IN DEINEN WEICHEN HAAREN In der Luft hing ein Stimmengewirr, schwer wie das Summen eines Bienenschwarmes, und der Boden war schwarz von den Tritten tausender Stiefel. Ein Meer gruener Roecke ergoss sich zu den wartenden Zuegen. Es war der wohl groesste Aufbruch, den der Stadtbahnhof jemals erlebt hatte. Der Mann unterschied sich aeusserlich nicht von den anderen Soldaten, die hin und her eilten, weil sie im allgemeinen Gewuehl ihre Einheit verloren hatten. Ausser vielleicht, dass seine Bewegungen mechanischer waren und weniger eifrig und seine Augen, statt lebhaft zu leuchten, Melancholie und Trauer ausstrahlten. Eben noch hatte er zwischen winkenden Armen die Farben seiner Staffel ausgemacht. Er bildete sich ein, genau gesehen zu haben, wie sich sein Fuehrungsoffizier Gleis 11 zuwandte. Nun aber waren alle bekannten Gesichter aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Er nahm jedoch an, dass die Einheit bereits in den wartenden Zug eingestiegen war und bewegte sich langsam, weiterhin Ausschau haltend, in dessen Richtung. Im Weitergehen zog er ein Faltblatt aus der Tasche. Obwohl erst gestern per Eilpost zugestellt, half es ihm wenig. Die Angaben ueber Abfahrtszeiten und Zugnummern waren hoffnungslos falsch. Man hatte den Ansturm voellig unterschaetzt und ueber Nacht alle Planungen umgeworfen. Wahrlich, der Krieg drohte schon im Anfang an schlechter Planung zu scheitern. Oder war es einfach unmoeglich, solche Massen geordnet in Bewegung zu setzen? Er war jetzt an dem abfahrbereiten Zug angelangt und ueberlegte, ob er einsteigen sollte. Er zoegerte, denn an den Fenstern sah er nur fremde abweisende Gesichter. Die Kameraden kuemmerten sich anscheinend nicht darum, wo er gestrandet war, und den Umstehenden war seine Einheit voellig unbekannt. Ploetzlich ein durchdringendes Pfeifen. Der Schaffner hob die Kelle. Vor Aufregung begann der Mann zu schwitzen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Nicht auszudenken der Aerger, wenn er die Abfahrt seiner Einheit verpasste! Ein Soldat, der den Zug eben keuchend erreichte, schob ihn beiseite und warf seinen Rucksack und sich selbst ins Innere des Wagens. Da traf der Mann eine Entscheidung. Aus dem Impuls, etwas zu verpassen, wenn er der unausgesprochenen Aufforderung einzusteigen nicht folgte, schwang auch er sich hinauf ins Dunkle des Wagens. Gleich darauf schloss sich die Tuer und der Zug ruckte an. Dem Mann lief der Schweiss die Achseln hinunter. Er stand auf dem Gang und dachte nach. Ihm blieb nichts anderes uebrig, als alle Abteile nach seinen Kameraden abzusuchen. Er setzte sich in Bewegung. Mit Glueck wuerde er sie gleich im naechsten oder uebernaechsten Wagen finden; wenn er Pech hatte, erst ganz vorn bei der Lok. Die Vorstellung, dass sie sich moeglicherweise gar nicht im Zug befanden, verdraengte er. Waehrend die Bahn mit immer hoeherer Geschwindigkeit ihrem Ziel entgegen strebte, quaelte er sich durch ueberfuellte Abteile und an ueberquellenden Gepaeckablagen vorbei. Viele Soldaten sassen oder standen in den Gaengen und machten nur zoegernd und maulend Platz. Mehr als einmal wurden ihm Schmaehungen nachgerufen. Je weiter er vorankam, desto unruhiger wurde er. Etwa in der Mitte des Zuges hinderte ihn ein Gueterwagen am weiterkommen, ein seltsamer, silberglaenzender Quader, tuer- und fensterlos, in dem eine laute Maschine zu arbeiten schien. Er war gezwungen abzuwarten, um beim naechsten Halt aus- und weiter vorn wieder einzusteigen. Doch der naechste Halt: das konnte Stunden dauern - falls der Zug nicht ueberhaupt bis zu seinem Bestimmungsort durchfuhr. Er setzte sich zu einer Gruppe von Pionieren, die sich gut zu kennen schienen, schloss die Augen und lauschte teils neidisch, teils mit der inneren Distanz und Ironie eines Fremden, wie sie ueber die bevorstehenden Aufgaben und Abenteuer palaverten. Der Zug fuhr ueber Berg und Tal, ueber Bruecken, von denen man grandiose Ausblicke ueber weite Flusslandschaften und romantische Kanaele hatte, und kam dann in eine Bergregion mit vielen Steigungen, wo sich seine Geschwindigkeit verringerte. Die Vegetation, wie auch die menschliche Besiedlung, wurden immer spaerlicher. War man vorher gelegentlich noch an Staedten oder kleinen Ortschaften vorbeigekommen, so sah man jetzt nurmehr einsame Bauernhoefe auf entfernten Anhoehen stehen. Schliesslich hielt er mit schleifenden Raedern an einer einsamen Bergstation. Weit und breit nichts ausser nackt-kalt-abweisendem Fels. Die Soldaten draengten ueber den Gang nach draussen, wo sie sich in Reih und Glied aufstellten. Wenig spaeter marschierten sie los, unter den Klaengen einer kleinen Fanfarenkapelle, und waren bald hinter den naechsten Felsen verschwunden. Er hatte sich ihnen nicht angeschlossen. Unter all den Hundertschaften war ihm kein bekanntes Gesicht aufgefallen. Er war kein schneller Denker, begann sich aber darueber klar zu werden, dass er in Schwierigkeiten steckte. Die neue Zeit mit ihren rasch wechselnden Tendenzen ueberforderte ihn. Er war noch zu keinem endgueltigen und rational begruendeten Urteil ueber sie gelangt, doch hatte ihn von allem Anfang seine Intuition mit Skepsis, ja Ekel, gegen die entfesselte neudeutsche Betriebsamkeit erfuellt. Er war allein. Beklommen, ja furchtsam, blickte er auf die grauen sonnenbeschienenen Berge. Sicher hatte man sein Fehlen inzwischen festgestellt. Seine Vorgesetzten waren gewiss aergerlich und wuerden auf Bestrafung draengen. Ob er mit einer geringen Strafe davonkam? Oder in eine andere Einheit versetzt wurde, in ein Bataillon mit geringen Ueberlebenschancen? Oder sogar der Desertion angeklagt und vor Gericht gestellt? So gingen seine Gedanken panisch hin und her. Er stieg aus und begab sich an die Spitze des Zuges. Durch die getoente Scheibe sah er oben im Fuehrerhaus der Lokomotive den verschwommenen Kopf des Lokfuehrers. Er war also nicht ganz allein. Welche Befehle mochte der Lokfuehrer haben? Gab es eine Funkverbindung zur Zentralstation? Wenn ja, so fragte er sich, wuerde es ihm helfen, sich per Funk bei der Stabsstelle bemerkbar zu machen? Aber wahrscheinlich hatte man dort andere Sorgen, als sich versprengter Soldaten anzunehmen. Wenn sich der Lokfuehrer ueberhaupt ansprechen liess ... Unentschlossen ging er auf und ab. Sein Herz klopfte unruhig und seine Aengste wuchsen mit jedem Atemzug, den er in der frischen Luft tat - wie ein Krebsgeschwuer, das sich nicht unter Kontrolle bringen laesst. Das abweisend Kalte der Bergwelt, das Wanderer und Ausfluegler kaum gestoert oder hoechstens angeregt haette, erschien ihm ueberaus bedrohlich. Er mochte hier nicht mehr herumstehen und setzte sich in eines der leeren Abteile. Dort drueckte er seine Nase gegen die Scheibe und wartete. Er musste nicht lange warten. Bald fuhr der Zug in die Richtung zurueck, aus der er gekommen war. Offenbar steuerte der Lokfuehrer blind im Rueckwaertsgang. Spaeter, nachdem er eine Weiche passiert hatte, bewegte er sich wieder voran. Was den Mann weiter verunsicherte, da er auf diese Weise voraussichtlich nicht zum Hauptbahnhof zurueckkommen wuerde. Er haette fragen wollen, wohin die Reise ging; es gab aber in den Waggons anscheinend keine Verstaendigungsmoeglichkeit mit der Fuehrerkabine. Endlich fuhren sie mit langsamer Geschwindigkeit in einen belebten Kleinstadtbahnhof. Auf den Plattformen lungerten Dutzende Soldaten herum. Einige Gesichter kamen dem Mann bekannt vor, und er sprang von seinem Sitz hoch, und als der Zug stoppte, stieg er kurzentschlossen aus und ging auf sie zu. Sie standen an einem Schlagbaum, einige einzeln, andere unterhielten sich angeregt. Leider nicht seine Kompanie, sondern nur Arbeitskollegen, die man allesamt in ein anderes Battaillon gesteckt hatte. Warum nicht auch ihn? Dann waere er jetzt am Ziel und wuerde nicht in solchen Schwierigkeiten stecken. Ueberrascht, doch freundlich laechelnd, wandten sie ihm ihre Gesichter zu. Da war der dicke Schenk, die Betriebsnudel, der stets aufgeregten Kontakt mit den Chefs pflegte, bei Befoerderungen aber regelmaessig uebergangen wurde. Da waren Meier und Haake, der juengere, die ihm froehlich mit Bierflaschen zuwinkten; der ruhige Riesmueller - von manchen als der kommende Mann gehandelt (aber sie mochten sich taeuschen) - und noch mehrere Andere, blassere Temperamente, die einst, in der Zukunft, nur den Hintergrund fuer seine Erinnerungen abgeben wuerden. Sie alle scharten sich um ihn und schwatzten und lachten mit zufriedenen Gesichtern. Sie hatten schliesslich ihr Ziel erreicht. Sie wussten, wohin sie gehoerten. Sie warteten auf den Anschlusszug, der sie an ihren endgueltigen Bestimmungsort bringen wuerde. Wie gluecklich sie waren. Sie freuten sich auf die Zukunft. Keinen plagten Sorgen oder Zweifel, keinem war so schwer ums Herz wie ihm. Nur zoegernd beantwortete er ihre Fragen. Interesse glomm in ihren Augen und etwas wie das Mitgefuehl oder die Schadenfreude derer, die von einem sicheren Hafen aus ein Schiff beobachten, das auf hoher See gekentert ist. Schenk gab ihm den Rat, er solle sich an die oertliche Verwaltung wenden. Dort habe man sicher Verbindung zu den Dienststellen des Heeres. Ja, die unschuldigen Kommunalverwaltungen, dachte der Mann. Sie spielten beim Ausheben der Wehrpflichtigen eine wichtige Rolle. Dann machte er sich auf den Weg in die Stadt. Doch fand er das Rathaus nicht, nur kilometerweit Bungalows mit auffallend gepflegten Vorgaerten, die sich entlang der Strasse aufreihten wie Perlen an einer Schnur. Alle renoviert und frisch gestrichen, und das Gras war bis an den Strassenrand ebenso kurz und praezise geschnitten wie die dahinter liegenden Hecken. Merkwuerdig, wie sich die Haeuser glichen in ihrer famosen Sauberkeit, und zugleich unterschieden im aufwendig hervorgearbeiteten Detail. Einen derart geschniegelten kleinbuegerlichen Wohlstand bekam man in der Grossstadt normalerweise nicht zu sehen. Fast uebergangslos kam er an ein ausgedehntes Gelaende. Militaerisches Sperrgebiet, das von hohen Mauern und Stacheldraht umzaeunt war und sich in der Kleinstadt-Idylle sonderbar unpassend ausnahm. Ein Fliegerhorst! Er reckte den Hals, nahm Landeflaechen, Hangars und Flugzeuge wahr. In der Siedlung wohnten wahrscheinlich die Familien des Bodenpersonals und der Besatzungen. Ploetzlich ein ohrenbetaeubender Laerm. Eine Bomberstaffel kam angeflogen und donnerte in V-Formation ueber ihn hinweg. Dann drehten sie Kreise und setzten zur Landung an. Nie wieder, dachte er, wuerden die Menschen hier soviel Zeit haben, ihre Gaerten in Ruhe zu pflegen. Bei dem Krach bemerkte er den PKW nicht, der sich von hinten naeherte. Mehrere Militaerpolizisten stiegen aus. Sie trugen dunkle Uniformen. Sie entsicherten ihre Pistolen und umstellten den Mann. Einer verlangte seinen Ausweis zu sehen. Waehrend er danach kramte, schlich ein anderer von hinten heran und presste ihm ein feuchtes, uebelriechendes Tuch ins Gesicht. Dabei verlor er zwar nicht seine Sinne, aber die Willenskraft, und stieg bedenkenlos in den Wagen. Als er so zwischen ihnen sass und leicht benommen in dem Gefaehrt dahinschaukelte, war er zufrieden und fuehlte sich beinahe gluecklich. Endlich hatte man ihn gefunden! Die Maenner wuerden schon wissen, wohin sie ihn bringen mussten. Er liess sich von der Aggressivitaet, die in den entsicherten Waffen, in ihrer Mimik und ihrem Gehabe sich ausdrueckte, nicht irritieren, und es verminderte seine Zuversicht durchaus nicht, dass kein Wort gesprochen wurde, waehrend sie durch die Dunkelheit einem unbekannten Ziel entgegenstrebten. "Es gibt", schoss ihm durch den Kopf, "bei den Menschen verschiedene, mehr, oder auch weniger, eng miteinander verwandte, genetische Stroemungen, ueber denen sich die Gesellschaften und Kulturen, aber auch die Kriege, entwickeln", und neugierig fragte er sich, zu welcher Stroemung diese dunklen Gestalten wohl gehoeren mochten. Als er erwachte, lag er auf den Stufen des Voelkerkundemuseums und fror. Morgendliche Strahlen einer Fruehlingssonne leckten an seinen Augen, waren jedoch zu schwach, um seinen Koerper zu waermen. Eben noch hatte er sich im Auto summend in den Schlaf gewiegt, jetzt richtete er sich halb auf, wobei ihm weiss vor Augen wurde. Muss wohl am Betaeubungsmittel liegen, dachte er. Sein Herz raste. Er befand sich am Fusse der mindestens 50-stufigen Treppe, die zum Hauptportal des Museums fuehrte, wusste aber nicht, wie er dorthin gelangt war. Sein Blick fiel auf den Seitenfluegel des Gebaeudes, wohin die Treppe sich fortsetzte, dort aber nur als Attrappe, die nirgendwo hinfuehrte, nur zu dem Zaun, der das Museumsgelaende vom Englischen Garten trennte. Er hatte jedes Zeitgefuehl verloren. Es musste Sonntag oder Montag morgen sein. Den Verkehrsgeraeuschen nach eher Montag. In seiner Erinnerung klaffte eine Luecke, seitdem er vorgestern abend eingeschlafen war. Wenn er jetzt aufstand, wuerde ihm schwindelig werden. Also blieb er still sitzen und lauschte dem Zwitschern der Voegel und dem fernen Verkehrsrauschen. Da hoerte er Schritte. Er wandte sich um. Frau S. kam auf ihn zu. Sie war morgens immer als erste im Buero und hatte von ihrem Fenster beobachtet, wie man ihn auf der Treppe aussetzte. Zuerst hatte sie ihn gar nicht erkannt und ueberlegt, die Polizei anzurufen. Erst als er sich aufrichtete, identifizierte sie ihn als den stillen Kollegen G. aus der palaeo-anthropologischen Abteilung. Sie hatte dann ueberlegt, ob sie ueberhaupt zu ihm hinausgehen sollte. Vielleicht war er betrunken und schaemte sich, wenn er ihr in diesem Zustand begegnete. Doch dann hatte ihr Mitleid ueberwogen. Man musste ihm Hilfe anbieten, da er sich offenbar kaum ruehren konnte. Ausserdem wuerden gleich andere Angestellte kommen. Jeder wuerde ihn bemerken, und er wuerde, wenn man ihn nicht schleunigst dort wegschaffte, zum Gespraechsthema des Tages werden. Waehrend sie ihn ansprach, beugte sie sich leicht nach vorn, und Rock und Bluse flatterten ihm im Wind entgegen, gleichsam als werde damit auch ihr ganzes Selbst zu ihm hingezogen. Sie laechelte und streckte die Haende nach ihm aus. "Gehoert sie etwa nicht zu meinen Feinden?" dachte er beilaeufig, waehrend sein Stammhirn sich darauf konzentrierte, die erforderlichen Bewegungen zu koordinieren, um seinen Koerper mit ihrer Hilfe hochzustemmen. Dann packte sie ihn energisch bei den Armen und lud seine rechte Achsel auf ihre linke Schulter. Er war ueberrascht von der Staerke, die er ihr als Sekretaerin gar nicht zugetraut haette. Zugleich war ihm der ganze Vorgang hochpeinlich. Er wollte ihr gegenueber nicht den voellig hilflosen Eindruck machen, den zu machen er gezwungen war, wusste aber, ohne ihre Hilfe wuerde er auf die Steine zuruecksinken, seine Muskeln versagten schier den Dienst, und ausserdem genoss er ihre Naehe. Als sie den Eingang erreichten, bemerkte er ein riesiges weisses Plakat ueber dem Erker des Museumsportals. "VETTERN DES MENSCHEN - neue Funde aus Gabun" stand dort in grossen schwarzen Lettern. Ach ja, die Sonderausstellung. Endlich waren sie drinnen, und er nahm den Duft ihres etwas aufdringlichen Parfums wahr, waehrend sie ihn zuerst durch die Halle und anschliessend durch verwinkelte Flure zu seinem Buero fuehrte. Die ganze Zeit wagte er nicht, sie anzuschauen, aus verschiedenen, ausnahmslos dummen kleinen Gruenden. Sie aber redete unaufhoerlich und liess gar keine Verlegenheit aufkommen. Ob er einem Unfall oder gar einem Ueberfall zum Opfer gefallen sei, fragte sie schliesslich, und ob er verletzt sei. Nein, nein, sagte er, nicht verletzt, und ja, man habe ihn ueberfallen und betaeubt und anschliessend sei ihm schlecht geworden. Er hoffe, sich bald zu erholen. Wenn sie ihn nur noch in sein Buero begleite, dort werde er schon wieder zu Bewusstsein kommen. Einmal musste er stehenbleiben, und sie sahen sich neugierig an, und er musste wegschauen, weil ihn die Intimitaet ihrer Augen so irritierte. Von der Iris, die in einen schneeweissen Augapfel eingebettet war, ging eine seltsame Tiefe, oder Tiefgruendigkeit, aus, von der er sich sowohl angezogen wie durchschaut fuehlte. Er war ihr noch nie so nahe gekommen; die wenigen Male, die sie Kontakt gehabt hatten, war es um foermliche, rein geschaeftliche Angelegenheiten gegangen. - Sie aber schwieg jetzt. Ihr war ein Gespraech in den Sinn gekommen, das sie kuerzlich belauscht hatte ... - Eines Morgens hatte sie allein im Vorzimmer gesessen. Die Kollegin, mit der sie das Buero teilte, war samt Ehemann und Jahresurlaub in die Suedsee geflogen. Draussen war es kalt und truebe. Dunkle Niederschlagswolken trieben ueber der Stadt und wuerden die graue Trostlosigkeit wohl bald in eine weisse Schneelandschaft verwandeln. Seit Wochen herrschte eine durchwachsene, gespannte und zuweilen bedrueckte Stimmung in der Chefetage. Eigentlich unverstaendlich, fand Frau S. In den letzten Monaten waren praktisch alle Ressourcen an Personal und Geldmitteln auf die spektakulaeren neuen Funde konzentriert worden. Man war mit der Katalogisierung und Auswertung schon ziemlich weit fortgeschritten und wollte die Oeffentlichkeit mit der bevorstehenden Ausstellung moeglichst tief beeindrucken. Sie kam gerade von der Toilette, wo sie, wie jeden Morgen nach der Fruehstueckspause, ihr Makeup kontrolliert hatte. Als ziemlich aufgedonnerte Direktionssekretaerin legte sie Wert auf ein gepflegtes Aeusseres und fuehlte sich unwohl, wenn sie das Gefuehl hatte, irgendein aeusserer Makel liesse sich an ihr entdecken. Der neue Direktor Riesmueller hatte zwar kurz nach seinem Amtsantritt versucht, die Einrichtung der Fruehstueckspause abzuschaffen, aber beim Personalrat auf Granit gebissen. Wenn sie jahrelang praktiziert worden ist, gilt eine solche Gewohnheit, wiewohl im Tarifvertrag nicht vorgesehen, im oeffentlichen Dienst als Anrecht. Schliesslich hatte er nachgegeben. Er war zwar auf Effizienz und Leistung erpicht, aber nicht der Mann, sich mit Leuten anzulegen, auf die er noch angewiesen sein koennte. Frau S. kam also ins Vorzimmer zurueck, als sie ploetzlich Stimmen aus Riesmuellers Buero hoerte. Anscheinend war die Tuer nur angelehnt. Sie verhielt sich mucksmaeuschenstill und erkannte bald neben Riesmuellers Stimme die des zweiten Museumsleiters, Zerwas. "Wenn alle kommen, die wir eingeladen haben, koennte es eng werden ... wir haetten doch ein groesseres mieten sollen ... Essen und Trinken wie letztes Mal ... mit der Firma sehr zufrieden." Sie sprachen ueber die Organisation des Empfanges fuer den Freundesverein e.V., der jedes Jahr um diese Zeit in einem beheizten Festzelt im Hintergarten stattfand. Dort versammelte sich die Muenchner Kulturschickeria und feierte sich fuer die Spenden, die sie fuer das Museum (und das Abhalten der Party) locker gemacht hatte. Genaugenommen war der Hintergarten mehr als ein Garten. Er war eine praechtige Parkanlage mit englischem Ambiente auch in der kalten Jahreszeit. Alte Buchen mit breiten Kronen verteilten sich malerisch auf dem Gelaende. Ein Seitenarm der Isar floss durch die Landschaft, und Weiden badeten ihre Blaetter darin. Frau S. hatte bei der Durchfuehrung der Party schon mehrmals mitgeholfen. An solchen Tagen machte sie sich besonders schick, denn auch die Gaeste erschienen bereits in Dinneranzuegen und Abendkleidern, wahrscheinlich, um sich fuer ihre Auftritte im Muenchner Nachtleben nicht noch einmal umziehen zu muessen. "... sollten den Personalrat an die Urlaubssperre erinnern ... weiss an sich jeder ... noch mal nachfassen." Fuer den Empfang wurde jedesmal die halbe Belegschaft aufgescheucht, samt studentischer Hilfskraefte, damit sich normale Museumsbesucher auf keinen Fall unter die VIP's mischten. Diesmal wurde sogar ein amerikanischer Kroesus erwartet, Foerderer der schoenen Kuenste, der sich zufaellig in Muenchen aufhielt, mit einigen Zeichnungen da Vincis im Gepaeck, die in der Pinakothek gezeigt wurden. Riesmueller war dort mit ihm in Kontakt gekommen und hatte ihm von den neuen Funden erzaehlt. Der Milliardaer war so angetan, dass er spontan dem Freundesverein beitrat und versprach, sich an den Kosten fuer die Auswertung der Funde zu beteiligen - das alles wusste Frau S. aus Telefongespraechen, die sie frueher mit angehoert hat. "Toll, dass er kommt ... auch der Ministerpraesident ... Duerfen uns keinen Schnitzer erlauben ... letztes Jahr nur der Staatssekretaer ... ueber die Regierung nicht beklagen ... tut, was er kann, bin staendig in Kontakt mit ihm ... Wir sind von allen Museen am wenigsten von den Sparmassnahmen betroffen; und mit den neuen Funden hoffe ich, dass unser Etat noch aufgestockt wird." Frau S. konnte sich lebhaft vorstellen, wie Riesmueller sich bei diesen Worten die Haende rieb. "Was machen wir nur mit G.?" hoerte sie Zerwas fragen. "Habe ich mich auch schon gefragt", antwortete Riesmueller, jedoch ohne ihm das Resultat seiner Ueberlegungen mitzuteilen. "Ich habe mir folgendes ueberlegt", sagte Zerwas. "Wir haben uns ja schon darauf geeinigt, die Entdeckung als Erfolg des gesamten Museums und seiner Mitarbeiter darzustellen. G. war nur zufaellig zu dem Zeitpunkt in Fezce anwesend, als das Areal, auf dem die Hoehle liegt, zur Inspektion anstand. Jemand anders an seiner Stelle waere genauso darauf gestossen. Ich wuerde sogar so weit gehen, zu sagen, dass der Fund in Wahrheit dein Verdienst ist. Schliesslich haettest du die Station genauso gut dichtmachen koennen. Und dass die Wahl auf G. fiel, so what? Haetten wir ihn nicht dorthin geschickt, wuerde er noch immer in seinem Keller sitzen und Scherben sortieren." "Du meinst also, wir sollen seine Rolle herunterspielen?" "Was heisst herunterspielen? Niemand zwingt uns, im Ausstellungskatalog zu erwaehnen, wer dort die Stellung gehalten hat. Wir listen ihn einfach zusammen mit der Expedition auf, die, unter Haakes Leitung, die letzten Proben genommen hat. Die oberste Fuehrungsinstanz bist ohnedies du gewesen; du hast die Sache koordiniert und in Schwung gehalten, hast alle Ressourcen mobilisiert und sogar noch die Berliner mit einbezogen. Also gebuehrt auch dir die Ehre." "Wenn du es so siehst. Ich habe natuerlich nichts dagegen. - Sind die Vitrinen uebrigens fertig?" "Du meinst, fuer den Empfang?" "Ja." "Ja, sicher. Die Leute werden staunen und einen tollen ersten Eindruck bekommen." "Nicht wahr. Es sind wirklich die aeltesten und am besten erhaltenen Funde, die ich kenne. Man muss allerdings doch damit rechnen, dass G. versuchen koennte, Schwierigkeiten zu machen." "Halte ich fuer unwahrscheinlich." "Und wenn doch?" "Wir wuerden ihm schon beikommen. Notfalls mit einer Abmahnung, falls er seinen Arbeitgeber in schlechtes Licht ruecken will. Ausserdem wissen wir beide, wie mangelhaft er gearbeitet hat, bevor er nach Afrika geschickt wurde; im ganzen Museum ist darueber geredet worden. Einem solchen Wissenschaftler nimmt niemand die Behauptung ab, die Funde seien hauptsaechlich sein Verdienst. Also, mache dir keine Sorgen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass uns, wie vorletztes Jahr, ein Betrunkener die Vitrinen umstoesst." Frau S. hatte genug gehoert. Sie bekam ploetzlich das dringende Gefuehl, noch einmal aufs Klo zu muessen und schlich sich zur Tuer hinaus. - Als sie G.'s Buero erreichten, kehrten ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurueck, und sie fragte ihn (nachdem er erleichtert auf seinen Drehstuhl gesunken war), ob sie ein Glas Wasser und vielleicht doch den Betriebsarzt holen solle. Der Arzt sei nicht noetig, versicherte er, aber ein Glas Wasser koenne er gut gebrauchen. Er trank in kurzen hastigen Zuegen und spuerte, wie sein Geist langsam wieder lebendig wurde. Vorsichtshalber, sagte Frau S., wolle sie noch einen Moment bei ihm bleiben. So verharrten sie schweigend und reglos, und ploetzlich erinnerte er sich, wie das vergangene Wochenende begonnen hatte. - Ihn fror, denn die Heizung war ausgesprungen. Obwohl der lange und harte Winter seinem Ende sich zuneigte, zog der Frost wieder an. Die Kaelte war nervenaufreibend. Sie erschoepfte gleichermassen Koerper und Geist und behinderte alle schoenen und positiven Empfindungen. In den Strassen eilten die Menschen dick vermummt und mit leeren Augen ueber die Gehsteige und in den Parks fuehrten die Pflanzen, besonders die aus suedlichen Zonen importierten, einen verzweifelten Kampf gegen den Kaeltetod. Da sollte es wenigstens zuhause schoen warm sein, wenn man von der Arbeit heimkam. Stattdessen musste er mit Eisfingern an der Heizungsanlage herumfummeln und verletzte sich zweimal, bis die Flamme endlich ansprang. Dabei war seine Leidensfaehigkeit fuer heute bereits erschoepft. Er hatte erfahren, dass er aus dem Gabun-Projekt in sein altes, stumpfsinniges Aufgabenbebiet zurueckversetzt worden war, exiliert, koennte man sagen, und damit hatte er alles verloren, was ihm in den letzten Monaten Spass und Spannung an der Arbeit zurueckgebracht hatte. Die treibende Kraft dahinter, das hatte er nebenbei herausgefunden, war nicht Riesmueller allein, der hielt sich vornehm zurueck, sondern Zerwas, der ruhige, sympathische und immerzu freundliche, liebenswuerdige Zerwas, mit dem G. nie Schwierigkeiten oder gar Streit gehabt hatte, und dessen Inneres ihm infolgedessen ein einziges Raetsel war. Zerwas hatte es ueberhaupt nicht noetig, sich zu Riesmuellers Werkzeug zu machen. Oder schuldete er ihm einen Gefallen? Im Moment wollte er nicht darueber nachdenken, von der realen Welt draussen gar nichts mehr wissen - ausser in der weich gezeichneten Form, die ihn durch sein TV-Geraet erreichte. Er haette nie zugegeben, dass er gern fernsah, doch war es feierabends fuer ihn das massgebliche Kommunikationsmittel, um mit der Welt zu verkehren - das heisst, sich vor ihr versteckt zu halten. Fernsehen kam seiner angeborenen Zurueckhaltung und Verschlossenheit sehr entgegen. Er liebte vor allem die Filme im Spaetprogramm, und es stoerte ihn nicht, dass die Auswahl von fernen unberechenbaren Programmdirektoren getroffen wurde - bei den vielen neuen Sendern war meist irgendetwas dabei, was seine Stimmung oder seinen Geschmack traf. Er liebte auch die politischen Diskussionen und Analysen, die Themen oeffentlichen oder halboeffentlichen Interesses vor den Zuschauern ausbreiteten und dabei ein truegerisches Gefuehl von Zugehoerigkeit und Geborgenheit im Schoss der Nation vermittelten. Er lebte allein und der laufende Fernsehapparat brachte, auf eigene Weise, Leben in die Wohnung, so aehnlich, wie wenn er ein Tier gehalten haette. Er machte den Apparat an und schaltete gedankenlos von Kanal zu Kanal, bis er bei einer Talkshow haengenblieb, in der eine duerre blonde Moderatorin mehrere Prominente nach ihren modischen Vorlieben befragte. G. blickte an sich herunter auf den verschossenen braunen Bademantel, den er gegen die Kaelte trug und konstatierte, dass er hoeheren Anspruechen nicht gerecht wurde. Er stellte sich einen abgewaehlten, gescheiterten Politiker vor, der jetzt vielleicht auch vor dem Fernseher sass und mit ansah, wie seine erfolgreicheren Kollegen den Spagat zwischen Eitelkeit und Beflissenheit uebten. Als er sich gerade in die Sendung hineingehoert hatte, begann der Werbeblock. Manchmal half ihm die Werbung, sich nach der Arbeit zu entspannen. Heute fand er die lauten bunten Botschaften unertraeglich. In schnell wechselnden Bildern, die wie Blitze ueber die Mattscheibe schossen, wurde zuerst der neueste Megamovie in die weltumspannende Umlaufbahn der Kinopalaeste geschickt. Aus den abgehackten Sequenzen liess sich nichts ueber den Inhalt des Films entnehmen - dies Wissen wurde beim multimedial vollversorgten Betrachter bereits vorausgesetzt. G. loeffelte schweigend einen Fruchtjoghurt. Er hatte seine Kinobesuche schon lange eingestellt. Warum im Kino Popcorn knabbern, wenn es zu Hause eine viel groessere Snackauswahl gab? Danach wurde mit fetziger Musik und stimmungsvollen Bildern fuer eine Automarke geworben, zwei bekannte Schauspieler aus dem Fernsehen machten mit dummen Spruechen fuer die Telekom Reklame, ein Rennwagen raste fuer einen Schokoriegel durch die Wueste von Nevada, und schliesslich flimmerten die Clowns aus der Gummibaerchen-Werbung ueber die Mattscheibe. Er fischte nach der Tageszeitung und blaetterte gelangweilt darin herum. Da fiel ihm ein Faltblatt entgegen, auf der Vorderseite Sektflaschen, elegant geschwungen, aus dunklem, blauem oder rotem Glas, zu angeblich niedrigen Preisen ... er drehte das Blatt um, da sprang ihm eine roetliche Masse ins Auge, ein rohes Pfund Schweinefleisch, und G., der kein tierisches Eiwiss vertrug, wurde speiuebel. Schnell aus den Augen damit, weg ins Altpapier, und sich ablenken mit Fernsehbildern. Der Werbeblock war noch nicht zu Ende. Eben wurde ein neues Buch vorgestellt, Bestseller in spe. Schnitt. Campari hatte seine Werbestrategie geaendert - immer nur Suedseebilder, mit swingenden Models, aufgenommen von besoffenen Kameramaennern, wie langweilig! - und einen Wettbewerb ausgelobt. Dem Gewinner winkte die Teilnahme beim ersten bemannten kommerziellen Mondflug. Fuer Campari zum Mond, das war die wahre Lebensperspektive, viel kitzeliger als mit Camel zum Nordpol. Er hatte genug von der Werbung und schaltete auf einen Sender, auf dem grausame Tierquaelereien gezeigt wurden. Unglaublich, wozu Menschen faehig waren, wenn es ihrem Vorteil oder auch nur ihrer Bequemlichkeit diente. Er mochte sich den Film gar nicht ansehen, doch irgendeine perverse Faszination hielt ihn bei dem Kanal, bis zum naechsten Werbeblock. Attraktion um jeden Preis, das war, was die Sender bezweckten. Spaeter stellte sich ein Tierschuetzer vor die Kamera und liess sich lang und breit darueber aus, welche Scheusslichkeiten ihm auf seinen Reisen begegnet waren. Er beschwerte sich ueber die Europaeische Union und ihren traegen Apparat, der den Tierschutz staendig behindere. Seine Organisation werde alles in ihrer Macht stehende tun, und so weiter und so weiter. Der Mann genoss es sichtlich, vor der Kamera zu stehen. "Schaut her, hier bin ich", sagten seine Augen, "tausende hoeren mir zu". Die meisten Zuschauer haben eine Schwaeche fuer solche Galionsfiguren, die in regelmaessigen Abstaenden auf dem Bildschirm auftauchen, um ihre Statements abzusondern, und waeren aeusserst irritiert, Negatives ueber sie zu hoeren. Mit den Diskutanten aus der Talkshow, eben aus dem Werbehimmel zurueckgeholt, verhielt es sich nicht anders. Auch sie hatten nur das Beste im Sinn. Nebenbei oelten sie ihr Ego und brachten auch noch ihr Scherflein ins Trockene. Doch sie waren im Nachteil, im Gegensatz zum Tierschuetzer mussten sie die Sendezeit unter sich aufteilen. G. mochte nicht mehr fernsehen. Seine Gedanken kehrten ins Buero zurueck, umkreisten Zerwas und Riesmueller. Besonders Zerwas, von dem er schwer enttaeuscht war. Aergerlich drueckte er auf den Ausknopf der Fernbedienung. "Zischplopp", sagte das Fernsehbild, ohne dass die Damen und Herren sich noch haetten verabschieden oder uebers gefoente Haar fahren koennen. Heute nicht mehr. Er schlenderte zum Kuehlschrank und machte sich sein Abendbrot. In der Wohnung war es warm geworden. Noch kauend setzte er sich an seinen Schreibtisch, streckte die Beine und breitete die Tageszeitung ueber einem Gebirge von Buechern und Rechnungen aus. Zuerst las er, wie gewoehnlich, das Feuilleton. Auch dort waren die Noete der Menschen das liebste Thema. Handke Unsaeglich hatte sich mit einem Essay gegen den NATO Einmarsch in Bosnien mal wieder in die Schlagzeilen gebracht, und kam nun von allen Seiten unter Beschuss. Andere bevorzugten leisere Toene. Sie schwadronierten ueber den Holocaust oder ueber das Ende der Geschichte. Eine Erwaehnung in den Massenmedien ist fuer jeden Kulturschaffenden Gold wert, noch mehr als fuer Sportler, die sich nur eben praesentieren, ohne bedeutsame Erklaerungen abgeben zu muessen, und ansonsten an ihren Siegen gemessen werden. Auf der bunten Seite war Dieter Bohlen von einem Hund fast totgebissen worden. Auch der wusste, wie man beruehmt bleibt. Da lobte er sich Riesmueller und alle normalen Karrierestreber in der Wirtschaft, die ihr Fortkommen nicht, indem sie auf Leichenbergen tanzten, sondern nur auf dem Ruecken weniger gerissener Kollegen betrieben. Gewiss, es war betrueblich, sein Arbeitsleben unter den Sohlen von Karrierestrebern und Opportunisten zu vertun, aber er wuerde sich schon einrichten, es gab genug Interessantes in seinem Beruf, was sie ihm nicht vergaellen konnten. Spaeter bekam er Besuch. Peter, alter Kumpel aus Schuelertagen, stand vor der Tuer. Er hatte Pizza und Rotwein dabei, Mitbringsel, weil er bei G. uebernachten wollte. Morgen war Wochenende, und G. hatte sich ueberreden lassen, einen Skikurs mitzumachen, der morgen zum vierten Mal stattfinden wuerde. Das war auch der Grund, warum der Freund hier angerueckt kam. Von G.'s Wohnung liess der fruehmorgendliche Treffpunkt leichter erreichen. Sie sassen in der Kueche und sprachen beim Essen reichlich dem Wein zu. G. hatte noch zwei Flaschen aus dem Keller geholt, fuer ihn war es das zweite Abendbrot. Der Alkohol machte Peter gespraechig. Er redete vom Erdbeben in Griechenland, von der Krise der Philosophie und vom blamierten Bundeskanzler. G. schwieg. Er hasste das Skilaufen, je oefter desto mehr, und ueberlegte, wie er sich davor druecken koennte. Die ganzen Anstrengungen, das zeitige Aufstehen, die Kaelte, das beschwerliche Schleppen der Skier ueber den Parkplatz zum Lift - als ungelenker Anfaenger musste man immerzu achtgeben, mit den Stiefeln nicht auszurutschen - alldies brachte ihm wirklich keinen Spass. Der morgige Tag war jetzt schon gelaufen. Im Bus wuerde er sich einen Fensterplatz suchen und seine Nase gegen die Scheibe druecken, um das erhitzte Gesicht zu kuehlen, nachdem er hinter dem Freund hergehastet war, um den Treffpunkt rechtzeitig zu erreichen. Er wuerde seinen warmen Skianzug am liebsten ausziehen wollen, aber den Anblick seiner Unterwaesche niemand zumuten moegen. So wuerde er schwitzen in dem ueberheizten Gefaehrt, bis es kaum noch auszuhalten sein wuerde, zwischen ihm und der Kleidung wuerde sich eine klebrige Schicht aus Fett und Schweiss bilden, die ihn den ganzen Tag stoeren wuerde. Er wuerde schwer atmen, sein Blutdruck wuerde steigen, was wiederum das Schwitzen befoerdern wuerde. Er wuerde sich aergern und denken, wozu das Alles, Skifahren und das ganze Drumherum ist etwas fuer junge Leute, mit Ende 30 sollte man damit nicht mehr anfangen. Und der Himmel wuerde verhangen sein und voll von Feuchtigkeit. Alle wuerden hoffen, dass in den Bergen die Sonne scheine, und ihre Hoffnung wuerde erfuellt werden, die winterlich anorganische Natur in voller Schoenheit sich auftun. Die Gipfel wuerden hoch und erhaben sein, die Luft rein und klar und der Schnee eine Unendlichkeit glitzernden Eisstaubes. Unten bei den Liften aber wuerden Scharen, ja Massen von Menschen warten, in buntglaenzenden Anzuegen herausgeputzt wie Pfauen und Koenigsfasane. Dunkle Brillen und Cremes wuerden die Gesichter verbergen. Die sich kannten, wuerden in Gruppen zusammenstehen und schwatzen, die uebrigen stumm, und gelegentlich einen schnellen Blick nach links oder rechts auf eine der Pistenschoenheiten werfen. Ohne eine andere Kraftanstrengung als die, der es bedarf auf den Beinen zu bleiben und die Richtung einzuhalten, wuerden die Meisten vorangleiten; und nicht nur das Skifahren selbst, auch die surrenden, schnurrenden Maschinen, die sie in die Luefte trugen, wuerden die Illusion vermitteln, der Mensch koenne sich ueber die Prinzipien der Schwerkraft hinwegsetzen. Wenn sie stehenblieben, die Seilbahnen, schwebend, hoch ueber dem Fels, und leicht schaukelten im Wind, wuerde man den Atem anhalten und auch diesen Kitzel geniessen. Die Sonne wuerde strahlen und lachen, und vom naechsten Lift Kinderkreischen herueberschallen und das bisschen Furcht verdraengen. G. war anders. Er wuerde all dies nicht geniessen. Zu sehr wuerde er damit beschaeftigt sein, ueberhaupt auf den Beinen zu bleiben. Der einzige Lichtblick die Skilehrerin, die sich seiner annehmen wuerde, sobald er sich besonders dumm anstellte, wenn er, zum Beispiel, scheinbar ohne aeusseren Anlass hinfiel und sich wie ein hilfloser Kaefer auf dem Ruecken waelzte. Er wuerde die Bindung loesen wollen, doch wuerde sie zu fest eingestellt sein fuer ihn, der bereits erschoepft waere von der Anstrengung, sich ueberhaupt auf den Brettern zu halten. Die Lehrerin, ohnedies fast staendig in seiner Naehe, wuerde sich ueber ihn beugen und ihm geduldig erklaeren, was er falsch gemacht hatte, und von da an wuerde sie immer mit ihm zusammen im Lift hochfahren, exklusiv sozusagen, und unter Peters neidischen Augen. Dort wuerde sie ihn von Zeit zu Zeit anblicken, waehrend er noch verschnaufte, so dass ihn schwindeln wuerde. Spaeter wuerden die koerperliche Erschoepfung und das Hochdruckwetter des eisklaren Tages seine Aggressionen foerdern. Waehrend die passionierten Skifahrer schnell und effektiv an ihm vorbei zum Lift draengelten, diese stupide Schar, und sich angeregt unterhielten, wuerde er schnaufend herumstehen, nach Luft ringen und begreifen, dass kein Ankommen gegen die schiere Masse der Menschen war. Mittags wuerde man sich in der riesigen Huette treffen, Hunderte, Tausende wuerden von den Haengen kommen, Familien ebenso wie Alleinstehende und Jugendliche aller Schattierungen, smarte Blondschoepfe, Punks, leicht heruntergekommen, Sportive auf ihren Spezialbrettern, alle vereint in jenem Hui-Gefuehl des Sich-fallenlassens, aber Gerade-noch-unter-Kontrolle-habens, und er wuerde dabeisitzen, ohne im mindesten dazu zu gehoeren. Die Welt war wie ein grosser Magen, der alles verdaute, das Denken, das Leben, unsere Werke und Irrtuemer, vor allem aber unsere Hoffnung. Er wuerde die Augen schliessen und neuerlich an die Skilehrerin denken, die sich am Nebentisch gut unterhielt. Er streckte die Arme nach ihr aus und oeffnete die Augen. In seinem Herzen war etwas Schweres Suesses Unerfuellbares. Das Zimmer war dunkel, das Fenster stand offen. Er musste eingeschlafen sein. Peter hatte wohl das Licht ausgemacht. Unten hoerte er Stimmen. Nachbarn, die spaet heimgekommen waren und ihn aus seinem Traum geweckt hatten. Neben ihm schnarchte leise der Kumpel. Die Leuchtanzeige des Weckers zeigte 4 Uhr 30. Noch 15 Minuten, bis er klingelte. G. lag ruhig da und starrte an die Decke, wo Schattenrisse sich ueberlagerten. Er teilte dem verschlafenen Freund mit, dass er zu Hause bleiben wuerde. Die Skilehrerin war sowieso gebunden, dort irgendwo in den Alpentaelern, und eigentlich hatte er besseres vor. - All dies fiel ihm schlagartig wieder ein. Es war, als ob ploetzlich das Licht anging, oder, in einem anderem Bild, als wuerde ein nasser Lappen ihn im Gesicht treffen und sein Bewusstsein mit dem Feuerwasser der Erinnerung traenken. Er wusste auch wieder, dass er wochenlang in jener Felsenhoehle gearbeitet und dort einen wichtigen Fruehmenschenfund gemacht hatte. Frau S., die still da gesessen hatte, den Kopf zur Seite gewandt, holte ihn mit der Frage in die Gegenwart zurueck, ob sie ihn nun allein lassen duerfe. Sie muesse wieder nach oben. Er gab einen Laut der Zustimmung von sich und bedankte sich. "Allein", sagte er, "waere ich nicht von der Treppe gekommen", und dann - sie war schon im Fortgehen - ueberraschte und beunruhigte er sie, indem er sie um ein kleines Bueschel ihrer Haare bat. Nachdem sie gegangen war, hielt er die Locke gedankenvoll gegen das Licht. Er liess sie genetisch analysieren und verglich das Ergebnis anschliessend mit seiner eigenen Genkarte. Dieser Vergleich befriedigte ihn nicht. Er machte ihn ungluecklich. Um diese Reaktion und sein seltsames Verhalten zu verstehen, muss berichtet werden, was sich im Ablauf des vergangenen Jahres zugetragen hatte: - Jeden Morgen, wenn er aus der U-Bahn stieg, liess er den Kopf haengen. Er schlenderte mehr als er ging auf die Isarbruecke zu und wurde dabei von vielen hektischen Schritten ueberholt, die gleich ihm ihrem Angestelltenarbeitsplatz zustrebten. Wie jeden Tag mied er die vierspurige Prinzregentenstrasse und machte einen Umweg durch den englischen Garten. Schliesslich betrat er das Museum - Nazis Schnoerkelbau, wie er es bei sich nannte - ueber eines der von dorischen Saeulen flankierten Seitenportale, die bei einem weniger imposanten Bauwerk bequem als Haupteingang durchgegangen waeren. Wenn dann die schwere Holztuer hinter ihm zufiel, fuehlte er sich wie ein Lenin in seinem Mausoleum. Ein Knoten war in seiner Brust, der sich vor dem Feierabend nicht aufloesen wuerde. Frueher, bevor Riesmueller zum Direktor gemacht worden war, hatte er ganz gern hier gearbeitet. Doch seit er, zusammen mit Faltermeier, der an einer Nervenkrankheit litt und von Zitteranfaellen heimgesucht wurde, in ein Kabuff im hintersten Fluegel des Gebaeudekomplexes abgeschoben worden war, und man ihm die niedrigsten Hilfstaetigkeiten aufgab und so seine voellige Bedeutungslosigkeit signalisierte, war jede Motivation verloschen, ja, seine Arbeit hatte begonnen, ihn anzuwidern. Sein Weg fuehrte am Heizungskeller vorbei, ueber einen endlosen Gang, auf dem ihn Kabel und Rohre begleiteten, und muendete hinter einer Fluegeltuer mit Milchglasscheiben in einen kuerzeren Korridor, wo sein Buero direkt neben den Toiletten fuer das Reinigungspersonal lag. Alles war staubig, der Teppichboden verfilzt, und die ehedem weissglaenzende Farbe der Waende hatte eine gelbliche Toenung angenommen, als ob hier unten staendig geraucht wuerde. Eigentlich war die Bezeichnung 'Buero' fuer seinen Arbeitsplatz uebertrieben; der hohe, enge, fensterlose Raum hatte als Entwicklungslabor gedient, bis die Museumsdokumentation auf digitale Phototechnik umgestellt wurde, und obwohl er die Tuer dauernd offenhielt, liess sich der chemische Geruch nie ganz vertreiben. Alles hier zeugte von seiner Lustlosigkeit. Ein leerer Schreibtisch stand wie jungfraeulich mitten im Raum. Die meisten Werkzeuge, Untersuchungs-Materialen und Buero-Utensilien, mit den Jahren angesammelt, auf die er frueher viel Wert gelegt hatte, lagerten noch in wuchtigen Kisten, die sich in den Ecken des Raumes auftuermten. Er legte seine Tasche auf eine der Kisten und setzte sich. Er atmete muede, hielt den Kopf schief und blickte in die Ferne hinter der gegenueberliegenden Wand. Dann schloss er die Augen. Gestern abend hatte er wieder viel zu lange ferngesehen. Heute, dachte er, koennte ich eigentlich meine Bilder aufhaengen. Leider standen zwei Kisten auf der Truhe, in der er die Poster vermutete, und verhinderten den sofortigen Zugriff. Er konnte sich nicht entscheiden und blieb erst einmal auf seinem Drehstuhl sitzen. Irgendwann erhob er sich, beugte sich ueber die oberste Kiste und stemmte sie mit einem Ruck nach rechts. Er wollte sich gerade ueber die zweite hermachen, da hoerte er ein lautes Geraeusch, ein Klick-Klack wie von Ledersohlen oder Pumps, und ehe er sichs versah, stand Frau S. in der Tuer. Er wandte den Kopf und nickte ihr zu. Langsam naeherte sie sich ihm und blickte ihm dabei unentwegt in die Augen. "Wie eine Goettin aus hoeheren Sphaeren", musste er unwillkuerlich denken. Wie hatte die sich hierhin verirrt? Vorsichtshalber stand er auf und reckte sich zu seiner vollen Koerpergroesse. In der Naehe solcher Frauen fuehlte er sich unsicher, unbeholfen und unscheinbar. "Sie sind ja leider telefonisch nicht zu erreichen", sagte sie mit leichtem, wenngleich unbekuemmertem, Vorwurf in der Stimme. Dabei musterte sie ihn unausgesetzt. Er kam sich vor wie ein toter Nachtfalter unter dem sezierenden Blick einer Insektenkundlerin. "Mein Telefon ist noch nicht umgestellt", sagte er, wobei er sich ihrem Blick entzog. "Ich soll Sie daran erinnern, dass Sie einen Termin in der Personalabteilung haben", sagte sie bedeutungsvoll, wobei sie den Kopf ein wenig vorschob. Sie verkniff sich den Zusatz, einen Termin, bei dem man tariflich zurueckgestuft werde, vergesse man doch nicht. Armer G., dachte sie; ueber ihn wurde im ganzen Museum geredet. In seiner Gegenwart wusste sie nie, was sie sagen sollte. Der Mann war nie unterhaltsam gewesen, doch seit man ihn hierhin verschoben hatte, umgab ihn eine derartig truebselige Aura, dass sich keiner mit ihm mehr beschaeftigen mochte. Zudem war bekannt, dass die Direktoren ihn ablehnten, sie liessen, wenn auch nicht in seiner Gegenwart, so doch keine sonstige Gelegenheit aus, um Negatives ueber ihn zu verbreiten. Auf Jubilaeumsfeiern und Betriebsveranstaltungen stand er meist allein - wenn er ueberhaupt eingeladen wurde. "Richtig", sagte er, vom Geruch ihres Parfums leicht benommen, "das hatte ich vergessen." Der Termin war fast eine Stunde ueberfaellig. Berger hatte auf ihn gewartet, sich bei Riesmueller beschwert, als er nicht erschienen war, und der hatte Frau S. in Bewegung gesetzt. "Ich gehe sofort", sagte er und hoffte, dass sie schnell verschwinden wuerde. Er wollte nicht, dass sie sich an seinem Unglueck weidete. Sie fixierte ihn nochmals mit neugierigem Silberblick, so dass er blinzeln musste, woraufhin sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengten. Schliesslich entfernte sie sich. G. liess endgueltig von seinen Kisten ab und begab sich auf verschlungenen Pfaden, die ihn ueber eine Ballustrade auch am eigentlichen Museumstrackt vorbeifuehrten - unter ihm eine Halle voller nachgebildeteter Skelette - in die Personalabteilung. Bergers Sekretaerin meldete ihn an. Auch sie musterte ihn aufmerksam. Berger sass, ja, thronte in einem hellen, nach Sueden gelegenen Buero; vor dem Fenster Gruenpflanzen, die er, wie G. vermutete, von seiner Vorzimmerdame pflegen liess. Der Personalchef arbeitete schon seit ueber zwanzig Jahren im Museum. Er hatte die fuer ihn hoechtsmoegliche Stufe erklommen - sass fest im Sattel, koennte man sagen - und dabei alle Entwicklungen und Veraenderungen, die neue Direktoren ins Haus brachten, voller Ueberzeugung oder mindestens gehorsam mitgetragen. Dass Mitarbeitern, die keine entsprechende Leistung brachten, eine Gehaltsreduzierung oder gar Abstufung drohte, war eine Reform, die auch jeder andere Personalchef gutgeheissen haette. Er war ein stattlicher Mann in den 50ern, mit grauem Haupthaar und gerader Haltung, und muehelos imstande, aus seiner vierkantigen Kunststoffbrille jedem Anlass gemaess in die Welt hinauszublicken. War er frueher immer jovial und liebenswuerdig zu G. gewesen, ein Philantrop, den jedes Problemchen geradezu enthusiastisch zu bekuemmern schienen, ohne dass er selbst andere Interessen verfolgte als seine Arbeit redlich zu verrichten, so hatte sich sein Verhalten in den letzten Monaten von Grund auf gewandelt, es war, als habe er eine Huelle abgestreift, die er vorher nur mit Widerwillen getragen hatte, und unter der nun seine wahre Einstellung offen zutage trat - und die war eine Negative. Nachdem er verschiedene Allgemeinplaetze von sich gegeben hatte, mit denen er solche Gespraeche einzuleiten pflegte, kam er auf den Kernpunkt zu sprechen: "Sie wissen, bei uns hat das Prinzip einer leistungsgerechten Bezahlung Platz gegriffen. Wir sind sehr froh darueber, dass wir unsere Mitarbeiter nun weitgehend entsprechend ihres persoenlichen Engagements entlohnen koennen, und an das strenge Korsett des oeffentlichen Dienstes nicht mehr gebunden sind ..." So redete er dahin, und irgendwann sagte er: "Leider gehoeren Sie nicht zu denjenigen, die davon profitieren werden. Sie haben unsere Erwartungen nicht in jeder Hinsicht erfuellt". Offensichtlich schoepfte die Museumsleitung ihre Moeglichkeiten voll aus. Alles war bereits geregelt. Auch der Personalrat hatte zugestimmt. G. konnte froh sein, dass Entlassungen nicht moeglich waren, jedenfalls nicht ohne weiteres. Er dachte gar nicht daran, von sich aus zu kuendigen, da er mit seiner spezialisierten Ausbildung anderswo garantiert keine Arbeit finden wuerde. Auch fuehlte er sich zu alt und muede, um beruflich umzusatteln, und haette seinen Gegnern damit nur den groessten Gefallen getan. "Wir waren also gezwungen, Sie umzugruppieren", sagte Berger. "Direktor Riesmueller hat ihnen das ja schon angekuendigt. Heute geht es nur noch darum, die neuen Vertragsbedingungen abzuzeichnen." G. unterschrieb ohne zu zoegern oder besondere Emotionen zu zeigen. Er wusste, dass sich dagegen nicht viel machen liess. Was haette er tun sollen? Klagen? Er scheute die Unannehmlichkeiten eines jahrelangen Rechtsstreites, auf den es Riesmueller garantiert ankommen lassen wuerde. Er verabschiedete sich von Berger und trollte sich in sein Buero. Dort war inzwischen Faltermeier eingetroffen und damit beschaeftigt, die Post zu oeffnen. Anschliessend fuehrte er ein langes muehsames Telefongespraech, in dem es ihm nicht gelang, sich dem anderen Ende der Leitung verstaendlich zu machen. G. vermutete, dass Faltermeier an Alzheimer litt und sein Kurzzeitgedaechtnis bald ganz verlieren wuerde. Er war froh, dass ihn seine beruflichen Schwierigkeiten bisher nicht krank gemacht hatten. Von der staendigen Muedigkeit abgesehen, die er auf mangelnde Motivation zurueckfuehrte, war er gesund, sogar von der alljaehrlichen Grippe-Epidemie blieb er gewoehnlich verschont. Er ging jetzt ernsthaft daran, seine Bilder an der Wand zu befestigen, Fotos von besonders interessanten Funden oder lange zurueck liegenden Konferenzen, auf denen er zu Vortraegen eingeladen worden war. Spaeter suchte er die Personalratsvorsitzende auf, um herauszubringen, um welchen Betrag sich sein Einkommen reduzieren wuerde. Oeffentliche Dienstvertraege sind voller verworrener Klauseln und schwer zu durchschauen, und in dem neuen Kontrakt waren einige Zuschlaege gekuerzt oder gestrichen worden, die bisher einen betraechtlichen Teil seines Gehaltes ausgemacht hatten. Zwischendurch kamen 2 Kollegen vorbei, die ihn draengten, den Bestandskatalog H, also das Verzeichnis aller wertlosen Asservate, endlich fertigzustellen, da die Inventarisierung bis Ende des Monats unbedingt abgeschlossen sein muesse. Es sei sonst fuer sie unmoeglich weiterzuarbeiten, und der Aufbau der neuen Datenbank werde unweigerlich ins Stocken geraten. Nicht nur das Direktorium, sondern auch das Berliner Schwestermuseum sitze ihnen im Nacken, mit dem man seit neuestem besonders eng zusammenarbeite, aufgrund des Kooperationsvertrages, von dem doch selbst G. sicherlich schon gehoert habe. Sie waren erregt und ungeduldig und liessen erkennen, fuer wie unkollegial sie ihn und seine schleppende Arbeitsweise hielten. Er liess sich von ihnen jedoch nicht beeindrucken. Wenn ihr wuesstet, dachte er, wie piep egal mir euer Schwestermuseum ist. Bevor er den Katalog H weiterfuehrte, wollte er noch einige Tage verstreichen lassen. Er hatte den Punkt erreicht, an dem ein frustrierter Angestellter nurmehr Bleistifte spitzt und die Stunden bis zum Bueroschluss zaehlt. Ueberdies stoerte und behinderte ihn der Kollege Faltermeier, der kaum einen Arbeitsgang ohne zeitraubende und umstaendliche Rueckfragen durchfuehren konnte. Die Tage verstrichen. Eines Morgens hatte Faltermeier sich krank gemeldet. Zufrieden stiess sich G. vom Schreibtisch ab und winkelte die Beine uebereinander. Die Lehne seines Drehstuhles drueckte gegen die dahinter liegende Wand. Sein Schaedel ruhte an der Tapete und die Augen waren leicht nach oben gerichtet. In jener Stellung verharrte er ungefaehr 10 Minuten. In der ersten Haelfte dieser Zeitspanne versuchte er, sich ueber die Einstufung eines Fundstuecks - eines Keramiksplitters von zwei Millimetern Durchmesser samt genauem Protokoll seiner Findungsumstaende - klarzuwerden. Wo er sich danach aufhielt, haette er spaeter nicht zu sagen gewusst. Jedenfalls wurde seine Meditation abrupt von Riesmueller unterbrochen, der ohne anzuklopfen hereintrat. Der Auftritt kam so unerwartet, dass G. sich im ersten Moment nicht sicher war, ob er traeumte. Riesmueller war ein vielbeschaeftigter Mann, der seinem ehemaligen Kommilitonen obendrein nach Moeglichkeit aus dem Weg ging, wofuer dieser ihm dankbar war. Die beiden hatten sich von Anfang an nicht leiden koennen. "Wie geht's?" fragte Riesmueller. Seine Stimme klang liebenswuerdig, ja herzlich, doch ein haemisches Laecheln umspielte die Mundwinkel. Oder war das nur sein normales Mienenspiel im Umgang mit ungeliebten Untergebenen? Widerwillig stand G. auf und gab seinem obersten Vorgesetzten die Hand. Er fand, dass Riesmueller sich seit den gemeinsamen Studententagen stark veraendert hatte. Aus dem unsicheren Haenfling von einst mit schuetterem Haar und schlechtsitzenden Sakkos war ein glatzkoepfiger, weltlaeufiger Herr geworden, gewohnt, Anweisungen zu geben, die sofort befolgt wurden. G. hatte zur gleichen Zeit mit dem Studium angefangen und ebenfalls hochfliegende Plaene gehabt. Doch es war Riesmueller, der Karriere machte, waehrend G., dank seiner wenig gewinnenden Art, nicht vorankam und froh sein musste, ueberhaupt Arbeit als Archaeologe zu finden. Seit Riesmueller in Muenchen war, hatte er einen noch schwereren Stand. Dieser liess in vertraulichen Gespraechen oder Gutachten kein gutes Haar an ihm. Im persoenlichen Umgang hielt er sich immerhin an die Regeln der Hoeflichkeit; war sogar oft ueberfreundlich; ein Intrigant eben, der es noch weit bringen wuerde, vielleicht zu einem hohen Posten im Kulturministerium. "Ausgezeichnet", erwiderte G. betont froehlich. "Und dir?" "Auch gut", kam es kuehl vom Direktor zurueck, und G. las in seinen Augen, er, Riesmueller, wisse, dass in dieser Kammer seine Autoritaet nicht respektiert werde. So genuegte ein kurzer Wortwechsel, damit sich die alt-uebliche Irritation zwischen den beiden wieder einstellte, die selbst ein eloquenter Museumsdirektor mit all seinem Talent nicht anders aufzufangen wusste, als gleich zum Anlass seines Besuches zu kommen: Die Museumsleitung sei zu der Auffassung gelangt, dass man G.'s Faehigkeiten nicht weiter brachliegen lassen solle. Offensichtlich sei er mit seiner jetzigen Taetigkeit unterfordert. Man wolle ihm daher eine neue Aufgabe anbieten, eine Moeglichkeit zur Bewaehrung gewissermassen. Natuerlich, setzte er beschwichtigend hinzu, bleibe die Entscheidung ganz G. ueberlassen. Niemand zwinge ihn ..., und zum Zeichen seiner Duldsamkeit oeffnete er die Haende und senkte die Handflaechen auf Hoehe seines Unterleibes, als wolle er sich fuer etwas entschuldigen, was G.'s Zorn hervorgerufen haben koennte. Wenn er wolle, koenne er natuerlich an seinem jetzigen Arbeitsplatz bleiben. Es sei nur so (hier machte er eine bedeutungsvolle Pause), die Station Fezce werde in Kuerze vakant. Haake, uebrigens ein exzellenter Fachmann mit grosser Zukunft, habe geheiratet, seine Frau sei schwanger. Man habe ihn bereits zurueck beordert, wolle den interessanten Fundort aber nicht aufgeben. Die beiden Maenner musterten sich aufmerksam. G. war von Riesmuellers Faehigkeiten immer aufs neue fasziniert. Interessanter Fundort? Eine Steinwueste war das, wo in den letzten 20 Jahren kein Mensch mehr gegraben geschweige denn etwas gefunden hatte. Der ideale Weg, jemanden endgueltig loszuwerden. Die letzten Schlagzeilen hatte Fesze im letzten Jahr gemacht, als ein englischer Kollege dort erschlagen aufgefunden worden war. Es hatte jeden ueberrascht, als der junge Haake freiwillig dorthin gegangen war, nur um das alte Repositorium zu verwalten, aber anscheinend hatte er zu der Zeit kein besseres Angebot. "Wenn er nicht auf mich verfallen waere", dachte G., "haette er den Standort bestimmt geschlossen. Ich liege ihm wahrscheinlich schon seit Monaten im Magen. Er gibt sich offenbar nicht damit zufrieden, mich irgendwo weit unten in die Eingeweide seines Instituts verbannt zu haben. - Na ja", dachte er dann, "auch ich habe eigentlich zur Zeit kein besseres Angebot. Besser als hier am Schreibtisch zu versauern, ist es allemal." Da er sich im Moment aber noch nicht festlegen wollte und aus Erfahrung wusste, dass man vor Riesmueller auf der Hut sein musste - er rechnete mit der Moeglichkeit, dass mehr hinter diesem Angebot steckte, als er im Moment durchschaute, dass man ein falsches Spiel mit ihm trieb - verzog er keine Miene und liess nicht erkennen, wie er ueber den Vorschlag dachte. Menschen wie Riesmueller hatten mehrere Gesichter und das Alltaegliche, hinter dem sie sich wie beim florentinischen Karneval versteckten, taeuschte harmlose Freundlichkeit, sogar Warmherzigkeit und Guete vor, doch innerlich, fuer die Meisten unsichtbar, waren sie monstroese Kraemerseelen, voller Verlogenheit, Arglist und boeser Absichten. Zugegeben, jeder von uns hat seine Launen, und zuzeiten, zum Beispiel, wenn man einem gestressten Vorgesetzten gegenuebersteht, mit dem man es nicht verderben moechte, rettet man sich mit Notluegen ueber die Zeit. Solches Verhalten, bei Vielen nur eine sporadische Erscheinung, war bei Riesmueller zu einem fixen Charakterzug entartet. Der Direktor konnte sich ungefaehr vorstellen, was in G. vorging. Es liess sich jedoch nicht vorhersagen, zu welcher Entscheidung er kommen wuerde. Riesmueller hatte schon immer Probleme mit der Sprachlosigkeit und den unberechenbaren Reaktionen dieses Menschen gehabt, mit seiner Unfaehigkeit, sich den banalsten Gepflogenheiten anzupassen, dessen Verhalten sich nicht einordnen liess, unter dessen Blick man fortwaehrend meinte, bis auf den Grund der Seele durchschaut zu werden, und der immer irgendwie bleich und hinfaellig aussah, besonders mit seinen seltsamen Fingerkuppen, von denen Riesmuellers Frau einmal gesagt hatte, sie saehen nicht menschlich aus, "wie von einem Ausserirdischen", hatte sie gesagt. Er erinnerte sich, wie man schon in Studententagen nicht mit G. zusammen in die Mensa gehen konnte, weil der Kommilitone tierisches Eiweiss nicht vertrug und ihn allein der Geruch von Gebratenem tagelang krank machte. All das Sonderbare, was ihn umgab, und mehr noch die schlecht verborgene Abneigung gegen jede Autoritaet - Riesmueller war sicher, dass G. ihn verabscheute - machte ihn zum Aussenseiter, zum Sonderling, von dem in kritischen Situationen nur Destruktives zu erwarten war. Riesmueller wusste, dass er so einen auf Dauer nicht in seiner Einrichtung dulden wollte. Wenn G. in Afrika war, wuerde er in dem feingesponnenen sozialen Gefuege des Museums jedenfalls keine Konflikte ausloesen koennen. "Am besten, du ueberlegst es dir mal", sagte er und verabschiedete sich schnell. - G. hockte am Ausgang einer Felsenhoehle, in Hitze und Dreck und konnte sein Glueck nicht fassen. Wie auf einem vielfarbigen Oelgemaelde hingen funkelnde Sonnenstrahlen verschwenderisch am Himmel und tauchten die weite einsame Landschaft in gleissendes Licht. Er atmete die schwere warme Luft in vollen Zuegen. Schweiss klebte in allen seinen Poren. Er war erschoepft, besonders von der fruehmorgendlichen Anstrengung, das Loch im Fels zu verbreitern und sich endlich hinein zu zwaengen, aber auch von der Konzentration, die noetig gewesen war, die uralten Knochen vorsichtig freizulegen. Vor Wochen schon hatte er den Hohlraum mit dem Detektor aufgespuert, doch erst kuerzlich diesen Zugang gefunden. Ob sein Fund bedeutsam war, liess sich im Moment noch nicht absehen. Das hing vom Ergebnis der Altersbestimmung ab, ob die Skelette einige Tausend, Zehntausend oder Hunderttausend Jahre alt waren und auch davon, was man sonst noch in der Hoehle finden wuerde. Eigentlich konnten sie nicht aelter als 100000 Jahre sein. Der Form der Schaedel nach zu urteilen waren es Homo Sapiens, oder nahe Verwandte, nichts ungewoehnliches, doch immerhin der erste groessere Fund seit langem. Wie es aussah, hatte es sich fuer seinen Widersacher nicht ausgezahlt, ihn hierher zu versetzen. Bevor er seinen Erfolg nach Muenchen meldete, wollte er die Hoehle genau in Augenschein nehmen. Das war zwar gegen die Vorschrift, doch fuehlte er sich bei der Behandlung, die er erfahren hatte, nur bedingt an Vorschriften gebunden. Bei seiner Ankunft hatte alles vollkommen hoffnungslos ausgesehen. Die Station in verwahrlostem Zustand. Wahrscheinlich hatte sich Haake nur mit theoretischen Arbeiten und mit Vortraegen beschaeftigt. Ein Gebiet in Westafrika, in dem niemand etwas Aufregendes vermutete. Ausser Mary Leakey, die den Standort vor ueber 20 Jahren vorgeschlagen hatte - und der damalige Muenchner Museumsleiter hatte sich beeilt, ihrer Anregung nachzukommen. Damals waren ein Vorposten eingerichtet und mehrere Grabungsversuche unternommen worden, bis die Besatzung schliesslich auf eine einzige Person reduziert wurde, die die bestehenden Grabungsstaetten zu verwalten und, mehr schlecht als recht, zu erhalten hatte. Hoechstens einmal pro Jahr wurde G. zum Rapport in Deutschland erwartet. Vorsorglich hatte man ihm keine weiteren Reisemittel bewilligt. Riesmuellers Fehler bestand darin, seinen Trotz und seinen wieder erwachten Ehrgeiz nicht in Rechnung zu stellen. Statt auf den vorhandenen Ausgrabungen nach dem rechten zu sehen, hatte er das Pflegma der Gefangenschaft abgestreift und sich - befluegelt von der neugewonnenen Freiheit und dem Atem Afrikas - im weithin unbesiedelten Landesinneren auf die Suche nach neuen Funstellen gemacht, wie aussichtslos das den Experten auch scheinen mochte. Es war anstrengend und kraeftezehrend gewesen, oft hatte er tagelang in der freien Wildnis kampiert, er hatte abgenommen, seine Haut war faltig geworden und ausgetrocknet, aber es hatte ihm nicht halb soviel ausgemacht, wie als Paria am Muenchener Voelkerkundemuseum zu vegetieren. Mit seinem klapprigen Gelaendewagen machte er sich auf den Weg zurueck in die Station, die nicht in einem befestigten Bauwerk, sondern wie das Basislager einer Expedition in einem geraeumigen Zelt untergebracht war, bis auf Bauchnabelhoehe durch eine Mauer aus Lehm verstaerkt. Im Innern zwei Stuehle und ein verstaubter, zerkratzter Schreibtisch aus der Kolonialzeit, auf dem kleinere Werkzeuge und Bodenfunde - hauptsaechlich Steingut - kreuz und quer herumlagen. Zur Belueftung stand das Zelt meistens nach zwei Seiten offen. Nachts konnte es verschlossen werden. Es war auf einem verwahrlosten Grundstueck am Rande von Fezce aufgestellt, unweit der Behausung des deutschen Honararkonsuls, eines Einheimischen, der als Handlungsreisender Kontakte zur Hauptstadt unterhielt, und G. gelegentlich zum Essen einlud. Die Stadt hatte etwa 50000 Einwohner und war nach westlichen Masstaeben ein Slum, eine lockere Ansammlung baufaelliger Holz- und Lehm-Huetten, die sich kreuz und quer in der Steppe verteilten. Vor Jahren war ein primitives Kanalisationssystem aufgebaut worden, und seither genoss der Ort in weitem Umkreis den Ruf eines fortschrittlichen Gemeinwesens. "Fezce, Gabun, 17.4.1998 - Heute bin ich weiter in die Hoehle vorgedrungen und habe Zeichen an der Wand gefunden, voellig unbekannte Zeichen, eine facettenreiche Bilderschrift, deren Existenz darauf hindeutet, dass mein Fund juenger als vermutet ist, maximal 60000 Jahre, wuerde ich sagen. Ich bin nicht gerade ein Experte fuer Hoehlenschriften, mein Spezialgebiet ist die Skelettanalyse. Trotzdem habe ich Photos gemacht und mit der Interpretation der Bilder begonnen. Die Schaedel unterscheiden sich nicht auf den ersten Blick, wohl aber im Detail, vom Homo Sapiens, was andererseits auf ein sehr viel hoeheres Alter hinweist. Ich habe das Gehirnvolumen gemessen und festgestellt, dass es etwas groesser ist als beim heutigen Menschen. Aus ihrem Gebiss laesst sich eindeutig schliessen, dass sie Vegetarier waren. Extrem ueberraschend, da alle bisher bekannten Hominiden, die so weit von der evolutionaeren Linie der Affen entfernt sind, Allesfresser oder Fleischfresser gewesen sind. Mir persoenlich ist das sehr sympathisch, da auch ich kein Fleisch vertrage. Es wird oft behauptet, dass der Verzehr von tierischem Eiweiss eine Voraussetzung fuer die Entwicklung von Intelligenz ist. Mein Fund widerlegt diese Spekulationen. Mir sind solche Ueberlegungen schon immer wie Kaffeesatzlesen vorgekommen. Letztendlich kennt niemand den Ursprung des menschlichen Verstandes. Mehr noch: es ist durchaus denkbar, dass es andere Wege als den aufrechten Gang oder selbst kommunikative Kompetenz gibt, die zum Denkvermoegen fuehren. Ohnehin werden die menschliche Geistesgaben von schweren Defiziten geplagt. Selbstsucht und psychische Befindlichkeit beeinflussen die Richtung, wenn nicht gar die Resultate unseres Denkens viel staerker als Einsicht oder empirische Erfahrung. Ich zweifle sogar am Vorrang intelligenten Lebens ueberhaupt. Die Vernunft versetzt den Menschen in die Lage, mit Figuren, die er zuerst nur rein gedanklich entwickelt hat, aeusserst effektiv in die materielle Realitaet einzugreifen. Im Sinne Darwins mag es von Vorteil sein, Feind oder Bezwinger der Umwelt zu sein. Mir persoenlich wuerden andere Formen des Umgangs mit der Wirklichkeit mehr behagen. Es ist aber doch ein grosses Raetsel, zu welchem Zweig der menschlichen Gattung meine Funde gehoeren. Ich will daher noch weiter abwarten, bevor ich sie nach Muenchen melde. Riesmueller traue ich alles zu, auch, dass er mich von dem Projekt abzieht. Auf jeden Fall wird hier ein grosser Tross einfliegen, wie ein Heuschreckenschwarm, oder wie eine Filmcrew, die in eine unberuehrte Nachbarschaft einfaellt, sobald sie Wind davon bekommen. Und einer meiner hochverehrten Vorgesetzten wird den Regisseur mimen. Ich habe seit zwei Wochen nichts ins Berichtstagebuch geschrieben. An sich nicht ganz regelkonform, aber auch nicht ungewoehnlich. Es kann immer mal vorkommen, dass man damit ins Hintertreffen geraet. Die Darstellung von Funden gelingt viel systematischer, wenn man sich mit dem Eintragen Zeit laesst." "Fezce, Gabun, 10.5.1998 - Ich habe viele neue Bildertexte weiter hinten in der Hoehle gefunden und eine Liste aller Zeichen angelegt, die darin vorkommen. Es scheint, als haetten diese Vormenschen ein dringendes Anliegen gehabt, Mitteilungen, die sie der Nachwelt unbedingt ueberliefern wollten. Die natuerliche Faltung des Felses bietet eine grossflaechige und dauerhafte Oberflaeche, auf der sich viele ausfuehrliche Nachrichten festhalten lassen. Ich frage mich, welche Mal-, Metz- und Kerbe-Werkzeuge damals benutzt wurden. Ausser einigen Faustkeilen habe ich bisher nichts gefunden, habe allerdings bei weitem noch nicht die ganze Hoehle untersucht, sondern nach meiner Schaetzung in dem weitverzweigten Labyrinth hoechstens 10 Prozent der Zeichen oder Bilder, oder wie immer man sie nennen will, freigelegt und fotografiert. Das Ganze erweckt den Eindruck, als seien mehrere Generationen am Werk gewesen. Die Darstellungen und Bilderfolgen sind in den Fels gekratzt oder gemeisselt und teilweise mit einer erstaunlich bestaendigen Farbe oder Grundierung ausgemalt worden. Sie sind klar und praezise und systematisch strukturiert. Diejenigen, die ich genauer analysiert habe, sind fuer mich leicht verstaendlich - so leicht, als haette ich einen Brief in einer lange vergessenen Muttersprache erhalten oder als rufe jemand, dessen Art zu denken mir gelaeufig ist, von einer grossen Bruecke zu mir hinunter. Ich fuehle mich wie ein Radioempfaenger, der genau auf die richtige Wellenlaenge eingestellt ist. In den Bildern, soviel habe ich bereits mitbekommen, ist von Auseinandersetzungen mit anderen Hominiden die Rede, vor denen sich die Hoehlenbewohner sehr gefuerchtet haben muessen; denn ihre Feinde organisierten sich in grossen Gruppen und machten systematisch Jagd auf sie. In den Zeichnungen sind sie durch flache Fingerkuppen oder als Jaeger symbolisiert, waehrend sich meine Hoehlenbewohner durch eine gekruemmte Fingerspitze oder als Sammler und Bauern kennzeichnen. Wie sonderbar, dass meine Gliedmassen so aehnlich aussehen und auch ich mich rein vegetarisch ernaehre!" "Fezce, Gabun, 1.7.1998 - Nachdem ich meine Entdeckung nach Muenchen gemeldet habe, hat sich, wie vorhergesehen, die Karawane in Bewegung gesetzt - erst eine kleine Vorhut mit Haake an der Spitze, und dann, sobald er die Bedeutung erkannt hat, die geballte Personalmacht des Museums, die die Hoehle bis zum letzten Staubkoernchen katalogisiert und analysiert und keinen Stein und keinen Knochen auf dem anderen gelassen hat. Von allen Fundstuecken sind Proben genommen und ins heimische Labor geschickt worden. Eigentlich ist die moderne Art des Umganges mit Schaetzen der Vergangenheit nichts als staatlich organisierte Grabraeuberei. Gnadenlos werden sie der Jungfraeulichkeit des Verborgenseins entrissen, zum allfaelligen Bestaunen ans Tageslicht geholt und ins Museum verschleppt. Eine Zeitlang beforscht und beglotzt und von spaeteren Generationen ignoriert und missachtet, landen sie schliesslich zuhauf in den Asservatenkammern, unsicheren Orten, denen jede Leidenschaft und Andacht mangelt, und sind zuletzt der Vernichtung geweiht - eines Tages und spaetestens beim naechsten oder uebernaechsten Krieg, der unweigerlich irgendwann angezettelt wird. Das hat mich gleich zu Anfang an der Archaeologie gestoert, aus Interesse an dem Thema habe ich es aber hingenommen. Es gibt schliesslich auch positive Aspekte in unserer Wissenschaft. Mit den modernen Methoden ist es zum Beispiel moeglich, aus relativ kleinen, dem Anschein nach bedeutungslosen Fragmenten ein detailliertes, anschauliches und wahrhaftiges Bild alter Kulturen zu entwerfen. Besonders interessant werden die Analyseergebnisse des Biogewebes sein, die an manchen Skeletten in kleinen Spuren gefunden worden sind. Waehrend mit den Knochen und anorganischen Materialien das Alter des Stammes bestimmt werden kann, so dass er sich in das etablierte System der Palaeo-Anthropologie grob einordnen laesst, wird uns die Genanalyse ermoeglichen, Verwandtschaftsverhaeltnisse zu Voelkern und Arten eindeutig festzulegen." "Bei Fezce, Gabun, 2.8.1998 - Ich sitze auf dem Steinquader ueber der Hoehle und blickte ueber weites trockenes Land. Nur ein paar felsige Huegel, verkrueppelte Baeume und weiter hinten der Fahrweg unterbrechen die Monotonie dieser Landschaft. Mir ist ein entsetzlicher Verdacht gekommen. Die Texte und Bilderfolgen in der Hoehle brechen an mehreren Stelle ab, wo von grausamen Verfolgungen der Hoehlenbewohner die Rede ist. Es scheint, als habe ein Ausrottungsfeldzug gegen sie stattgefunden, der mit auesserster Brutalitaet gefuehrt wurde und den Stamm innerhalb weniger Generationen voellig ausgeloescht hat. Ihre Feinde scheinen wesentlich aggressiver gewesen zu sein als die Hoehlenbewohner, so werden sie zumindest auf den Bildern dargestellt, und besassen die ueberlegenen Waffen. Genaugenommen gibt es kein Anzeichen dafuer, dass sich die Hoehlenbewohner ueberhaupt in kriegerischer Form gewehrt haetten. Man hat mich in der Arbeitsgruppe belassen, die die Knochen- und Bilder-funde auswertet. Ich habe den Mund gehalten und keine Forderungen gestellt, war ganz der servile Untergebene, den sich die Museumsdirektoren wuenschen. Riesmueller wird sicher versucht haben, gegen mich zu intrigieren, aber anscheinend hat er sich nicht durchgesetzt. Sollte Zerwas doch genuegend Rueckgrat besitzen, um sich fuer mich einzusetzen?" Hier enden G.'s Tagebuchaufzeichnungen. Die deutschen Labors nahmen umfangreiche Untersuchungen an den Proben vor. Das Alter wurde zu 320000 Jahren bestimmt, mit einem Fehler von +-20000 Jahren, viel aelter als zunaechst vermutet. Dass sich die Fingerkuppen der Hoehlenbewohner wesentlich von denen des Homo Sapiens unterschied, wie in den Hoehlenzeichnungen angedeutet, liess sich am Ende bestaetigen. Ebenso unterschied sich die Form des Schaedels und einiger anderer Teile des Skelettes. Bei weiteren Nachforschungen wurden auch genetische Spuren des Moerdervolkes gefunden, und es erwies sich als richtig, was G. intuitiv vermutet hatte, dass naemlich die heutigen "Cro-Magnon" Menschen mit den damaligen Jaegern ("M-Volk") wesentlich naeher als mit den Gejagten ("O-Volk") verwandt sind. Die Hoehlenbewohner waeren demnach vom Homo Sapiens ausgerottet worden. G. kam bald auf die Idee, seine eigenen Gene mit denen der O-Leute zu vergleichen. Bei ihm war vor Jahren eine klinische Untersuchung vorgenommen und eine Genanomalie entdeckt worden, als man den Besonderheiten seines Koerpers auf den Grund gehen wollte - kleinen unauffaelligen Abweichungen, die ihn in den Augen der Anderen durchaus nicht verunstalteten - der Kruemmung und den sonderbaren Kerben in den Fingernaegeln, dem relativ grossen Schaedel, der unter keinen Hut passte, der ungewoehnlichen Form des Gebisses und der Allergie gegen tierisches Eiweiss. Ausserdem hatte eine Untersuchung seines Gehirns gezeigt, dass er ein kleineres Sprachzentrum als der Durchschnittsmensch besass. Er wusste schon lange, dass sein sprachliches Vermoegen minderwertig war, sein Denken eher zeichenhaft sich organisierte - und dass er weniger gern mit anderen schwatzte als die meisten seiner Bekannten. So holte er eines Abends die alten Ergebnisse aus den hinteren Winkeln seines Schreibtisches und legte sie neben die zerknuellte (weil in der Hosentasche verborgene) Kopie des Analysebefundes aus dem Museum. Und tatsaechlich: seine DNS war weitgehend mit der des O-Stammes identisch. Natuerlich stellte sich die Frage, wie er und seine Vorfahren seit 300000 Jahren unter den 'normalen' Menschen hatten ueberleben koennen. Offenbar waren die meisten Hoehlenbewohner ausgerottet worden. Einige hatten sich jedoch durch Vermischung bis in die Gegenwart gerettet. Die Texte in der Hoehle unterstuetzten diese Theorie, indem sie von verschleppten Frauen und Kindern berichteten. Es war schwer zu sagen, wie stark sie in der heutigen Bevoelkerung verbreitet waren. G. vermutete allerdings, dass man ihnen eher selten begegnete. Die grosse Mehrheit zeigte den Charakter des M-Volkes, seine Aggressivitaet, seine Bereitschaft, sich Fuehrern unterzuordnen und so weiter. Er war zeitlebens Anhaenger der behavioristischen Lehre gewesen, das Sozialverhalten der Menschen werde durch aeussere Einfluesse bestimmt, und hatte sich nie vorstellen koennen, dass die psycho-sozialen Probleme, die er im Berufsleben und generell im Umgang mit Menschen hatte, mit koerperlichen Abweichungen zusammenhaengen koennten. In letzter Zeit hatte er jedoch seine Ansicht geaendert. Offenbar gab es innerhalb einer Rasse verschiedene, teils dominante, teils rezessive, genetische Stroemungen, die jahrtausendelang nebeneinander herflossen und dabei den Charakter der Individuen wie auch, in ihrer Summe, der Gesellschaft bestimmten. Die Stroemung, zu der er selbst gehoerte, befand sich schon lange, seit ueber 320000 Jahren, auf dem Rueckzug. In der folgenden Nacht plagte ihn ein Alptraum. Es war November, draussen hatte es den ersten Frost gegeben. Nach zwei Jahren in Afrika war er nicht mehr an deutsche Temperaturen gewoehnt. Es war stockdunkel, Finsternis ringsum. Die Kaelte drang selbst durch den dicksten Fels bis in die unteren Etagen der Hoehle, in die er sich verkrochen hatte. Er konnte nicht schlafen, denn gestern war er Zeuge eines unglaublichen Blutbades geworden. Drueben lagen seine Frau und Kinder, seine Hoffnung. Er wusste nicht, wie lange er sie vor den Moerdern noch schuetzen konnte. Sie machten systematisch Jagd auf seinesgleichen. Die Existenz seines Stammes wurde von ihnen anscheinend als so bedrohlich empfunden, dass man sie alle ausrotten wollte. Sie beanspruchten die Welt fuer sich allein und machten jede Konkurrenz systematisch und erbarmungslos nieder. Er konnte sich ungefaehr vorstellen, was in ihnen vorging. Es war so ein Gefuehl, wie wenn man Ungeziefer zuhause hat, das sich stark vermehrt und alle Vorraete auffrisst. Man weiss oder glaubt zu wissen, dass man es ausmerzen muss, wenn man selbst ueberleben will. So aehnlich - aber mit einer zusaetzlichem, neurotischen Komponente, wodurch sich das Toeten verselbststaendigte, zur Raserei wurde und zum Mord - mussten DIE ANDEREN empfinden. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, das unmenschliche Gemetzel, das sie angerichtet hatten, aus einem Versteck hatte er sie beobachtet. Sie hatten alle umgebracht, derer sie habhaft wurden, Maenner, Frauen, Kinder, und auch diejenigen nicht verschont, die schon am Boden lagen. Mit ihren Lanzen hatten sie so lange zugestossen, bis die wimmernden Leiber keinen Ton mehr von sich gaben. Oder hatten ihren Opfern mit Messern die Haelse aufgeschlitzt. Das macht weniger Arbeit, so gingen die ganz Schlauen unter ihnen vor. Mord mit Verstand, die effektivste Art zu toeten. Bald wuerde der neue Tag anbrechen. Hier unten - er hatte sich mit seiner Familie tief in einen Seitenarm der Hoehle zurueckgezogen, der nur durch einen langen engen Tunnel kriechend erreicht werden konnte - bemerkte man jedoch nichts davon. Man lag in absoluter Dunkelheit und bis zum Bauch in Staub und Dreck. Irgendwann war er wachgeworden und hatte nicht mehr weiterschlafen koennen. Er ahnte, dass sie mit ihren Methoden zu Wohlstand kommen und die Herrschaft ueber die Welt antreten wuerden. Sie wuerden die Waelder roden und den anderen Tieren den Lebensraum nehmen. Sie wuerden sie erniedrigen, auffressen oder gnadenlos ausrotten, falls Sie ihre Kreise stoerten. Da sein Volk ihnen an Intelligenz ebenbuertig war, empfanden sie ihn und die seinen als besondere Bedrohung. All die Waffen, die sie ersonnen hatten, um zu toeten! Die grossen und effektiven sozialen Gefuege, die sie bildeten. Wie Ameisen in ihrem Staat ordneten sie sich dem grossen Ganzen unter. Vorbehaltlos identifizierten sie sich mit ihren Fuehrern! Und erst die Ruehrigkeit, mit der sie ihre Plaene in die Tat umsetzten! Die einzige Freiheit, die sie kannten, war die, ihren Geschaeften nachzugehen. Es stoerte sie nicht, den Rest der Welt dabei zu versklaven. Sie stellten das eigene Wohlbefinden ueber alles und verschlossen sich vor der Erkenntnis ihrer Verbrechen. Sein Volk hatte dem nichts entgegenzusetzen. Es war ihnen nicht gewachsen. Es war ein Volk von friedfertigen Pflanzenfressern, lebte verstreut und in kleinen Gruppen, die sich nur mit befreundeten Familien und niemals zu groesseren Einheiten zusammenfanden. Es gab keine Haeuptlinge, keine Fuehrer, man liebte die Freiheit, und er und seine Stammesgenossen fuehlten sich am wohlsten, wenn sie gleichberechtigt untereinander verkehrten.