Der Unverrueckbare
 


1.

Da sitze ich nun, ich sitze geradeaus. Unter mir spielen Wasserwellen, ueber mir schattet der Baum, dessen Blaetter auf dem Fluss tanzen, unendlich weit entfernt. Meine Beine wippen im Wasser, das sich niemals aufhalten laesst, so schnell ist es, spaetestens in einigen Stunden hat es die Elbe erreicht. Oh, wenn mein Atem doch so schnell waere!

Der ewige Fluss hat mich ergriffen, der ewige Wandel haelt mich fest, ich vergesse die Zeit, die Freunde, die ahnungslos neben mir stehen. Oder ist es ein Trugbild, das erdenhafte, das stetige, unabaenderliche, von dem ich den Blick nicht wenden kann, ein Blick in den Spiegel? Ich habe nie hinter den Bergen den Himmel erwartet.

Der Fluss bewegt sich, und der Wind kraeuselt seine Oberflaeche. Er ist so gerade wie ein Kanal, er ist ein schmales langes Meer. Vielleicht haben ihn Soldaten im letzten Krieg ausgehoben; wieviel Blut mag hier hinabgeflossen sein? Die Bauern, die das Land mit seiner Hilfe bewaessern, hat das nie gestoert.

In der Stille hoere ich Worte, die an mich gerichtet sind. Vom Weitergehen ist die Rede, vom Weg und vom Ziel. Ploetzlich weiss ich, dass ich es nicht erreichen werde, ich will es nicht erreichen. Die es erreichen, haben schwarze Gesichter.

Denk an was Anderes, mein Freund! Denk an den fliessenden Fluss, lass dich tragen von hier nach hier. Du weisst, dass dich eine Art von Wahnsinn befallen hat, eine Lust am Nichts, Rettung gegen den Reichtum der Sinne. Das Land der Wildbaeche koennte dir helfen.
2.

Solche Ratschlaege fahren durch seinen Kopf, und die beiden Freunde versuchen vergeblich, ihn zur Rueckkehr zu bewegen. Er scheint sich in einer Art Trance zu befinden, aus der man ihn nicht herauslocken kann. Sie ahnen, dass es eine lange Nacht werden koennte. Sie werden ungeduldig, der ganze Ausflug ist ihnen verdorben. Wir gehen jetzt, sagt der eine impulsiv. Sie trauen sich dann aber doch nicht, ihn alleinzulassen, er ist ein Mensch, um den man sich Sorgen machen muss.

Vielleicht sollte man ihn bedrohen oder noetigen. Man zieht auch an seinen Kleidern, doch er schlaegt um sich. Er will auf der hoelzernen Bruecke sitzenbleiben.

Na gut. Soll er doch. Wer sind sie denn, dass sie hier die Nacht mit ihm verbringen wuerden? Niemand wuerde das tun.

Am naechsten Morgen ist er jedenfalls noch nicht heimgekommen. Man muss sich also weiter darum kuemmern.

3.

Mein Freund faehrt nach Bueroschluss wieder ins Gruene. Er hofft, mich ueberzeugen zu koennen, unter vier Augen und unter Maennern, ist frischen Mutes, er will wissen, welchen Sinn 'das alles' haben soll. Ich antworte ihm ruhig, dass mir ein goldener Ring in den Fluss gefallen sei. Da ich ihn nicht wiederfinde, muesse ich die Bruecke bewachen.

Er versteht mich nicht, das ist klar. Er sagt, er wisse, dass es mir schlecht geht. Bei mir muesse sich einiges aendern. Er werde mir helfen.

Er soll mich zufrieden lassen! Ich brauche keine Hilfe und werde keine Zugestaendnisse machen.

Er versucht, mich in ein Gespraech ueber meine Identitaetsprobleme zu verwickeln. Ich brauche keine Identitaet! Mir reichen meine Ansichten, und die fragen sich im Moment, warum ich mich dieses Dummkopfes nicht schon laengst entledigt habe.

Die Zeit vergeht, meine Gedanken kehren zu Fluss und Natur zurueck, ich spreche jetzt die Sprache der Fische, man sieht sie nur, wenn man die Augen aufs Wasser konzentriert. Die Sonnenstrahlen, die schon wieder an Kraft verlieren, treffen auf herumwirbelnde Staubfaeden, ein Eindruck von Unordnung in all dieser Klarheit.

4.

Ich weiss selbst, was mir fehlt, so schlau wie er bin ich schon lange. Mein Blick faellt auf den Baum in seinem ueppigen Blaetterkleid, der mich in Atem haelt, seit ich meinen Entschluss gefasst habe, und ich danke ihm, dass er mich hier aufgenommen hat.

Mein Freund wird zornig. Obgleich er schwankt, ob dies noch seine Sache ist, hat er beschlossen, mir zu 'helfen'. Mit lautem Schimpfen und wuetenden Gebaerden versucht er, mich auf die Beine zu bringen. Dort oben hat er mir zwar den Blick aufs Kornfeld voraus, sieht aber auch nur den Bauern auf die Kuehe schimpfen. Er hofft, dass sie mich vertreiben, wenn sie des Nachts ueber die Bruecke ziehen.

Scheinbar unbeeindruckt sitze ich da, und doch reagiere ich innerlich auf seine Erregung, sie ist mir nicht so fern, wie ich vorgebe. Da, ein Holz, das ich nach ihm werfen kann. Es trifft ihn am Oberschenkel. Sein Gesicht verzerrt sich noch mehr, jetzt koennte er es mir zeigen; denn ich bin schwaecher als er, zumal in meiner sitzenden Position und in dieser Verfassung. Aber mein Blick hindert ihn daran. Er haelt mich fuer verrueckt, fuer gemeingefaehrlich verrueckt. Ich schreie ihn an, Hau ab, und endlich, endlich macht er sich davon.

5.

Was soll er tun? Im Auto kommt er zu keiner Entscheidung. Zu Hause ist es ihr um so klarer, dass mir nur ein Profi helfen kann. Sie sitzen bei einem Glas Wein in ihren Ledersesseln und besprechen die nichtalltaegliche Situation. Sie kennt den Namen eines Psychotherapeuten. "Er soll sehr gut sein." Gleich morgen vormittag wird man ihn konsultieren.

Der Psychologe ist bereit, sich unverzueglich vor Ort einzuschalten. "Sie haben ihn nicht im Stich gelassen? Da muss auch ich sofort helfen. Was, Sie sind beide berufstaetig? Da muss ich eben allein hinfahren." Er laesst sich den Weg beschreiben, und noch einmal die genauen Symptome des Patienten. Schliesslich will er wissen, mit welchen Reaktionen er zu rechnen hat.

6.

Im Wagen zuendet er sich ruhig eine Pfeife an und fragt sich kurz, wer wohl die Rechnung begleichen wird. Er will versuchen, mich in ein unverfaengliches Gespraech zu verwickeln und mit einem Trick, der meinen Starrsinn unterlaeuft, von der Bruecke wegzulocken. Die weitere Behandlung haengt damit nur insofern zusammen, als er dabei schon etwas ueber die Art meiner Krankheit herausfinden wird. Er freut sich auf den Einsatz in der freien Natur.

Schnell hat er mich gefunden. Als er meine nackten Fuesse auf dem Wasser tanzen sieht, ahnt er jedoch, dass er sich hier die Zaehne ausbeissen koennte. Spontan aendert er seine Taktik und sagt ehrlich, was er will. Doch wie sollte ich diesen Dummkopf in Strickweste und Krawatte ernst nehmen? Er soll sich davonscheren, sage ich. Er empfinde mich als aggressiv, erwidert er, und uebergeht im uebrigen die schroffe Ablehnung, indem er mich auf meine Schwaechen anspricht, die angeblich gestoerten Sozialbeziehungen, Bindungsunfaehigkeit und anderes, was ihm mein Freund erzaehlt hat. Diesem Mann werde ich nie so vertrauen, wie man seinem Psychiater vertrauen muss.

Er ist aufgestanden und geht im Gras auf und ab. Es ist Mittagszeit, die Sonne scheint erbarmungslos auf mein Haupt, der Schatten des Baumes reicht noch nicht zu mir hin. Ja, ich bin aggressiv. Welche Freunde er denn habe? Und ob er seine Frau liebe? Aber ich hoere nicht auf seine Antwort. Millionen sind wie er, warum sollte mich sein Geschwaetz interessieren, nur weil er zufaellig Spezialist fuer menschliche Randerscheinungen ist.

Ich beschliesse, ihn mit einem Trick anzulocken und ins Wasser zu stossen. Bevor er zum naechsten mentalen Angriff uebergeht, taeusche ich vor einzulenken. Ich sage, ich wolle ihm den wahren Grund zeigen, warum ich hier sitze. Er solle nur zu mir herueberkommen.

Aber er misstraut meinem Absichten und naehert sich nur zoegernd. Moeglicherweise rechnet er damit, dass ich aufspringe und ihn angreife. Trotzdem ist er auf den Stoss nicht vorbereitet, der ihn trifft, er verliert das Gleichgewicht und faellt ruecklings hinein. Das Wasser ist tief genug, um ihn einmal unterzutauchen. Er treibt ab, kommt aber dann doch aus eigener Kraft heraus. Schnaufend und prustend stapft er zu mir zurueck. Jetzt habe ich Angst vor ihm.

Aber er bekommt sich wieder unter Kontrolle. Stoisch packt er mich am Pullover, er will mich zum Auto schleifen.

Vergeblich. Ich bin nicht der widerstandslose Naturfriedlich, fuer den er mich nach der Beschreibung meines Freundes gehalten hat. Er laesst von mir ab, vielleicht wird er morgen weitermachen, wenn er seine Kleider gewechselt hat.

7.

So kommt es, dass ich an diesem Abend in der silbernen Daemmerung auf einen erfolgreichen Tag zurueckblicken und mich ganz auf die Luftblaeschen konzentrieren kann, die aus tiefem Grund zur Oberflaeche des Wassers aufsteigen, und auf die Ameisen, die sich in meine Taschen verirrt haben, Fragen also, die sich nicht wie Schleier auf die Gedanken legen, sondern die Sinne empfaenglich fuer die Wirklichkeit machen.

Ich schlafe schlecht. Nachts wache ich mehrmals auf, weil ich friere. Ich traeume, dass man sich gerade zu einer Entscheidung ueber mein Schicksal durchringt, dass man mich mit Gewalt abtransportieren und in eine geschlossene Anstalt bringen wird.

Ein neuer Tag bricht an. Das Gras, das am Flussufer waechst, ist saftig und gruen, eine Windboee laesst die Bruecke sacht schaukeln, ich beobachte das Spiel der Wolken am Himmel und einige Enten, die sich schnatternd unter dem Baum versammelt haben. Oh wenn sie mich doch zufrieden liessen! Ein paar friedvolle Tage in dieser Abgeschiedenheit koennten alle Enttaeuschungen der letzten Jahre kompensieren.

8.

Ploetzlich sitzt einer neben mir und versucht ein Gespraech anzufangen. Er fragt, warum ich hier bin und dann, woran ich gerade denke. Ich kann ihm unmoeglich die Wahrheit erzaehlen. Also sage ich schwierig: "Ich bin mit der Welt unzufrieden. Dies ist nicht die Welt."

Da fallen seine Schultern resigniert nach vorn. Ich wende den Kopf und sehe in ein zerfurchtes Gesicht, das alt ist und voller Bartstoppeln. Durch eine schlechtsitzende Brille blicken mich zwei traenende Augen traurig an. Aber er ruehrt sich nicht, sondern bleibt sinnend sitzen und schweigt eine Zeit lang, bevor er auf den Baum zeigt, diesen haengenden Garten, aus dem an einer Stelle Harz herausquillt, worin die Sonne in tausend Farben leuchtet.

Wir wissen, dass wir nicht allein sind, hinter dem Baum lauert der Schrecken. Er soll mir erzaehlen, was ihn bedrueckt und verzweifelt macht. Doch er sagt nur, dass er auf der Suche sei und vergessen habe, wonach. Es handele sich um eine Angelegenheit von ausserordentlicher Bedeutung. Nun aber sei er dabei, die Sache aufzugeben.

Auf dem Pfad, der die Bruecke mit dem Parkplatz verbindet, naehern sich drei Gestalten in weissen Kitteln. Sie fragen, warum ich mich weigere, diesen Ort zu verlassen. Jetzt wird mein Begleiter mir beistehen. Er sagt: "Wir brauchen keine Hilfe. Wir sind dabei, zu meditieren, und moechten nicht gestoert werden. Das wird ja noch erlaubt sein." - ein Zugestaendnis an die Vernunft, eine Notluege, die den Riss, den sie davongetragen hat, wieder zusammenfuegt.

Nun wendet man sich direkt an mich. Nein, nein, wir brauchen keine Hilfe, bestaetige ich kurzangebunden. Sie stehen verlegen herum, und ueberlegen, was sie tun sollen. Und dann summe ich eine Melodie, die mir gerade eingefallen ist, die Melodie zu dem alten Text 'was uebrigbleibt vom Hakenkreuz, versenken wir im Vater Rhein'. Sie werden sie wieder misstrauisch, auch wenn sie das Lied nicht kennen.


Copyright: B. Lampe, 1982                                                zurück