch den Wagen. Doch bald ging das Licht wieder an und die Lautsprecher bloekten: "Bitte entschuldigen Sie den ausserplanmaessigen Aufenthalt aufgrund eines Defektes im vorausfahrenden Zug", und eine Art Laehmung befiel die teils besorgten, teils veraergerten Menschen. Vor 2 Wochen hatte es im U-Bahnschacht unter der Moenckebergstrasse einen Kabelbrand gegeben, bei dem es fast zu einer Katastrophe gekommen waere, die Medien ritten noch immer darauf herum. "Ich will brennen", liess Kuno ploetzlich verlauten, mit der Intonation des geuebten Komikers, und die Spannung loeste sich auf und seine Freunde bruellten vor Vergnuegen, auch einige Fahrgaeste konnten ein Grinsen nicht verkneifen, waehrend andere entgeistert an die Decke starrten und die Kleine Ole einen, wie Richard fand, interessierten Blick zuwarf. ------- An den Stationen hinter dem Hauptbahnhof stiegen immer mehr seiner Freunde aus, und er blickte ihnen durch die hellen endlosen Gaenge nach, worin sie verschwanden, waehrend der Zug wieder anrollte, bis er schliesslich allein dasass und selber am Holstenbahnhof rausmusste. Er hatte sich mit Martin verabredet, die S11 fuhr von der TU direkt bis zur Stresemannstrasse durch, und bald stand er vor der Wohnungstuer, die ihm auch gleich geoeffnet wurde, "komm rein wie gehts dir so". Soweit er sehen konnte, waren sie allein in der Wohnung, und da sie sich zu nichts anderem verabredet hatten, stellten sie Teewasser auf und kamen gleich auf ihr Steckenpferd, sie konzentrierten sich ganz und gar darauf und liessen alle Privatheit beiseite, so dass die Wiedergabe ihrer Rede fast, wenn auch nicht voellig, wie ein emotionsloses Gespraech unter Robotern wirkt, doch gerade darin entfaltete sich die sonderbare Vertrautheit, die den Kern ihrer Freundschaft ausmachte. "Ich habe das Buch ueber Goedel jetzt endlich gelesen", sagte Richard. "Ist auf der einen Seite ganz interessant ..." "Ja, nicht wahr, Goedel hat die Antinomien der Logik, die man zwar schon im Altertum kannte, so praezise herausgearbeitet, dass man heute die Hintergruende versteht. Es gibt in der zweiwertigen Logik wahre, aber prinzipiell unbeweisbare Aussagen, manche Leute gehen soweit zu sagen 'truth outruns provability'." "... auf der anderen Seite ist irgendwie klar, dass ein Satz wie 'Ich bin ein Kreter und alle Kreter sind Luegner' einfach Humbug ist, unzulaengliches Denken. Die gewoehnliche Logik ist diskret und zweiwertig und daher nur ein beschraenktes Modell, welches nicht immer die Realitaet trifft, besonders wenn sie mit All-Aussagen daherkommt. Fuer mich sind Wahrheit und Falschheit mehr als Nullen und Einsen ..." "Leute wie Quine halten die zweiwertige fuer die Logik ueberhaupt. Es ist ja im Prinzip ein ganz einfaches System, nach dem immerhin alle Computer programmiert sind, und wenn man dort schon solche Schwierigkeiten hat ..." "Eben, genau", sagte Richard. "Die Schwierigkeiten haben damit zu tun, soweit ich verstanden habe, dass die zweiwertige Logik unvollstaendig ist, in demselben Sinn wie die natuerlichen Zahlen unvollstaendig sind, und erst das Kontinuum der reellen Zahlen vollstaendig, d.h. man muss zu einer multidimensionalen Logik kommen, was immer das bedeuten mag. Wenn ich sage, dass die Binaerlogik die Realitaet nicht trifft, meine ich, es gibt nicht nur schwarz und weiss, also wahr und falsch, sondern auch alle Grautoene dazwischen. Insofern ist es etwas gewagt, wenn, wie in dem Buch, das Goedelsche Ergebnis als Argument gegen kuenstliche Intelligenz ins Feld gefuehrt wird. Wenn uns ein Computerhirn auf dem komplexen Niveau des menschlichen Bewusstseins vorschwebt, muessen wir ihm widerspruchsfreie Denksysteme und eine entsprechende Erfahrungswelt zur Verfuegung stellen, woran es Intuition und Phantasie schulen kann, die beide zu 'Intelligenz' unbedingt dazu gehoeren. Sonst bleibt die Maschine auf der Stufe eines Papageis stehen, der seine Aeusserungen oder Handlungen ohne jede Bewusstheit vollzieht. Wir haben neulich ueber die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant gesprochen, also zwischen dem bezeichneten Ding und dem bezeichnenden Symbol. Man muss dem Rechner beides bieten, es reicht nicht aus, einfach nur ein Zeichensystem einzuprogrammieren." "Schon richtig. Jede Logik ist zwar eine Erfindung des Kopfes, eine Idealkonstruktion, die ein eigenes Leben fuehrt, aber das Interessante ist eben, sie laesst sich und muss sich mit aeusseren Gegenstaenden verknuepfen lassen, wobei praktikable Handlungsschemata herauskommen." "Das hat uebrigens Russell sehr schoen herausgearbeitet. Wenn allgemeine Gesetzmaessigkeiten zwischen 'Gegenstaenden' gelten sollen, muessen diese Gegenstaende 'Universalien' sein, also nicht reale Gegenstaende, sondern im Kopf entworfene imaginaere Objekte. Genaugenommen ist alles, wovon wir reden, ein Produkt unseres Gehirns, aber die Universalien sind speziell darin, dass sie sich nicht auf einzelne Objekte der realen Welt beziehen, sondern auf Gesamtheiten." Eigentlich bestand in dieser Frage eine vollstaendige Uebereinstimmung zwischen ihnen, aber Martin mochte Russel nicht besonders, der Mann war ihm zu populaer, und hauptsaechlich darum begann er einen Gegensatz zu konstruieren. "Du selbst hast auf der Fete gesagt, Kants Ding-an-sich verstehst du anders, und man kann sehr wohl an die realen Dinge ausserhalb des Kopfes und auch an das Ding-an-sich herankommen. Viele Leute meinen, die Objekte sind selber etwas vermitteltes, also geistiges, und zeigen oder deuten nur auf etwas Reales, aber das scheint mir doch merkwuerdig, da bin ich zu sehr Materialist, das widerspricht total meiner Intuition, dass man damit tendenziell den Gehalt der Realitaet aufloest." "Ich weiss schon, du willst auf Signifikant und Signifikat hinaus. Den Unterschied (zwischen Bezeichner und Bezeichnetem) sehe ich auch, sogar in einem ueber die normale Sprache hinausgehenden Sinn, naemlich Signifikat ist die Natur und Signifikant das Denk- oder Wahrnehmungs-Modell, was von ihr entworfen wird. Und diese Differenz zwischen Natur und Modell ist genau, worauf Kants Ding-an-sich anspielt. Hast du ein Stueck Papier, ich will mal versuchen, den Unterschied schematisch aufzuzeichnen." Martin reichte ihm einen alten Einkaufszettel und einen stumpfen Bleistift. Richard strich das Papier glatt und malte Kaestchen und Pfeile auf die noch unbeschriebene Rueckseite, waehrend er ununterbrochen weiter redete. "Gib mal her", sagte Martin und nahm sich den Zettel. "Ok, du konstruierst diesen Prozess, eine Folge von Erkenntnissen - das ist mir zu formal, aber bitte - in dem sich das Bezeichnende immer mehr dem Bezeichneten annaehert, also x(0) war das Bezeichnete und xs(0) das Symbol fuer x(0). x(1) war die Differenz zwischen beiden und xs(1) das Symbol fuer x(1). Mmh. Und du faehrst fort zu x(2) und xs(2) und so weiter und kommst schliesslich zu der Differenz zwischen dem Bezeichneten und der Summe der Bezeichnungen fuer alle Differenzen, und die Frage ist einfach, ob diese letzte sprachlich konstruierbare Differenz null ist, oder von Null verschieden." Er machte eine gewichtige Pause, dann hob er die Arme, um Richards Antwort abzuwehren und sagte nachdruecklich: "Sie ist von Null verschieden, mit der Sprache allein kommst du nie ganz an die Dinge heran, das ist das Geheimnis des Ding-an-sich." "Aber nun widersprichst du dem, was du vorhin behauptet hast. "Ausserdem bedenke, neben der sprachlichen Analyse gibt es die objektiven Messungen der Naturwissenschaften, und die machen deine Differenzen xs immer kleiner, je genauer sie werden." "Das mag schon sein; doch wenn ich dir nachgaebe, waeren in einem gewissen Sinn die Traeume des Positivismus von einer ganz sagbaren Welt erfuellt, denn auch die naturwissenschaftlichen Resultate sind zuletzt begrifflicher Natur. Ich bin kein Mathematiker, aber soweit ich weiss, gibt es bei unendlichen Reihen noch eine dritte Moeglichkeit, dass naemlich die Summe, welche man bildet, gar nicht konvergiert, und die realen Gegenstaende sich demgemaess durch eine solche einfache Folge nicht darstellen lassen, weil man eben durch Bezeichnen oder Zergliedern den Knoten nicht vollstaendig loesen kann, weil er nicht vollstaendig loesbar ist. - Das heisst natuerlich nicht, dass man aufhoeren sollte, daran zu arbeiten, es gibt sicher viele noch zu entdeckende Aspekte der Natur, die man mit den Standardmethoden verstehen wird." Richard deutete diese Worte als Nachgeben und sagte versoehnlich: "Du hast vorhin gemeint, du seist zu sehr Materialist. Liegt darin nicht eine Ueberheblichkeit gegenueber den Schoepfungen des Kopfes? Ich denke, der Vernunft kommt eine ebenso objektive, materiale Existenz wie den Dingen zu; ich weiss nicht, ob das Idealismus ist, aber das ist mir gleich, vielleicht stehe ich dem aufgeklaerten Idealismus tatsaechlich naeher als den Marxisten. Nach meiner Meinung ist allen Gegenstaenden, auch denen des Denkens, die Wahrheit ueber sich selbst assoziiert, und diese laesst sich natuerlich denken und aussprechen. Sicher ist das 'Existieren' eines gedanklichen Musters von anderer Art als das eines realen Objektes, trotzdem kann man in beiden Faellen von Existenz sprechen - nicht nur weil unsere Gedanken alle stofflich auf denselben kleinsten Einheiten, auf biochemischen Reaktionen und elektrischen Stroemen beruhen, sondern weil die Wahrheit ueber die Materie in Erscheinungen kodiert ist, siehe Husserl." Das gab Martin Gelegenheit, ueber sein Lieblingsthema zu sprechen. Er hielt einen laengeren Vortrag ueber die Phaenomenologie, kam dann aber von Husserl wieder ab und auf Sohn-Rethel. "Schau, ich will dir erklaeren, was fuer eklatante Unterschiede zwischen den Dingen und den Begriffen bestehen. In der makroskopischen Natur ist kein Ding dem Anderen gleich, so sehr sich auch die Warenwirtschaft bemueht, das Gegenteil zu beweisen. Dagegen die Begriffe und selbst die Objekte einer so feinsinnigen Theorie wie der Quantenphysik gibt es nur in Kopie, d.h. jedes Elektron ist mit jedem anderen genau identisch. Im jetzigen Stadium des Wissens ..." Sie wurden durch ein Klappern im Flur unterbrochen. Ellen schluepfte durch die Kuechentuer, einen Morgenrock nachlaessig uebergestreift und so verschlafen, dass ihr kein Gruss ueber die Lippen kam. Sie sah schlecht aus, als haette sie seit Tagen kein Auge zugemacht. An verschiedenen Stellen lugte das Gelb ihres Nachthemdes aus dem Bademantel. Sie nahm den leeren, noch warmen Topf vom Herd und liess Wasser hineinlaufen. "Wir haben gerade Tee aufgegossen" sagte Martin steif, "wenn du was moechtest, kein Problem." Etwas sonderbar fremdes schwang in seiner Stimme, das Richard im Umgang der beiden nicht kannte. Sie hob den Deckel der Kanne. "Nein danke", sagte sie abweisend, "das reicht mir nicht, ich brauche mindestens 2 grosse Tassen, um munter zu werden. Ausserdem hast du ihn bestimmt wieder zu lange ziehen lassen, ekelhaft, so bitteres Zeug!" Damit setzte sie das Wasser auf und suchte das Weite. "Wenn du naechtelang auf der Piste herumstreunst, brauchst du dich nicht wundern, dass du tagsueber nicht zu gebrauchen bist", rief Martin ihr hinterher. "Wie er sich aufregt, wo er doch angeblich keine Eifersucht kennt und Ellen niemals hereinredet", dachte Richard. "Eigentlich ist ER doch der Nachtmensch, der bis morgens nicht in die Federn kommt, frueher hat Ellen sich immer darueber beschwert." Woher sollte er wissen, dass es schon lange nicht mehr um Eifersucht ging - waere Martin eifersuechtig gewesen, haette er laengst durchdrehen muessen, bei all den Typen, zu denen sie hinlief - sondern um das unabaenderliche Ende einer urspruenglich hautengen Zweisamkeit. Richard und er sprachen nie ueber solche Probleme, aber bei ihren Diskussionen spuerte man, dass er duennhaeutiger geworden war. Im uebrigen erleichterte ihn das abstrakte Philosophieren, da es die Gedanken vom desolaten Zustand seiner Beziehung ablenkte. Sobald sie auftauchte, war es damit natuerlich vorbei, dann draengelten sich die Depressionen gleich wieder vor, unmoeglich, den Intellekt davon freizuhalten. "Von all unseren Erinnerungen bleiben nur Rudimente", dachte er resigniert. "Zuweilen, in einer stillen Minute, durchzucken sie uns, und wir sehen wieder die Sonne scheinen, wie damals, und so, wie sie seither nie mehr geschienen hat. Wir sehen eine Strasse im Fruehling, mit bluehenden Baeumen, den Schulweg. Oder wir sehen einfach irgendeine banale Szene vor uns, wir schmecken etwas, was uns an frueher erinnert und was wir schon lange vermissen. Auch Ellen wird eines Tages nichts als eine schoene, welke Erinnerung sein." Und er hoerte sich fluestern: "Gedanken sind seltsame, irrlichte Schemen hinter unserer Stirn. In manchen Momenten ist es, als koennten sie eine Erinnerung oder einen Begriff praezise erfassen und interpretieren. In anderen liegen sie hinter einem geheimen Nebel, oder versickern im Schlamm unserer Gefuehlswallungen, oder diffundieren wie ein Schuss Milch im Wasser. Wenn ich beispielsweise an einen bestimmten Gegenstand denke, sehe ich kein genaues Abbild des Gegenstandes vor mir, sondern was mir als besonders charakteristisch aufgefallen ist, tritt hervor, waehrend das meiste andere, das doch das eigentliche ist, im Dunkel bleibt. Wie koennen wir unter solchen Umstaenden je hoffen zu VERSTEHEN?" "Ja", sagte Richard leichthin, "Wir Ingeniuere haben es einfach. Unsere Apparate und Anlagen sind die Schnittstellen, wo Geist und Materie sich treffen, genauer gesagt, sowohl die Dinge an sich als auch die Ideen werfen Licht und Schatten hinein, und die Menschen koennen daraus ihre Schlussfolgerungen ziehen ..." "Was ich vorhin sagen wollte, die Abtraktheit der Begriffe dubliziert die Abstraktheit des Geldes, das ist Sohn-Rethel", besann sich Martin. Doch da er daraufhin, entgegen seiner Gewohnheit, gleich wieder ins Schweigen verfiel, erwiderte Richard nach kurzer Ueberlegung: "Unser ganzes Denken ist allein deswegen voellig beschraenkt, weil es evolutionsmaessig entstanden ist. Ich bin sicher, es gibt viele Erkenntnisse, die fuer uns absolut unerreichbar sind (das geht jetzt ueber Goedel und Sohn-Rethel hinaus), weil es viel tiefere Schichten der Wahrheit und Wirklichkeit beruehrt. Unsere Vernunft ist zu einfach gestrickt, und sie ist nicht objektiv, und zwar nicht nur bezogen auf das einzelne Subjekt, sondern generell ... Der Verstand der Urmenschen hat sich nicht nach den Gesetzen der Logik entwickelt, sondern nach denen der Arterhaltung. Wenn es fuer ihre Ausbreitung und Vermehrung von Vorteil gewesen waere, dass zwei plus zwei fuenf ist, so waere 2+2=5 und niemand wuerde daran Anstoss nehmen. Unsere Vorfahren mussten zum Ueberleben auf gewisse Notsituationen logisch und folgerichtig reagieren, das ist richtig, ansonsten jedoch wurden Existenz und Fortpflanzung durch ganz andere Eigenschaften des Ich gewaehrleistet: uebergrosse Vorsicht und Unterwuerfigkeit bei den einen, Aufschneidertum, Dampfplauderei bei Anderen, freundschaftliches Herumschwadronieren und andere Formen der sozialen Fellpflege, aber auch die Bereitschaft, Streit vom Zaun zu brechen; alles Reflexe, welche die intellektuelle Klarheit trueben. Hinzu kommt die Eigenliebe, unabdingbar fuers Ueberleben, aber ein spitzer Stolperstein auf dem Weg der Erkenntnis. Ausserdem laesst sich der Verstand durch Assoziationen und Intuitionen viel zu leicht vom geraden logischen Weg abbringen." "Aber es ist genau die Intuition, oder Phantasie, die die Menschheit wirklich vorwaertsbringt, alles andere ist totes Repetieren von immer schon Dagewesenem, nur mit der Intuition kommt man ueber Tautologien hinaus und zu echten neuen Konstruktionen. - Leute wie Russell haben ja versucht, Syteme ganz ohne die gewoehnliche Alltagssprache zu konstruieren, aber diese quasi tautologischen Systeme kaempfen genau mit Antinomien a la Goedel - und ausserdem sind sie einfach nicht RELEVANT, ich meine inhaltlich." Endlich kam Martin ein stueckweit aus seinem schwarzen Loch hervorgekrochen (Russel sei dank). "Ok, es sind eben unzulaengliche Modelle", sagte Richard, "das habe ich ja schon zugegeben. Und doch ist es fuer mich ein Wunder, wie weit man mit manchen mangelhaften Modellen kommt. Wenn wir im Praktikum ein Experiment machen und erzeugen zum Beispiel ein konzentrisches Magnetfeld, koennen wir mit einer entsprechenden Formel aufs Komma genau vorhersagen, wie gross die Feldstaerke an einem beliebigen Ort in seiner Naehe ist. Das laesst sich fuer mich nur so erklaeren, dass in der Natur etwas vorgeht, was in seiner Essenz von der Berechnungsformel nachgestellt wird. Wenn ein reales System simuliert wird, z.B. die Passatwinde, und es werden Temperaturverteilungen und Windgeschwindigkeiten errechnet, so 'parallelisieren' die Bits und Zahlen die tatsaechlichen Vorgaenge, wenn auch unter groben Vereinfachungen. Ein aehnlicher Vorgang der Parallelitaet, vom Allgemeinem zum Besonderem, spielt sich im Intellekt ab, wenn er von konkreten Denkfiguren zu einer abstrakten Theorie uebergeht, die Aussagen liefert, welche sich fuer die konkrete Denkfigur als richtig erweisen." Der Wassertopf begann zu pfeifen, erst leise, dann immer schriller, und Martin schob ihn von der Herdplatte. Ellens Erscheinen liess das Gespraech aufs Neue gerinnen, obwohl sie den beiden diesmal noch weniger Beachtung schenkte. So unwirklich war ihr Verhaeltnis schon seit Tagen, und Martin spuerte eine seltsame Taubheit in jenem Teil seines Bewusstseins, welcher fuer die Emotionen zustaendig ist, waehrend Richard, der alles mitbekam, sich fragte, wie es die beiden in ihrem kleinen Zimmer aushielten, bei der Stimmung, die zwischen ihnen herrschte. Er war froh, als Kalle wenig spaeter von der FH heimkam, und auch Laura, die mit der Huendin einen langen Spaziergang an der Elbe gemacht hatte. Obwohl es kalt war und Winter, wars toll gewesen, in Hamburg sind die Winter nicht so rauh wie in anderen Teilen Deutschlands, und die Elbe ist gerade in der duesteren Jahreszeit ein erhebender Anblick, riesiger ruhigfliessender Strom, der am Horizont mit dem bleiernen Himmel verschmilzt. Obendrein die reinste Freude, das Tier so kraftvoll und raumgreifend laufen zu sehen, ein Gluecksgefuehl, das sich schlecht beschreiben laesst und dass nur echte Hundeliebhaber kennen. Obwohl sie wahrlich nicht kontaktscheu war, hatte sie mit Raja eine bei Menschen unerreichbare Stufe der Intimitaet erreicht (denn zwischen erwachsenen Individuen bleibt immer ein Rest von Distanz und nicht zu ueberwindendem Argwohn). Als sie in die Kueche kam, fand sie es unertraeglich warm, Martin hatte den Herd zu stark befeuert, er strahlte eine so bruetende Hitze ab, dass sie sich gleich aus der Jeansjacke pellte und auch schnell den braunen Wollpulli auszog, welcher durch eine gewisse speckige Steifigkeit und ein fransiges Loch am Ellbogen auffiel. Dann setzte sie sich auf einen der Holzstuehle moeglichst weit vom Ofen und mit dem Ruecken zum Fenster. Unter dem verrutschten weissen T-Shirt quoll am Bauch eine Speckfalte vor. Sie hatte sich schon lange einen Hund gewuenscht, doch die Anderen waren dagegen gewesen, trotz vielem Betteln und Draengen. Zuletzt hatte das Betteln und Draengen sich ausgezahlt, denn als Juergen, ein fluechtiger Bekannter, zu Bhagwan ging und seinen jungen Hund nach Indien nicht mitnehmen konnte, und sie zufaellig darauf zu sprechen kamen beim Eingang vom Gruenspan, es war nicht viel los gewesen in der Disko, kein Gedraenge, gar nichts, und man hatte sich einigermassen unterhalten koennen, ueber Hunde zum Beispiel, bat er sie, die niedliche Raja in Pflege zu nehmen. Ja natuerlich, sie koenne sich den Hund vorher ansehen, und schon ja, sie muesse erst die WG fragen. - Doch keiner hatte gewagt, Einwaende zu erheben, zu oft war sie abgewiesen worden in der Hundefrage, und Juergen wollte ja in 4, allerspaetestens 6 Wochen wieder zuruecksein. Nur Horst, der hatte natuerlich Theater gemacht, war aber ueberstimmt worden, erstens war er nicht der Hauptmieter, und zweitens konnte man ihm so endlich mal zeigen, wo's langging. - Aus den 6 Wochen waren 8 geworden und dann 3 Monate und nun schon ein halbes Jahr, und es war nicht abzusehen und eigentlich glaubte auch niemand daran, dass Juergen jemals aus Indien zurueckkommen wuerde, es sei denn Bhagwan hoechstpersoenlich wuerfe ihn achtkant aus seinem Laden. Und alle hatten sich inzwischen mit Raja arrangiert, selbst Horst hielt die Klappe, sie hatte ja so niedliche Knopfaugen, obwohl sie gelegentlich, wenn auch nicht immer, auf Haustuerenklingeln und andere gegen die Hundsnatur gerichtete Geraeusche allergisch reagierte, mit lautem Schaeferhundbellen, welches die Nachbarschaft rebellisch machte, aber nicht allzusehr, denn eine Abmahnung war noch nicht eingegangen. So kam sie jetzt freudig schwanzwedelnd auf Richard zu, der als einziger immer noch am Kuechentisch sass, waehrend Martin sich zu Ellen hineingewagt hatte und Kalle seine Transistoren ordnete, oder wasimmer sonst er in seiner Schlafzimmerwerkstatt wirtschaftete. Und Richard blieb keine Wahl, als ihr mit freundlicher Miene ueber die Stirn zu fahren und sie am Ohr zu kraulen und danach unter der Kehle, wobei sie den Kopf schiefstellte und hellauf in Begeisterung verfiel, und anfing, sein Handgelenk und schliesslich seinen ganzen Arm abzuschlecken, der den suess-sauren Geruch ihres Speichels annahm, bis dann endlich Horst nach Hause kam, Raja hoerte oder roch ihn schon auf der Treppe, und da gab es kein Halten mehr; statt seine Abneigung zu erwidern, ueberhaeufte sie ihn mit schaeumenden Zaertlichkeiten, sobald er in ihrem Geruchsfeld auftauchte, und nun an der Wohnungstuer stimmte sie ein derartiges helles Freudengejaule an, und drehte sich dabei wie verrueckt im Kreise, als wolle sie sich in den eigenen Schwanz beissen, dass jedem Hundeliebhaber vor Ruehrung das Herz stehen geblieben waere, Horst liess es kalt. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass sie vor Freude an ihm hochsprang und am liebsten sein Gesicht abgeleckt haette; nur ein energisches Wegschieben verhinderte die ungewollte Liebkosung. So setzte sie sich notgedrungen quer zu seinen Fuessen und begann dann, sich auf dem Boden zu rollen, mit dem Bauch nach oben, wobei sie ihn unverwandt anstarrte, als erwarte sie etwas von ihm, er aber nutzte die Gelegenheit, ueber sie hinwegzusteigen, um sogleich in sein Zimmer zu fluechten und rasch die Tuer hinter sich abzuschliessen, und Raja, die ihm nicht schnell genug nachsetzte, blieb nichts weiter uebrig, als schwanzwedelnd vor seiner Tuer zu scharren und zu kratzen und ihm winselnd nachzutrauern. Ihr Verhalten schien Richard wie ein Gleichnis auf die menschlichen Beziehungen, und er fuerchete schon, dass sie auf ihn zurueckkommen werde, aber da setzte sich Kalle dazu und uebernahm das Kraulen, und damit kehrte erstmal Ruhe ein und Richard konnte sich entspannt zuruecklehnen. "War wohl ein ziemlicher Sturm an der Elbe", fragte er Laura, waehrend sie Raja beobachteten, und "Herrlich wars", antwortete sie emphatisch, mit leuchtenden Augen, und einmal mehr bewunderte er ihr heiteres Wesen, und fuehlte sich sehr zu ihr hingezogen, und etwas ruehrte sich in ihm. Doch die Form ihrer Bindung war schon lange allzu gefestigt oder erstarrt, besonders durch die wechselseitige Freundschaft mit Ali, und ausserdem ahnte er, dass ihr Verhaeltnis zu Kalle intimer war als die beiden nach aussen hin zugaben. "Im Audimax findet naechsten Monat ein Konzert von Santana statt", sagte sie. "Ueberall haengen die Plakate rum. Ich will mir unbedingt eine Karte kaufen. Moechte sonst noch jemand mit?" Den Anderen kam das zu ploetzlich. "Naechste Woche kriegst du sicher auch noch Karten", meinte Kalle. Nachdem er Raja befriedigt hatte, machte er sich mit geuebten Bewegungen am Herd zu schaffen. Er nahm einen Pickel von dem verchromten Gestaenge, welches die Ofenplatte umgab, hob damit die staehlernen Abdeckringe und stocherte in der Glut. Gleichzeitig drehte er mit der Linken an der Luftzufuhr des Ofenrohres. "Stell bloss nicht so heiss", sagte Laura heftig. Dann ging sie zum Kuehlschrank und begann, den gesamten Inhalt auf dem Esstisch auszubreiten. Viel war das nicht gerade. "Sag mal, wer ist denn die Woche mit Einkaufen dran?" fragte sie entnervt. Es klingelte, Dieter stand vor der Tuer, und als er hereinkam, glaubte Richard den Schulfreund, den er vor Wochen zuletzt gesehen hatte, nicht wiederzuerkennen. Er bewegte sich langsam und fahrig und jede Froehlichkeit oder Lebendigkeit war aus den Zuegen verschwunden. Was fuer ein Gegensatz zu seinen ueblichen Auftritten! Wie uebermuetig und kraftstrotzend war er frueher vorangeschritten?, und wenn er auch manchen Aspekten des Lebens schon immer kritisch gegenueberstand, war er ihnen doch gleichsam erhobenen Hauptes und mit beherzter Verteidigungsbereitschaft entgegengetreten. Jetzt schlich er herein, erkennbar froh, neutrales Territorium zu betreten, denn er war aus der Lippmannstrasse gefluechtet und stundenlang in den feindlichen Weiten der Stadt herumgeirrt, in zugigen Nebenstrassen und verkommenen Siedlungen, in trostlosen Parks und auf Friedhoefen, und all jene Bezirke meidend, wo mit groesserem Menschenaufkommen zu rechnen war. Die Andern liessen ihn erstmal in Ruhe, keiner fragte nach warum und wieso, sie waren ueber seinen Zustand bereits informiert, und beredeten weiter den Auftritt von Santana, -- und endlich, nachdem er einige Zeit beim warmen Ofen gesessen hatte, taute er zusehends auf, und als Laura ihn einmal aus mitfuehlenden Augenwinkeln musterte, begann er unvermittelt zu reden. "Ich halte es zuhaus echt nicht mehr aus. Mit Britta, das ist aus und vorbei und nur noch Generve, das Schlimme ist eben, dass wir uns taeglich auf den Zehen stehen, und sie bringt es tatsaechlich, dass sie dauernd neue Typen anschleppt, genau wie vor unserer Beziehung und als haette es zwischen uns gar nichts gegeben und als sei ich ein kalter unbehauener Stein, dem man alles antun kann." Zum endgueltigen Bruch war es vor 2 Wochen auf einer Fete gekommen, er hatte gespuert, dass sie ihn nicht dabeihaben wollte, aber unbedingt mitgewollt, weil er fuerchtete, sie wuerde sich von irgendeinem x-beliebigen Arschloch aufreissen lassen, und sie hatte ihn vom ersten bis zum letzten Moment links liegen lassen und auch tatsaechlich Ausschau gehalten und herumgeflirtet, aber irgendwie hatte sie seine Anwesenheit doch irritiert und ihre Plaene vereitelt (wenn man in diesem Zusammenhang von Plaenen reden kann), zumindest auf jener Fete. - Aber dadurch hatte sie die Trennung erst richtig forciert und war an den folgenden Abenden allein losgezogen, wer weiss wohin, und natuerlich jemanden aufgerissen. "Sie hat schon wieder ein oder zwei Schnoesel, zu denen sie abends verschwindet, und der eine bleibt jetzt auch ueber Nacht bei uns in der Wohnung. Ihr koennt Euch nicht vorstellen, wie mich das fertig macht." Er erbleichte und begann leise zu weinen, und Richard, Martin, Laura und Kalle schuettelten sorgenvoll und mitleidig die Koepfe. "Ich glaube, es ist ein Bekannter von dir", wandte er sich an Richard, "von mir, wieso von mir", fragte dieser entgeistert, "ja, ich habe ihn mit dir zusammen gesehen, ihr seid Freunde von der Uni, sie kennt ihn aus der Klopstockterasse", und ein Vorwurf schwang in seiner Stimme, obwohl Richard bestimmt keine Schuld traf. ------- Das Telefon schrillte, und bevor sich noch jemand in Bewegung setzte, rief Ellen aus dem Flur. "Ich geh schon ran." "Ja, hallo, hier Ellen ... ach hallo du bists", und danach hoerte man nichts mehr, denn sie verschwand mit dem Apparat in ihrem Zimmer und schlug die Tuer zu, und besonders Martin fragte sich, wen sie wohl an der Strippe hatte. Weder er noch Dieter wuerden das je erfahren. "Ich bin noch dran", sagte sie, "ich musste nur erst die Tuer zumachen. Dieter ist da, weisst du, zumindest habe ich vorhin seine Stimme gehoert." Britta nahm den Faden sofort auf. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie der mir auf die Nerven geht", stoehnte sie, "staendig schleicht er hinter mir her und belaestigt mich, und selbst wenn ich mir das zum Teil nur einbilde, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, waere es doch Grund genug, mir eine andere Wohnung zu suchen. Zum Glueck bin ich jetzt erst mal ein paar Tage nicht da, ich werde verreisen, Spontanurlaub mit einem Bekannten, wir fahren nach Sankt-Peter-Ording", und zog die drei Worte, aus denen der Name des Ortes sich zusammensetzte, seltsam nasal zusammen. "Du, ich bin auch auf der Suche nach einer neuen Bleibe", platzte Ellen heraus, froh, eine Schicksalsgenossin gefunden hatte, ganz wohl fuehlte sie sich nicht bei der Vorstellung, bald wieder auf eigenen Fuessen zu stehen, sie hatte ein bisschen Angst davor, in Zukunft allein zu leben, "wir koennten uns doch zusammentun." Das waren keine guten Aussichten, fand Britta. Ellen und die ganze Stresemann-WG, die waren alle irgendwie unsauber, noch verschlampter als Dieter und Otto. Man brauchte nur an Laura und ihren verlausten Koeter zu denken! "Zum Glueck ist Dieter inzwischen soweit, dass er selber ausziehen will", sagte sie. "Er wollte ja schon immer aufs Land, und ich glaube, jetzt ist es ihm wirklich ernst damit. Neulich hat er jemanden aus einer Land-WG kennengelernt und ist eingeladen worden, uebers Wochenende bei denen vorbeizuschauen, und er meint, selbst wenn es nicht klappt, er wird auf jeden Fall was finden und will definitiv bis Ende des Monats wegsein." "Hoffentlich kommt sie jetzt nicht auf die Idee, bei uns einziehen zu wollen", dachte sie und sagte schnell: "aber das ist nicht der Grund, warum ich dich anrufe, ich habe ein viel dringenderes Problem, das mir unter den Naegeln brennt. Ich hab neulich vergessen, die Pille zu nehmen, und jetzt bin ich schwanger." Und nach einer Pause, da Ellen hierauf nichts einfiel: "Du kannst dir wohl ausmalen, bei der ganzen Situation, mit Dieter und so, ich bin nicht gerade erpicht darauf, das Kind auszutragen." Sie hatte noch selten darueber nachgedacht, ob sie Kinder wollte, mit solchen Themen beschaeftigte sie sich nicht, hoechstens damals mit 16, in ihren Jungmaechentraeumen, da hatte sie sich vielleicht Kinder gewuenscht, doch jetzt, mit Anfang 20, fand sie das Thema unerheblich. Von Dieter jedenfalls wollte sie keins. Sich vorzustellen, wie sie ihr halbes Leben um dessen seltsame Befindlichkeiten herum organisieren musste! Wie sie ihn kannte, wollte er sein Kind mit betreuen. War ja im Prinzip in Ordnung, nur in diesem Fall, sie wusste das instinktiv ... sie wollte mit ihm in Zukunft moeglichst wenig zu tun haben, allein von seiner Anwesenheit fuehlte sie sich gestoert, Dieter gefiel ihr nicht, so einfach war das, und wenn sie ehrlich war ... er hatte ihr von Anfang an nicht besonders gefallen, sein Gesicht, sein Koerper, seine Art zu voegeln und vor allem, wie er sich sonst benahm, das alles schmeckte ihr nicht, sie hatte ihn eben mal ausprobiert, da er sich anbot und niemand sonst greifbar war, und es war auch ganz nett gewesen mit ihm, aber wirklich verliebt ... nein, da hatte immer etwas gefehlt, das gewisse Herzflimmern, das sie nur bei manchen Maennern befiel, in der Hinsicht war sie altmodisch, sie fand, das gehoerte zu einer Liebesbeziehung noch immer dazu, was sollte sie mit einem wie Dieter, der sie auf Dauer nicht gluecklich machte. Und da Ellen nichts weiter sagte als "Das kann ich gut verstehen, du", fuhr sie zoegernd fort: "Aeh ... also bitte, versteh mich nicht falsch ... aber jemand hat mir erzaehlt, du hast schon mal einen Abbruch machen lassen, ich habe keine Ahnung, wie das ablaeuft und wollte dich fragen, ob du mir ein paar Tips geben kannst ..." Jetzt war sie zum Kern ihres Anliegens vorgedrungen. "Das stimmt", bestaetigte Ellen. "Die Sache ist eigentlich ganz einfach, heutzutage ist nichts mehr dabei, vor 1, 2 Jahren, da musste man noch nach Holland und mit allen moeglichen Faehrnissen rechnen, stressig war es auf jeden Fall und ein bisschen gefaehrlich, hab ich mir sagen lassen, man konnte Schwierigkeiten kriegen, wenn man an der Grenze erwischt wurde. Jetzt ist alles viel leichter, seit das neue Gesetz durch ist. - Ein paar Punkte musst du allerdings beachten. Du musst bei Pro Familia auf ganz bestimmte Weise argumentieren, bei mir waer das fast daneben gegangen, weil ich nicht richtig vorbereitet war und was Falsches gesagt habe, aber weil ich noch so jung bin, noch unter 20, haben sie beide Augen zugedrueckt. Martin hatte ich uebrigens nicht eingeweiht, ich war mir nicht sicher, wie er reagieren wuerde. Er beteuert zwar immer, dass er keine Kinder haben will, aber trotzdem. Es ging dann auch alles so reibungslos ueber die Buehne, dass er nichts mitgekriegt hat und bis heute nichts davon weiss. Ich habe es ambulant machen lassen und nach 2, 3 Tagen schon nichts mehr gemerkt, ich meine Schmerzen und so, und inzwischen habe ich die Sache praktisch vergessen, kann man sagen, es spielt keine Rolle in meinem Leben, ich bin froh, dass ich es gemacht habe ... aber wie gesagt, du musst aufpassen ..." und dann rekapitulierte sie alle Details ihrer Abtreibung, von denen sie meinte, sie koennten Britta hilfreich sein, und gab ihr die Telefonnummern, die sie - zusammen mit anderen nicht fuer Martins Augen bestimmten Zettelchen - fuer den Fall der Faelle unter der abnehmbaren Schaedeldecke eines Plueschtieres verwahrte. ------- "Es ist auch sonst in der WG keine Gemeinsamkeit mehr da", sagte Dieter weinerlich. "Otto und Ulla haben sich getrennt, wisst ihrs?, und Ulla ist schon dabei auszuziehen, bis letzte Woche hat keiner davon was mitgekriegt, im Gegenteil, ich habe die Beziehung immer fuer besonders gluecklich gehalten, eine Art Vorbild fuer Britta und mich, und seit Ulla ihre Sachen packt, ist Otto kaum noch zu Hause, ich glaube er hat schon ne Neue, zu der er immer hingeht - wenn ich da auch nicht so ganz durchblicke. Ich habe mir immer ne WG mit nem engen intensiven Zusammenhalt gewuenscht, wo sich echte emotionale Vertrauensverhaeltnisse bilden, und eine Beziehung mit Britta waere das i-Tuepfelchen gewesen; aber jetzt merke ich, das waren alles nur Wunschtraeume, die realen Strukturen sind ganz anders. Bei uns gibt es noch nicht mal eine vernuenftige Konfliktverarbeitung, keine richtigen Diskussionen, keine Plattform, wo man sich aussprechen kann. Ich glaube, es ist ein Problem des Stadtlebens, dass hier nur oberflaechliche Beziehungen moeglich sind. Die meisten Stadtbewohner sind mir unsympathisch. Die Leute sind wie Ratten. Alle sind sie fixiert auf die grosse Leere der eigenen Existenz und ihre Freundlichkeit ist von der selben Art, und gerade damit geht ihnen das eigene, persoenliche ab. Die Stadt ist die grosse Gleichmacherin, und wo es nichts gibt, was den einen vom anderen unterscheidet, kehrt sich der Sozialdarwinismus potentiell gegen das eigene Ich und wird zur Selbstzerfleischung. Jeder spuert es, aber niemand unternimmt was dagegen. Jeder vegetiert vor sich hin und laesst sich so treiben, auch ich, und nur manchmal springe ich hoch und blicke ueber die Mauern. Was fuer'n Bockmist", kam er jaeh auf sein Unglueck zurueck. "Ich habe geglaubt, ich koennte Britta gluecklich machen ..." Ein paar Wochen lang waren sie die gluecklichsten Menschen der Welt gewesen, ja wirklich. Sie hatten sich stundenlang im Bett gewaelzt, bis sie ganz wund waren, und auf langen Spaziergaengen ihre Seelen beleuchtet, hatten vor Freude getanzt und Wunschgespinste in den Himmel gemalt. Danach hatte er nur noch gelitten. Hatte die eigene Machtlosigkeit schmerzhaft erfahren, das Nichts, als er alles vergass, was er ihr haette sagen wollen, aus Furcht vor Schmerz und Verrat, die ihn in den Abgrund schleudern wuerden, die schier endlose, unendliche Buerde; und die Unerreichbarkeit und das Zwanghafte der absoluten Liebe erkannt, und da er sie inzwischen fuer eine ganz und gar beschraenkte Persoenlichkeit hielt, wollte er nur noch die Augen vor ihr schliessen, das hatte er sich fest vorgenommen. "Nichts, aber auch gar nichts hat sie fuer die Beziehung getan. Dabei waere das unheimlich wichtig gewesen. Hat gedacht, das Leben laeuft einfach so weiter, ohne Aussprache und indem Probleme unter den Teppich gekehrt werden, und sie koennte alle Entscheidungen weiterhin allein treffen, sie hat nicht verstanden, was es bedeutet, ein Paar zu sein. Das liegt zum Teil an ihrer allgemeinen Interessen- und Ziellosigkeit. Sie lebt so in den Tag hinein und geniesst das Leben, indem sie sich um nichts als ihr eigenes Wohlergehen kuemmert, und nicht merkt, dass dies der direkte Weg in die Unzufriedenheit ist. - Und ich war unfaehig, ihr etwas von meinen eigenen Zielen zu vermitteln. Ich war zu ruecksichtsvoll und habe meist nicht damit angefangen, weil ich dachte, sie zieht nur wieder ihre Schnute. Zum andern ist sie nicht in der Lage, dauerhafte Empfindungen zu entwickeln. Liebe bezieht sich auf etwas Bestaendiges, wofuer man arbeiten muss und was langsam heranreift. Britta aber ist unbestaendig wie der Wind, ihre Gefuehle entflammen heute fuer den einen, morgen fuer einen Anderen, und uebermorgen, das weiss ich, wird sie todungluecklich sein. Aber sie ist viel zu traege, sich mit solchen Fragen ueberhaupt zu beschaeftigen, und wahrscheinlich versteht sie sie nicht einmal. Sie reflektiert ihre Gefuehle nicht, sie lebt sie einfach nur aus, ganz egal auf wessen Kosten." Laura hielt es in der warmen Kueche nicht mehr aus. Sie sprang auf und oeffnete das Fenster. Eiskalte Luft stroemte herein. "Vielleicht war deine Begierde einfach zu stark," sagte Martin versonnen, "wenn ein Wunsch zu sehr draengt, wird er unerfuellbar. An deinem uebermaessigen Verlangen sind Brittas Wuensche gestorben. So entsteht Impotenz ... und auch umgekehrt: wer ohne Wuensche ist, kann sich schliesslich jeden erfuellen." Er wusste nicht, wie genau er mit seiner kalt-kristallinen Weisheit die Wahrheit getroffen hatte. Zuerst schwieg Dieter minutenlang, nickte auch ein uebers andere Mal, aber es war ein seltsames unheimliches Schweigen, worauf ein Ausbruch erfolgte, er heulte auf wie ein verwundetes Tier, rang die Haende und beklagte sein Unglueck wie ein Trauernder, der um einen eben Verstorbenen sich graemt, er wand sich auf seinem Stuhl und fing wieder zu weinen an, waehrend er noch weitersprach, laut zuerst, wie kreischend, dann schluchzend und immer leiser werdend und endlich in Schweigen verfallend. "Eine Neurose!" dachte Martin, waehrend Dieter weiterjammerte, alles habe so toll angefangen, ihre Beziehung sei etwas wirklich Besonderes gewesen, sie haetten die schoensten Sachen zusammen gemacht und Britta habe ihm staendig versichert, wie sehr sie ihn liebe, sie habe sich ihm ganz hergegeben, er koenne immer noch nicht verstehen, was zuletzt bei ihr abgelaufen sei, warum sie sich so ploetzlich von ihm abgewandt habe, wie eine unheilbare Krankheit komme ihm ihre Beziehungsunfaehigkeit vor. Wieder wollte ihn Martin beruhigen, mit einem kernigen "Entspann dich Mann!", und redete auf ihn ein, das sehe er auch so, das Problem liege auf Brittas Seite, "vielleicht solltet ihr euch analysieren lassen"; doch er machte damit alles nur schlimmer, und da die Anderen erkannt hatten, dass die seelische Aussonderung schlechter Gefuehle viel Zeit braucht und sich von aussen kaum beschleunigen laesst, und sich entsprechend zurueckhielten, so schwieg zuletzt auch er. Jetzt frage er sich manchmal, fuhr Dieter fort, wie es ausgegangen waere, wenn er sich nicht so geoeffnet, sondern mehr zurueckgehalten haette. "Lass dir gesagt sein", sagte Kalle, "es war gut so, es war ueberwaeltigend, so alles von ihr zu nehmen, anderswie haettest du nicht die Haelfte bekommen." "Wie oft wurde sie von schlechten Stimmungen getrieben," sagte er abwesend, "und hat mich mit heruntergezogen." "Ich kenne das", haette ihm da Richard gern zugerufen, nur mit Muehe konnte er sich zurueckhalten, "du hast sie und ihre Befindlichkeiten viel zu ernst genommen, die Ueberlegenheit des Lieblosen ging dir ab, der sich ueber sein Maedchen auch mal lustig macht. - Und glaubtest, warst sicher, diese Liebe wuerde ewig halten. Was fuer ein Irrtum! Das Ende war schon im Anfang eures Verhaeltnisses angelegt, ich habe es doch beobachtet, jeder hat es beobachten koennen, wie ein verliebter Dachs bist du um sie herumgeschlichen, mit gesenktem Kopf, nur darum hast du alle Signale uebersehen, die wie grosse Blinklichter in ihren Augen leuchteten. Du wurdest ihr laestig, als ihre Gefuehle erkalteten. Warum sie aber erkalteten, und ob es wirklich Liebe war, diese Fragen haben gar nicht so viel mit dir zu tun. Sie hing innerlich noch an ihrem vorigen Freund, und vielleicht haben auch manche Bekannte ihr eingeredet, du seist zu unreif fuer sie, sie brauche einen erfahreneren Beschuetzer. Es ist gewiss nicht deine Schuld, wenn Britta nicht weiss, was sie will, IHRE Unreife kannst du dir wahrhaftig nicht vorwerfen." "Der schlimmste Augenblick meines Lebens war, als sie mir neulich mitteilte: 'ich liebe dich nicht', einfach so, bumm", sagte Dieter. Ein schwarzes Loch hatte sich da aufgetan, der Boden gab unter ihm nach, und die Angst, sie zu verlieren erfuellte seitdem seine Tage. Und er hatte nicht die Kraft, Konsequenzen zu ziehen, hatte tatenlos abgewartet, wie es weitergehen wuerde. Manchmal war er so sauer ueber ihre Lieblosigkeit, dass er ihr mit Trennung drohte, doch sie hatte gelacht und gespuert, dass es ihm nicht ernst damit war. "Es war boesartig, dir das auf den Kopf zuzusagen", urteilte Laura und troestete ihn: "Ich weiss, du hast getraeumt, fuer immer mit ihr zusammen zu bleiben. Aber wir wissen auch, dass du dir deine Zukunft ganz anders vorstellst als sie, du hast eine politische Ueberzeugung, du willst aufs Land, um deine Ideen zu verwirklichen. Von alldem will sie nichts wissen, sie will nur ihren Spass und moeglichst viel Bequemlichkeit." "Ausserdem haben sich meine Eltern kuerzlich getrennt", sagte er unvermittelt. "Sie haben das Haus verkauft, vor zwei Wochen bin ich noch mal hin, da waren alle Moebel schon fort, und darum mochte ich gar nicht erst reingehen, ich hab ne halbe Stunde davorgestanden und mich an meine Kindheit erinnert, und dann bin ich ein bisschen im Garten herumgeschlichen, zwischen den blattlosen Herbstbaeumen, wo ich sommers immer gespielt habe und hinaufgeklettert bin, und mich wie der kleine Koenig gefuehlt habe, der kleine Koenig auf seinem Aussichtsturm, irgendwie hatte ich geglaubt, es wuerde fuer immer mein Reich bleiben. Aber natuerlich, seit ich erwachsen bin, hat der Garten Glanz und Groesse verloren, und jetzt ist er mir ganz abhanden gekommen." In den Jahren um '68 hatten die Eltern einen Schmetterlingsbaum im Garten, einen duerren Strauch, auf dessen ueppigen Blaettern an heissen Tagen Dutzende der bunten Insekten sich sammelten. In den langen und trueben norddeutschen Wintern ging er meist ein, und irgendwann hatten sie es aufgegeben, im Fruehjahr Ersatz zu pflanzen. Um die Stelle, wo frueher die Staude stand, kreiste jetzt eine grosse Libelle, wenigstens 5 cm lang, es war eigentlich die falsche Jahreszeit, und surrte wie ein Hubschrauber, und als sie sich ploetzlichauf ihn zubewegte, sah sie ihn mit ihren grossen Facettenaugen seltsam wissend an, um gleich darauf abzudrehen, und ihren Kreis zu vollenden. Er aber schlich weiter um das Haus, worin er aufgewachsen, schaute in entlegene Ecken, voller Dreck und Staub und Kot und nassem wurmfraessigen Holz, wo vormals makellos Ordnung geherrscht hatte, und kam sich wie ein Fremder vor. In einem herumliegenden bunten Plastikstueck versuchte er, ein altes Spielzeug wiederzuerkennen und verlor sich bald voellig in Erinnerungen. - 2 kleine Jungen, die gern Cowboy und Indianer spielten. Ihr Glueck vollkommen, als sie auf der in Reichweite ihrer kurzen Beine gelegenen Wiese das Pony entdeckten. In den Ferien trieb es sie taeglich den dicht mit Gras bewachsenen Feldweg hinunter zum Bach, wohinter die Wiese. Dort sprudelte sauberes Wasser, alte Weiden bluehten am Ufer und niemand stoerte die kindliche Abgeschiedenheit. (Der Bach und die ganze Idylle sind laengst einer 'Flurbereinigung' zum Opfer gefallen, und einem 'Bebauungsplan', und wenn DuLeser dies liest, stehen dort ueberall nur graessliche Bauten.) Zutraulich kam das Pony heran, und sie sassen jedesmal lange streichelnd auf dem Gatter, 'Schaempchen' war kein Nutztier fuer sie, kein Reittier, es war der unvergleichliche Gefaehrte ihrer Traeume, der jedes Wettrennen gegen die schnellsten Hengste gewonnen haette, wie Fury im Fernsehen. Sie liebten es innig, versorgten es mit Negerkuessen, Salzstangen, Lakritzen und so weiter, und meinten, ihm damit gutes zu tun. Er gehoerte zu jener Generation, in deren Kindheit das TV-Zeitalter begann, sie alle waren von den ersten Gehversuchen der Fernsehanstalten und von Serienimporten aus Amerika gepraegt, und wenn man heute mit gleichaltrigen zusammen war, erinnerte man sich gelegentlich dieser kollektiven Erfahrung, mit Abscheu und Wehmut, solches Fernsehen wuerde es nie wieder geben, solche Kindheit auch nicht. Man war im vorzeitigen Frieden aufgewachsen. Er erinnerte sich, wie ihm Mauerbau und echauffierte Kommentare der Nachrichtenjournalisten als sonderbare Botschaften aus einer marginalen Welt erschienen waren. Die wahre Welt, wenn er ueber die engere Heimat hinausdachte, war die weite Natur, als Kind schon hatte ihn Grossstadt verstoert, er liebte das Land, stundenlang hatte er durch feuchtes, von morgendlicher Waerme dampfendes Gras streifen koennen, um endlich am Ufer eines Tuempels nach Kroeten, Molchen und Fischen Ausschau zu halten. "Von allen kostbaren Erinnerungen bleiben nur Ruinen", dachte er, "nichts kann man festhalten, die Zeit nimmt einem alles weg". Und was bei Martin nur eine kurz aufblitzende bittere Erkenntnis war, muendete bei ihm in einen breiten Strom der Trostlosigkeit: "Alles wird vom Gedaechtnis verzerrt und verunstaltet. Zum Beispiel, ob ich mich je wegen des Ponies mit Richard gestritten habe ... ich weiss es nicht." Zurueck blieben immer nur helle flash-artige Fetzen, wie schlechte unscharfe Photos; Spielplaetze, Fussballfelder, das Zuhause der Schulfreunde und das eigene Zuhause, Kinderzimmer, in denen gedankenlos Tage verschwendet wurden. Erinnerungen, die sich noch weiter aufloesten, wenn die Eltern alt wurden und starben. Die Endlichkeit, Eindimensionalitaet und das Zerstoererische der Zeit machten das Leben fragmentarisch. Ueberall standen Truemmer hoffnungsvollen Beginnens; doch kaum etwas fuehrte zu dauerhaftem Erfolg. Spaeter war er durch die Einkaufspassage geschlendert und an seiner Schule vorbeigekommen und hineingegangen, wegen einer Bescheinigung, die er fuer die Uni brauchte. Man hatte das alte, aus der Kaiserzeit stammende Gebaeude kurzerhand abgerissen, in einer Art Modernisierungstaumel zerstoert, und er lief unsicher und orientierungslos durch die unbekannten Flure des Neubaus, Beton und Glas statt Sandstein und Stuck spiegelten den Wohlstand der Zeit, welcher den untergegangenen Wilhelminischen zu uebertrumpfen suchte. Schaefers Nachfolger erinnerte sich allzu genau an den Ehemaligen und entsprechend behandelte er ihn, von oben herab, waehrend die Sekretaerin das Formular vorbereitete, welches er schnell unterschrieb, und verabschiedete ihn eilig, und seltsamerweise hatte Dieter mehr Aufmerksamkeit erwartet, der neue Direx war schliesslich sein letzter Klassenleiter, gut, er war ein renitenter und ziemlich schlechter Schueler gewesen, und hatte gewiss nicht die besten Aussichten ... Vor zweieinhalb Jahren hatte er Abi gemacht, und jetzt, die Schueler, nicht zwei bekannte Gesichter! Damals hatte er sich wie der Nabel der Welt gefuehlt, stark und frei. Und jetzt? Die Eltern geschieden und die Schule ging auch ohne ihn weiter. Sie wuerden immer genug Kinder finden, um ihre scheiss-autoritaeren Lehrplaene durchzuziehen. Und als er an der Aula vorbeikam, eine grosse offene Halle, die wie ein Luftschiff ueber einer Buehne schwebte, verstoerte ihn ein anderer schmerzlicher Gedanke: er waere gern laenger und in diesem Neubau zur Schule gegangen. Schulzeit war doch eine schoene Zeit, dieser Einfall wollte sich in ihm ausbreiten, und es war schwer, ihn abzuwehren. Es war wie ein Witz: Kaum den Kinderschuhen entwachsen, hatten Richard und er sich reif und faehig gefuehlt, die Geschicke der Welt zu beeinflussen. Sie hatten sich eine eigene innere Welt von Ueberzeugungen zusammengesponnen (an der Richard, nunmehr mit Martin, fleissig weiterspann) und nicht erkannt, dass ihnen ein wesentliches Verbindungsglied fehlte, die Faehigkeit, ihre inneren Gewissheiten und Folgerungen praktische Wirklichkeit werden zu lassen. Waere er nach aussen genauso stark wie in jener inneren Gefuehlswelt, so waere die Sicherung seines privaten Gluecks mit Britta die einfachste Uebung gewesen. Doch er war schwach und hatte schnell verloren, was als grosse Hoffnung begann, hatte geschwiegen, besonders in kniffligen Situationen, obwohl er eigentlich wusste, was zu tun und zu sagen war, weil er sein Wissen nicht in Handeln umsetzen konnte. So war er immer dieser seltsam unwirkliche Mensch geblieben ... Es gab einen Film, "Deine Zeit ist um", ueber einen alten Spanienkaempfer, der illegal in seine Heimat zurueckkehrt, um seine todkranke Mutter zu besuchen und dort zuletzt gefangen wird; es war total uebertrieben, sich mit dem Film zu vergleichen, aber auch er glaubte zu spueren, dass es mit ihm zu Ende ging, das Diktum "Deine Zeit ist um" traf einen Nerv. Seit die Geschichte mit Britta vorbei war, meinte er nicht mehr zu leben, er fuehrte nur noch Kalender, eine Strichliste verlorener Tage. ------- "Du uebrigens, ich muss Schluss machen, ich erwarte noch einen Anruf", hatte Ellen inzwischen zu Britta gesagt und nach den ueblichen beiderseitigen Freundschaftsbekundungen aufgelegt. Sie liess das Telefon neben sich stehen und tatsaechlich, kurz darauf klingelte es, und wieder bruellte sie "ich geh schon ran" in Richtung Kueche, bevor sie den Hoerer abnahm. Nicht viel spaeter hoerte man sie im Bad rumoren und sich zurechtmachen. Das winzige Bad war von der Kueche nur durch eine duenne Wand getrennt, man konnte in beiden Richtungen jedes Toenchen genau verstehen, in dieser Hinsicht gab es in der Stresemannstrasse keine Privatheit. Laura und Co versuchten inzwischen, Dieter mit allen moeglichen Tricks von seinem Kummer abzulenken, und er, da er meinte, ihnen unwuerdiges Schauspiel genug geliefert zu haben, zwang sich immerhin zu einer optimistischen Koerperhaltung, und begann auf einmal das grosse Wort zu fuehren, ueber irgendein x-beliebiges Thema. Es klingelte. Raja, die es sich zu Lauras Fuessen bequem gemacht hatte, sprang auf und hetzte zum Flur, wo sie schwanzwedelnd an der Wohnungstuer kratzte. Martin folgte ihr. Durch die Milchglasscheibe erkannte er den abgetragenen Lodenmantel, und seine Miene gefror zu Eis. Er oeffnete und stellte sich in den Tuerrahmen. "Was willst du", fragte er barsch und machte keine Anstalten, Ali einzulassen. "Ich bin mit Ellen verabredet", erwiderte dieser scheinbar unbefangen. "Ach so", sagte Martin und trat widerstrebend zurueck. Er wandte sich ab und stiess die Tuer zu seinem Zimmer auf, wohin sie sich zurueckgezogen hatte, nachdem sie im Bad fertig war. Sie thronte dort, schon wieder telefonierend, im Schneidersitz auf dem selbstgezimmerten Bett. "Ali ist da", erklaerte er tonlos. Sie legte die Hand auf die Muschel und sagte leichthin: "Er soll noch 2 Minuten warten, bis ich fertig bin, und sich solange in die Kueche setzen." Er hatte sich schon von selbst dahinbegeben und begruesste die Anwesenden mit leicht verkniffenem Laecheln, welches von Laura herzlich quittiert wurde, waehrend Dieter, wieder verstummend, wie ein unkontrolliert aufgeblasener Ballon in sich zusammensackte und teilnahmslos vor sich hinstarrte, und Richard und Kalle sich fragten, warum ihm so offenkundig nicht wohl in seiner Haut war. Er setzte sich und tauschte zwei, drei Belanglosigkeiten mit Laura, dann kam ihm eine gute Idee, die anderen von ihren Ahnungen abzulenken. "Dich habe ich gesucht", wandte er sich an Richard. "Die Stadt hat uns heute einen Brief geschickt, und ich habe gleich bei Lohrmann angerufen", das war der Sanierungsbeauftragte, "ist ja'n heisser Vogel, der Mann, angezogen wie'n Alternativer, im Holzfaellerhemd und so, du hast doch neulich auch mit ihm verhandelt, in seiner Freizeit kehrt er wahrscheinlich den grossen Liberalen heraus, und an der Wand haengt Kokoschka, aber ansonsten knallhart, er hat mich ins Rathaus gebeten, sie haben uns naemlich Ersatzwohnungen angeboten - ja", rief er nach einer Pause ironisch in die fragenden Gesichter, "wir koennen uns aussuchen, ob wir demnaechst in St.Pauli oder im Schanzenviertel wohnen wollen." "Iss ja irre!", liess Laura verlauten, "dann seid ihr wohl alle Sorgen los. Oder ist das ein Koeder, mit dem sie euch reinlegen wollen?" "In gewissem Sinne ist es natuerlich ein Koeder, damit wir Ruhe geben, aber der Vorschlag an sich ist ganz ernst gemeint und ohne Haken und Oesen, davon hat mich Lohrmann ueberzeugt, und ich habe auch nicht gleich abgelehnt, wir sollten uns das ueberlegen, obwohl es vom politischen Standpunkt die Kapitulation bedeutet." "Man muss sich die Wohnungen natuerlich erstmal anschauen", sagte Richard vernuenftig, "inwieweit mit denen alles in Ordnung ist. Wo genau liegen sie denn? Ob man an der Elbe wohnt oder an der Sternschanze, ist schon ein kleiner Unterschied." "Wie gesagt, sie haben 2 Wohnungen angeboten, die Adressen stehen hier", sagte Ali, wobei er einen Zettel aus der Tasche fischte, "die eine ist mehr oder weniger direkt am Schanzenpark und die andere liegt in der Roggenbekstrasse." "Ach die Roggenbekstrasse", sagte Kalle abschaetzig, "die kenn ich. Alles neue Sozialwohnungen, Hamsterkaefige kann ich euch sagen, schmale schummrige Flure, wo sich eine Tuer an die naechste reiht, frueher haben da schoene alte Haeuser gestanden, aber alles abgerissen, Totalsanierung, haha. - Sternschanze hoert sich schon besser an, iss ja ziemlich viel los im Schanzenviertel, aber ihr muesst aufpassen, dass sie euch keine Bruchbude andrehen, in der Gegend sind viele Haeuser in ganz schlechtem Zustand." "Das koennte der Haken sein", meinte Richard. "Ihr solltet sie einfach mal unverbindlich besichtigen", riet Laura. "Ansehen kostet ja nichts, ihr muesst nur aufpassen, dass ihr keine Zugestaendnisse macht, die sie hinterher gegen euch auslegen." "Ich denke, wir werden zweigleisig fahren. Wir besichtigen sie, entwickeln aber unseren Widerstand wie geplant weiter", sagte Ali politisch. "Nachdem ich noch einmal herausgestellt hatte, dass wir unbedingt in der Klopstockterasse bleiben wollen und sie gern auch selbst renovieren wuerden, hat er mir zwar geantwortet, das sei voellig aussichtslos, die Stadt werde garantiert auf ihrer Kuendigung beharren, aber das kommt mir mittlerweile wie eine abgedroschene Litanei vor, wir sollten uns nicht irritieren lassen, schliesslich ist der Ersatzwohnraum ja bereits ein Kompromissangebot, und vielleicht geben sie noch weiter nach, wenn wir den Druck erhoehen. Wir koennten ..." "Karsten hat mich neulich auf eine interessante Idee gebracht", unterbrach ihn Richard. "In der Seefahrtsschule gibt es einen grossen Hoersaal, der abends fuer Veranstaltungen genutzt wird, Vortraege und so, die gar nichts mit Seefahrt zu tun haben, und manchmal finden dort auch politische Foren statt. - Die Idee ist, wir koennten das ganze Viertel einladen und ueber unsere Situation informieren. Karsten wollte eigentlich im Direktorat nachfragen, hat er natuerlich verbummelt, aber im Prinzip ist es glaub-ich eine gute Idee." "Das muss doch kein Seefahrtschueler machen, du kannst dich sicher auch selber erkundigen, wenn du hoeflich bist und ihnen die Situation erklaerst ..." sagte Laura, und Kalle befand: "Ey Mann, ja, das iss ne echt gute Idee, wenn die Buerokraten das hoeren, springen sie im Dreieck; vor Volksauflaeufen haben sie Angst." Und sie malten sich in schoensten Farben aus, wie es in Ottensen zum Aufruhr und schliesslich zu einem Aufstand kommen wuerde, welcher alle Machthaber aus Altona hinwegfegen wuerde, von jetzt bis zur Unendlichkeit des Universums. Da stand Ellen ploetzlich am Tisch, in voller Wintermontur, warme Wollhose, Lippen geschminkt, Persianer (gebraucht); und ein braunes Tuch war kunstvoll ueber die Haare drappiert. "Wir koennen jetzt gehen", sagte sie sanft, und Ali erhob sich gehorsam, und jetzt verstand Richard, warum sein Hausgenosse den Mantel trotz Kuechenhitze nicht abgelegt hatte. Ellen war der eigentliche und einzige Grund, warum er hier bei Ihnen sass, es drehte sich ueberhaupt nicht um die Klopstockterasse, es war nur Eros, der ihn hierhertrieb. Dieter hatte eine zeitlang geschwiegen, doch als das Paerchen verschwunden war, und dieser Vorgang sein von seelischen Schmerzen vernebeltes Bewusstsein erreichte, lebte er wieder auf - wie ein Manisch-depressiver, dessen Nachbar gerade aus dem Fenster gefallen ist, und der hinter einer Gardine beobachtet, wie der Rettungswagen ihn abholt ... oder wie ein zum Tode Verurteilter, dessen Zellengenosse zur Hinrichtung abgefuehrt wird. - Andern passierte mit Frauen dasselbe wie ihm, auch wenn sie nicht so darunter litten, aber man brauchte sich Martin nur anzugucken, wie blass und schweigsam er war, so ganz spurlos ging das nicht an ihm vorbei. Und er verkuendete: "Fuer mich waer das nichts, und wenn sie mir noch so viele Ersatzwohnungen anbieten wuerden. - Ich hab ueberhaupt das Stadtleben satt", und erzaehlte dann, wobei sich seine Stimme immer mehr festigte: "Letzte Woche hing ich im Casablanca rum, und da habe ich John kennengelernt, ein cooler Typ, der nur auf der Durchreise war und eigentlich inner Land-WG inner Naehe von Muenchen lebt. John hat mir gesagt, dort gibts mehrere alternative Hoefe und viel Platz und teilweise suchen sie noch Leute, und das hat mir Mut gemacht, ich hatte vorher schon in der Mensa einen Zettel gefunden von Leuten aus der Gegend, da anzurufen, und naechste Woche werde ich hinfahren, und ich kann euch sagen, wenn sie mich nehmen, mach-ich hier sofort die Fliege, auch wenn das bedeutet, erst mal keine Kohle zu haben und ich noch nicht weiss, wie ich mich durchschlagen werde, aber laut John kann man vom Gemueseverkauf einigermassen leben." "Waers nicht besser", fragte Richard beunruhigt, "du wuerdest dir eine Landkommune hier in der Naehe suchen, dann muesstest du dein Studium nicht aufgeben, und koenntest es fortsetzen, falls dir das Landleben doch nicht gefaellt." "So habe ich frueher auch gedacht, aber inzwischen meine ich, man muss sich endgueltig entscheiden, nur so kann das neue Leben ein Erfolg werden", und er sprach das 'neue Leben' aus, als wuerden seine Plaene das Paradies verheissen, anscheinend verdichteten sich nach der enttaeuschten Liebe all seine Hoffnungen darauf. Solche Glaubensbekenntnisse verstaerkten Richards Skepsis, aber er wollte den alten Freund nicht wieder gegen sich aufbringen, und Laura und die anderen haetten eine entsprechende Bemerkung sowieso unpassend gefunden, sie war es wohl auch, als allererstes musste Dieter ueber den Verlust von Britta hinwegkommen. So redete man hin und her, ohne praktische Konsequenzen zu ziehen oder besondere Entscheidungen zu treffen, der Abend geriet zu einer Art gemeinschaftlichen Bauchkraulens fuer Dieter, welcher nach einiger Zeit ermuedete und meinte, er sei nun genug getroestet und werde sich zu Hause ins Bett legen und nichts als schlafen, ihm sei alles schon gleich; und dachte: "wenn mir nur Britta nicht ueber den Weg laeuft". Und waehrend er schon im Aufbrechen war, beschlossen die Andern, ins Tuc-Tuc zu gehen, das heisst, Martin und Laura beschlossen und Richard und Kalle folgten widerstrebend, besonders Richard, der sich ueber das Lokal nur beaeumeln konnte. Wenn man das Tuc-Tuc mit den Kneipen verglich, in denen er sonst verkehrte, dunkle schummrige Keller mit abgebrannten Kerzen auf schwarzhoelzernen Tischen, oder auf-jung gemotzte Pinten mit hell bestrahlter Bierreklame an der Fassade, schien es wie ein Amuesierbetrieb fuer Ausserirdische, und in der heterosexuellen Welt, worin er gewoehnlich verkehrte, war es das auch. Die Betreiber hatten den frueheren Kurzwarenladen, der schon vor laengerem dicht gemacht und kurzzeitig als Lager eines Getraenkeshops herhalten musste, mit viel Aufwand renoviert und derartig aufgedonnert, das er alle gaengigen Auffassungen von Kitsch und gutem Geschmack verhoehnte. Schon von weitem blendete das Tuc-Tuc die Augen wie ein Schaufenster mit uebertriebener Weihnachtsdekoration. Vorn leuchtete ein Dutzend Neonroehren in allen Spektralfarben, und dahinter nahm man schemenhaft das ebenso grellbunte Treiben der Gaeste wahr. Oben an der Hauswand aber hing eine viel zu kleine lila Kunststoffmarkise wie der verirrte Schirm eines Pilzes. Dieter verabschiedete sich schnell und zog Richtung Lippmannstrasse davon. Er hoffte, dass Britta schon weg war, so dass er sich gefahrlos in sein Zimmer verkriechen konnte. Er wollte sich einfach fallen lassen, ein paar Kerzen anzuenden und sich aufs weiche Bett rollen, das troestete einen noch am ehesten, und dann endlich einschlafen. Zwar blieb ihm Britta erspart, doch ganz so glatt lief es nicht, im Schein der Kerzen fielen ihm immer neue Gesichtspunkte ein, die er uebersehen hatte, und womit er sie zurueckgewinnen konnte, wenn er es klug anstellte, und mehrmals knipste er das Licht an, setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb geschraubte Mitteilungen an seine Flamme, die er teilweise gleich wieder zerriss und allesamt niemals abschickte, nur einige bewahrte er auf zur Erinnerung an diese Tage des Terrors, und an die Liebe, welche ihnen vorangegangen war. "Das alternative Arkadien, das ich in der Stresemannstrasse in den leuchtendsten Farben geschildert habe, und woran angeblich mein Herz haengt, schmeckt doch nur wie altes Papier. Wie kann ich fuer meine Ideale kaempfen, da ich kaum die Kraft habe, mich am Leben zu halten, da du mich verlassen hast? Bin ich stark genug, die Enttaeuschung je zu verwinden? Es heisst: 'jeder bekommt, was er verdient' und 'vom Starken wird mehr verlangt als vom Schwachen'. Aber bin ich ueberhaupt in irgendeinem Sinne stark, da ich bei der geringsten Zurueckweisung durch meine Geliebte voellig den Mut verliere und in wochenlange Depressionen verfalle? Einerseits ist es zum Lachen. Wieder hat mich eine Frau im Stich gelassen, die ich wie keine andere zu lieben meinte. Dabei hatte ich die vorige Liebe noch gar nicht verarbeitet, ich weiss genau, letztes Jahr war ich wegen Steffi fast genauso geknickt. Also Dieter, lass die Panik, Martin hat recht, entspann dich, es wird alles gut. In diesem allen, noch im schrecklichsten Unglueck, ist ein Sinn jenseits des eigenen subjektiven Konzeptes, der Sinn des einfachen Soseins. Bezweifelst du das? Auch gut. Aber dass du, dein Koerper und Verstand ueberleben muessen, das wirst du doch einsehen. Also versteigere dich nicht zu sehr in deine Hoffnungslosigkeit. Hast du es nicht satt, traurig zu sein? Atme voll und tief, beginne zu leben, und lass dich nicht von irgendwelchen Manoevern ablenken, besonders nicht von dem Hirngespinst, sie koenne zu dir zurueckkehren, glaub mir, das wuerde dich in noch groessere Verzweiflung treiben. Wende deine Gedanken von den Frauen ab, erinnere dich stattdessen an helle Bilder der Vergangenheit, an die Freunde zum Beispiel. Du bist jetzt wieder allein, schon richtig, doch Alleinsein kann stark machen, und sei sicher, die Freunde werden dir helfen, hab Vertrauen, du kannst ihnen alles sagen, selbst die bedrueckendsten Aengste und Geheimnisse, sie werden dich troesten, das hast du ja vorhin gesehen. Irgendwann wird sie sich fuer dich relativieren, ganz von selbst, wird nur Eine in der Riege deiner Exfreundinnen sein. 'Neue Frau, neues Glueck', so zynisch solltest du nicht sein, dir das schlankweg zu verordnen, wiewohl dir ein wenig Zynismus nicht schaden kann, und also, warum versuchst du nicht, sobald du dich von der Trennung einigermassen erholt hast, eine bessere zu finden, die sich vorbehaltlos auf dich einlaesst, eine, die dir zum Glueck in der Liebe eine ruhige Stetigkeit beschert und deinem Umherirren ein Ende macht." Und nicht lange darauf schrieb er jene aufgebrachten Saetze, welche zwar nicht der Wahrheit entsprachen, dafuer aber umso mehr sein Gemuet erleichterten, indem sie ihm halfen, eine Grenze zwischen sich und die Andere zu ziehen, mit der er eins gewesen, und die ihn doch nur betrogen hatte. "Liebe Britta, ich finde, es ist hoechste Zeit abzurechnen. Also erstens, du machst mich krank und das ist einer der Gruende, warum ich froh bin, dich los zu sein. Natuerlich haette ich selber dir den Laufpass geben sollen, aber dazu war ich nicht stark genug, im Gegenteil, ich bin durch dich Miststueck immer schwaecher geworden. Deine Gemeinheiten haetten mich eigentlich von dir entfernen muessen; doch gerade die negativen Gefuehle, Misstrauen, Aengste und Eifersucht, welche zuletzt alles andere ueberwucherten, haben mich an dich gekettet. Leider habe ich mir vorher nie klar gemacht, was fuer ein Luder du bist (nur unbewusst war mir das klar); ich wollte dich eben bumsen, ueber alles andere habe ich hinweggesehen, dein zweifelhaftes Verhalten Maennern gegenueber, deine Interesselosigkeit und deinen Nihilismus, deine spiessbuergerlichen Vorstellungen vom Leben, deine ganze geistlose Art. Ich habe alles erduldet, weil ich dich bumsen wollte, weil mir die Intimitaet gefallen hat, die zwischen uns bestand, das hat dem Bumsen einen besonderen Kick gegeben, aber es war doch nichts weiter dabei, nichts tieferes oder bedeutendes, und da es auch mit dem Ficken zuletzt haperte, haetten wir uns schon laengst trennen sollen. Du kannst dir wohl vorstellen, dass es aus dieser Sicht Quatsch ist, noch jemals etwas mit dir zu tun zu haben. Ich bin auf dich nicht angewiesen, glaubst du etwa, ich haette aus Liebe mit dir geschlafen?, voegeln wollte ich dich, das ist alles. Naja, das interessiert nicht mehr, du hast jetzt einen neuen Liebesfruehling, wir hatten nur einen dunklen Herbst zusammen. Aber glueckauf, kann ich nur sagen, dass ich dich los bin. Denn die Vorstellung, dich noch jahrelang zu ertragen, mit deiner miesen Laune und deiner Unzufriedenheit, die nichts als Langeweile, Selbsthass und Unmenschlichkeit ist, bevor du endlich, bei welcher Gelegenheit auch immer, dich doch verabschiedet haettest, macht mich ganz krank. Drecksaeue wie du vergiften das menschliche Zusammenleben. Dummkoepfe wie ich erkennen das leider zu spaet. Mit unfreundlichen Gruessen" Er warf den Schreiber von sich und schleuderte erschrockene Blicke umher wie ein Verraeter, der soeben sein Gestaendnis unterschrieben hat. In diesem Zimmer hatte er sich nie richtig wohlgefuehlt, das Kerzenlicht schoente und verhuellte nur das Provisorische der ganzen Einrichtung: die braunen Vorhaenge (nur provisorisch befestigte Stoffbahnen), das von Backsteinen gestuetzte Regal, der alte wacklige Tisch, ... Einmal hoerte er Otto und sein neues Maedchen nach Hause kommen, und in der Wohnung umherschleichen, und er fragte sich, was das fuer eine Beziehung war, die sich nie bei Tageslicht sehen liess, doch da seine Verbitterung kaum noch zu uebertreffen war, hoerte er endlich auf, sich Fragen zu stellen, und verfiel bald in tiefen Schlaf.