Der kurze Abschied (Sicht der Frau) Wir waren 17 und gingen in dieselbe Klasse. Eric war nur einer von mehreren, die mir gefielen, aber er reagierte am staerksten auf mich. Er hatte lange Haare und hielt sich fuer den Groessten, fuer unbesiegbar, weil er jung war, und seine Seele zu allem bereit. Er gehoerte zu einer Clique von 4, 5 Jungen, die sich regelmaessig trafen, im Eiscafe, auf Parties oder zu Hause. Ich beobachtete sie. Manchmal stiegen sie zusammen ins Auto und fuhren zum Kiffen in die Felder. Waehrend die Scheiben beschlugen, versanken sie in den Nebeln ihrer Traeume. Spaeter erzaehlten sie alberne Witze, sie lachten und vergassen gleich, worueber. Aber sie fuehlten sich great, und wenn Jochen den Motor anwarf, die Anlage hoeher drehte und mit 120 ueber die breiten Landstrassen bretterte, die in der Ferne mit den Feldern zur Unendlichkeit verschmolzen, brandete eine Stosswelle Adrenalin in ihr empfindliches junges Nervengeflecht. Ihre Herzen waren voller Musik. Meist hoerten sie Hardrock. Sie hielten die Stones fuer weichgekochte Eier und liebten Rory Gallagher, die MC5 und den aufkommenden Punk. Ein paar von ihnen mochten klassische Musik, Eric hat nie verstanden warum. Auch wenn wir im selben Raum mit ihnen sassen, wir waren meilenweit von unseren Lehrern entfernt. Die Schule schien uns wie fuer geistige Zwerge gemacht, wir waren Riesen in Ketten. Haben Sie sich jemals vor Augen gefuehrt, was es bedeutet, 17jaehrige unter die Aufsicht innerlich vergreister Beamten zu stellen? Sie sind wie Wesen von einem anderen Stern. Wo die Gedanken der Lehrer sich sammeln, fliegen die der Maedchen und Jungen empor, zu den Fenstern hinaus und explodieren wie Feuerwerk am Himmel. Die Sommerferien warteten auf uns und wir ueberlegten schon zu Ostern, wohin wir mit unseren knappen Reserven fahren koennten. Jochen und Eric hoerten von einem Billigflieger nach Schottland, und planten einen Trip von dort per Anhalter nach London, wo sie keinen der beruehmten Clubs auslassen wollten. Jochen ist eher der stille Typ, er will Schriftsteller werden und ueberredete Eric, fuer die Highlands mindestens 10 Tage einzuplanen. Sie kauften ein schweres, regendichtes Zelt, mit dem wir auf entlegenen Weiden, Straenden und Feldern kampieren wollten. Die Aussicht auf kalte schottische Naechte schreckte sie nicht. Ich hoerte davon und ueberredete Iris, dass wir ebenfalls unbedingt nach England fahren sollten. Dann, eines Morgens, blieb ich wie zufaellig allein mit Eric im Klassenzimmer. Ich kann mich noch an jede Einzelheit erinnern. Er trug Bluejeans und einen braunweiss gestreiften Rolli. Seine blauen Augen blinzelten vor Unsicherheit, als ich ihn ansprach, und mir ging es nicht besser. "Ich habe gehoert, ihr wollt in den Sommerferien nach England", sagte ich. Und sah dabei hoch zu ihm; denn er ist ein Meter neunzig, und ich nur einsfuenfundsechzig. "Stimmt", sagte er. "Wir haben billige Flugtickets nach Schottland und wollen uns die Highlands ansehen. Hinterher noch ein paar Tage in London dranhaengen. Uns unter die Szene mischen." "Hoert sich cool an. Das wuerde mich auch interessieren. Iris und ich wollen auch zusammen los. Vielleicht koennen wir Euch begleiten." Dabei versuchte ich, ihn mit meinem Blick zu fassen zu kriegen; doch seine Augen hielten meiner Erscheinung nicht stand. Sie flatterten an mir vorbei, zu einem fernen Punkt auf der Tafel. Hoffentlich, dachte ich, war dieser Vorschlag nicht zuviel fuer ihn. Aber er fing sich wieder. Er freue sich, sagte er. Sehr. Natuerlich muesse er Jochen fragen. Und dann muesse man sehen, ob es noch Tickets gebe. "Frag einfach beim Reisebuero nach." "Werden wir machen. - Was mich noch interessieren wuerde, wie habt ihr euch das praktisch vorgestellt? Wollt ihr in Hotels uebernachten? Und wie wollt ihr von Schottland nach London kommen?" Er trat einen Schritt zurueck, wahrscheinlich, um seine souveraene Grundhaltung nicht einzubuessen, falls einer seiner Freunde auftauchte, und waere dabei fast ueber einen Stuhl gestolpert. "Wir wollen zelten", sagte er. "Das ist die beste Loesung. Man ist beweglich und hat wenig Kosten. Ihr solltet euch auch ein Zelt besorgen. Oder wir muessten uns trennen, falls ihr im Hotel uebernachten wollt." "Nein, nein, zelten ist eine gute Idee." Nun war es an mir, seinem Blick auszuweichen. "Ich werde Iris fragen, was sie davon haelt." Natuerlich musste ich auch meine Eltern fragen, aber das haette ich nur ungern zugegeben. Wir waren noch immer allein in der Klasse. An der Pinnwand neben der Tuer hing das grosse bunte Plakat irgendeines Schuelerwettbewerbes schief und lose an nur einem Heftzweck. Der Sommer war noch weit, und unsere Planungen ungewiss. Mir fiel nichts mehr ein, was ich haette sagen koennen. Da raffte er sich endlich auf. "Ey, ich denke, wir wuerden Euch gern mitnehmen", sagte er. "Aber selbst wenn es nicht klappen sollte, ... ich wollte dich schon immer fragen, ob ... wir uns nicht mal verabreden koennten ... ins Kino oder so." Ich liess mich nicht lange bitten, und auf den Film haben wir uns auch sofort geeinigt. In der Kleinstadt, in der wir lebten, gab es keine grosse Auswahl. So trafen wir uns am Freitagabend vor dem 'Spielcasino', einem eilig ueber Bombenkratern hoch gezogenen Nachkriegsbau, das mit reichlich Neon, Schaukaesten und Fluegeltueren mit Kunststoffgriffen auf den Stand der 70er Jahre gebracht worden war. Spaeter, in dem dunklen Saal, vor der hellen kreischenden Leinwand, taten wir, was die Natur uns aufgab. Indem wir uns beruehrten, fiel das Denken von uns ab. Unerfahren kaempfte er sich durch die Bluse zu meinen Bruesten vor und liess auch die Schenkel nicht aus. Oh, ich liebte das, ich liebte ihn, und meine Reflexe spornten ihn an, weiter zu machen, immer weiter. Von dem Kung-Fu Film, der Schatten ueber unsere Koepfe warf, bekamen wir nicht viel mit. Junge Liebe ist entfesselt und selbstbezogen und nimmt nichts als den Koerper des Anderen wahr. Weder Schreien noch Schiessen stoeren die Ruhe und Konzentration, mit der weiche, warme Lippen sich bereitwillig oeffnen. Ich schmeckte seine Zunge und die nasse Fuelle seines Mundes; und als er meine Brustwarzen zwischen seinen Fingerkuppen rieb, loeste er bei mir einen ekstatischen Anfall aus, den Aussenstehende leicht fuer einen epileptischen halten konnten. Dabei stiess ich die Popcorntuete um, die wir neben uns gestellt hatten, und das fettige Zeug broeselte ueber den Plueschsitz zu Boden. Eric war definitiv besser als alle, mit denen ich bis dahin im Kino gefummelt hatte. In den folgenden Wochen setzten wir unsere Aktivitaeten in anderen dunklen Ecken, wie Fahrradschuppen und Hofeinfahrten, fort, fanden aber zum Bumsen nie den richtigen Ort. Schliesslich verlor ich die Geduld und schlug eine ziemlich aufwendige Aktion vor: 100 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt liegt ein grosser, verschlafener, schilfbewachsener See in der Einsamkeit der nordeutschen Tiefebene: der Duemmer. Dort besassen meine Eltern ein Ferienhaus, das sie sich, als einigermassen wohlhabende Unternehmerfamilie, vor Jahren genehmigt hatten. Eines Samstagmorgens zogen wir los. Wer eine Frau dabei hat, kommt beim Trampen schnell voran. Wir fuhren auf einsamen Landstrassen und durch kleine Staedte, in denen der Einkaufsverkehr unser Fortkommen behinderte. Der Himmel war bewoelkt; nur hin und wieder brach die Sonne durch. Schliesslich erreichten wir Huede, ein Dorf, von dem sich das Haus ueber die Seepromenade erreichen laesst. Der Duemmer ist eigentlich ein Erholungsgebiet fuer junge Familien und alte Leute. Ich war seit Monaten nicht mehr dort gewesen. Wenn man vom Dorf auf den See zu geht, kommt man an Parkplaetzen, Restaurants, Eiscafes und Fischstaenden vorbei, und schliesslich versperrt ein grosser Spielplatz den direkten Blick auf das Wasser. Dahinter verlaeuft die mit roten Klinkern ausgelegte Uferpromenade, auf der hauptsaechlich Rentner und Hunde spazieren gingen, die hier den Sommer verbrachten. Starker Wind scheuchte Wolken ueber den See und machte uns atemlos. Unsere Jacken beulten sich zu Ballons. Eric hielt meine Hand, wie um mich nicht zu verlieren. In kurzen Momenten, in denen die Sonne sich Bahn brach, strahlte die Welt voll trunkener Freude. Der Gehweg war noch nass vom letzten Schauer, und Regentropfen an den Blaettern glitzerten wie Millionen Prismen, bis die Sonne sich wieder verhuellte. Auf dem Wasser kraeuselten sich Wellen, ein paar unentwegte Surfer stoerten die Wasservoegel, die sich lautstark beschwerten, und in der Ferne konnten wir das gegenueber liegende Ufer erkennen. Vom Haus sahen wir zuerst nur das Reetdach, da es durch eine hohe Hecke vom Uferweg abgesetzt ist. Waehrend wir uns darauf zu bewegten, hatte ich eine ploetzliche, intensive Empfindung, eine wirre, vage Vision der Zukunft - aber kein Bild, sondern eher ein Kaleidoskop von Moeglichkeiten, wie sie sein koennte, oder auch nicht. Auch er schien etwas davon zu spueren, denn ploetzlich, und wie um den Fortgang der Zeit aufzuhalten, verstellte er mir den Weg zur Tuer und sah mich lange an. Endlich schob ich ihn schweigend beiseite und schloss auf. Das Innere entsprach, wie ich zugeben muss, nicht der aeusseren Schoenheit des Hauses. Aus Furcht vor Einbrechern hatten wir im Wohnbereich wahllos billige oder ausrangierte Moebel aufgestellt. An weissen Waenden hingen sportliche und andere Ehrenurkunden, und auf den Simsen verstaubten alte Trockenstraeusse und Familienfotos. Die Kueche immerhin war modern und funktional eingerichtet, und im Schlafzimmer stand ein breites haesslich-hellfurniertes Bett. "Magst du was essen, oder vielleicht einen Tee?" fragte ich. "Cola waere schoen." "Cola ist nicht da. Haetten wir mitbringen muessen." "Dann einen Tee, bitte." Und fuehrten, bis das Wasser kochte, ein gepflegtes Gespraech am Kuechentisch. Als ich ihn aufgegossen hatte, stand er auf und nahm mich in die Arme. Die naechsten Stunden waren die schoensten meines Lebens. Wir machten uns an unseren Kleidern zu schaffen und zogen uns nacheinander Hemd, Hose und Unterwaesche aus, ohne Hast, aber mit fiebrigem Eifer. Dann sahen wir uns zum ersten Mal ganz nackt. Ich hatte die Vorhaenge im Schlafzimmer nicht zu gezogen, und als ploetzlich die Sonne hervorbrach, badeten unsere Koerper in Helligkeit. Vorsichtig befuehlte ich seinen Oberkoerper, kuesste ihn ueberall und draengte ihn sanft zum Bett, grelles Licht auf den Laken. Spaeter gingen wir hinaus an den See, Arm in Arm wie ein altes Ehepaar, und sahen der Abendsonne zu, die im Westen hinter einer Wolkenwand verschwand. Mindestens eine Stunde standen wir da, mit nichts beschaeftigt als der Beruhigung entfesselter Empfindungen. Es war illusorisch, in der aufkommenden Dunkelheit zurueckzufahren. Niemand haette uns mitgenommen. Wir riefen die Eltern an und logen, wir wuerden bei Freunden uebernachten. Gewannen so die Nacht und den folgenden Tag. Als er mich Sonntagabend heimbrachte, mochten wir uns gar nicht trennen. Wir wussten, wir gehoeren zusammen. Unsere Reise wuerde das endgueltig besiegeln. Meine Eltern waren da anderer Meinung. Betrachteten ihn als schlechte Gesellschaft, oder die Eintrittskarte dahin. Hippie, Gammler, Kommunarde, was weiss ich, was sie sich vorstellten. Er war zu stolz, um diese Einstellung zu entkraeften. Damit sie sich nicht einmischten, beschlossen wir, unsere Plaene vorerst geheimzuhalten. Ich wuerde ihnen weissmachen, ich wolle mit Iris allein fahren. In jenem Fruehsommer haben wir uns fast jeden Tag getroffen (bei nachlassenden schulischen Leistungen), wochentags mit den Cliquen in Eisdielen und im Jugendzentrum, an Wochenenden wanderten wir (vorsichtshalber), im Wald, an entlegenen Steinbruechen vorbei, bis zum Fernsehturm, und sogar durch die Felder vor den Toren der Stadt. Ich sage 'vorsichtshalber', doch ich schwoere, Liebende koennen nichts Besseres tun, um ihre Gefuehle zur vollen Reife zu bringen. Und gesund ist es ausserdem. In warmen Naechten schwammen wir kraftvolle Runden im stillen Becken des oertlichen Freibades, das malerisch und einsam am Waldrand liegt. Im hellen Mondlicht spiegelten sich unsere jungen Koerper im Wasser. Wir waren uns selbst genug und nahmen den Uebergang zum Hochsommer, wie manches andere, gar nicht recht wahr. Wir wussten nur, am 19. Juli sind Ferien und am 20. fliegen wir los. Eines Morgens war es soweit. Rucksack und Zelt lagen gepackt und griffbereit neben dem Bett. Wir trafen uns mit Hallo am Bahnhof, eine Gruppe junger Leute, reisefiebrig, von Zwaengen befreit und innerlich die Fahnen schwenkend. Mittags waren wir am Flughafen und fanden unter Schwierigkeiten das abseits gelegene Terminal, an dem die Passagiere der halb verrosteten DC8 abgefertigt wurden, die uns nach Edinburgh bringen sollte. Nur gut, dass meine Eltern uns nicht zum Airport brachten! Vater haette mich gar nicht erst mitfliegen lassen. Solche Aengste lagen uns fern. Jugend ist furchtlos und verschwendet keinen ernsthaften Gedanken an den eigenen Tod. Darum laesst sie sich leicht als Kanonenfutter missbrauchen. Jeder durfte nur ein Gepaeckstueck aufgeben (den Rucksack) und so navigierten Eric und Jochen mit schweren Zelten unterm Arm zu ihren Plaetzen, im Ruecken die Blicke anderer Passagiere, und ueber die warmen Parkas schimpfend, die sie gehoerig ins Schwitzen brachten. Um moeglichst viel von den Highlands zu sehen, fuhren wir mit Bussen ganz hoch nach Norden, bis Inverness, und von dort nach Westen. Nach der Hitze in Deutschland war das Wetter ein Schock, aber Kleidung und ein gesunder Kreislauf schuetzten uns gegen Krankheiten, Niederschlaege und kalte Winde. Ausblicke auf hohe schneebedeckte Berge und weite Ebenen entschaedigten uns fuer die Strapazen. Winzige Doerfer schmiegten sich in Taeler und Buchten, besonders zum Meer hin. In einem, ich habe den Namen vergessen, blieben wir ein paar Tage, einfach um Fischern und Voegeln zuzusehen und der See zu lauschen, die ganz anders klingt als Rock and Roll. Aus Furcht vor dem Zoll und Ehrfurcht vor der Landschaft hatten wir keine Rauschgifte im Gepaeck (ausser Jochen, der auf seine Zigaretten nie verzichtet haette), und so waren unsere Lungen empfaenglich fuer die Gerueche der Highlands und Fjorde. Wir kamen an verfallenen Burgen vorbei, die sich vor den dunstigen Bergen wie Metaphern auf die Wirklichkeit ausnehmen. Karge Baeume und Straeucher schmiegen sich an ihre Waelle. Manchmal stehen sie auf kleinen Eilanden in den Lochs, und steinerne Bruecken fuehren hinein. Von ihren Zinnen kann man auf Bens, Glens und weit uebers Wasser sehen. Dazwischen endlose steinige Wiesen und Schotterwuesten, eine bittersuesse Landschaft, in der man auf nichts als auf Schafe und manchmal auf Rotwild trifft. Am meisten froren wir fruehmorgens in den Zelten, wenn die Kaelte der Nacht im schlafenden Koerper sich sammelt. Wir sassen dann oft zusammen und sahen das Land und die Wasser erwachen. Wenn der Mond gegen die Sonne verblasste, zuengelten die Buchten und Fjorde wie Feuer ins Land. Einmal wurden wir mittags in einem kleinen gottverlassenen Nest abgesetzt. Zentrum des Ortes war ein grosser nach Westen offener Parkplatz, der nach Osten mit einer Ladenzeile abschloss. Postamt, Drogerie, eine Bar, das war alles. Keiner der Laeden war offen, und weit und breit niemand zu sehen. Eisiger Wind peitschte ueber die leere Flaeche und trieb dunkle Wolken heran. Die Graupelkoerner, die sie mitbrachten, waren schwer und so fest, dass sie an uns abprallten. Unsere Stimmung sank auf den Nullpunkt. Die ewigen Ortswechsel seien ihm zu stressig, jammerte Jochen unter seiner Regenjacke. Es sei hier viel kaelter, als er es sich vorgestellt habe. Er wisse nun, dass er sich in gemaessigteren Zonen wohler fuehle. Nicht mal vernuenftig rauchen koenne man bei dem Sturm. Er schlug vor, endlich nach Sueden zu fahren. "Wieso sollten wir", brach es aus Iris heraus. "Wieso sollen wir uns immer nach dir richten?" "Wieso richtet ihr euch immer nach mir?" "Du merkst das anscheinend schon gar nicht mehr. Allein die Reisekasse. Wenn du nicht soviel rauchen wuerdest, waere nicht staendig Ebbe darin und wir koennten uns was Anstaendiges zu essen leisten." "Wenn du nicht das ganze Geld fuer teure daenische Fruchtjoghurte ausgeben wuerdest, die ausser dir keiner mag, haetten wir ueberhaupt keine Probleme. Wie kann man sich bei diesem Klima von Diaetprodukten ernaehren!" "Wovon ich mich ernaehre, ist doch wohl meine Sache. Ich achte jedenfalls darauf, dass ich nicht mehr als ein Viertel aus der Kasse herausnehme. Und ich weiss genau, woran es liegt, dass sie fast immer leer ist. Du verbrauchst mindestens die Haelfte des Geldes fuer deine Zigaretten und Suessigkeiten." Zwischen den beiden hatte es seit Tagen kleinere Reibereien gegeben. Jetzt schien der Streit zu eskalieren. Ich schaute zu Eric hoch. Er schien in den Anblick dreier Fahnenstangen vertieft, die im Wind periodisch klackten. So ploetzlich wie er begonnen hatte, hoerte der Graupelschauer wieder auf. Wir standen frustriert und halbnass im Wind, waehrend der Himmel sich aufhellte. "Ich weiss nicht, warum du hier immer Unfrieden verbreitest", sagte Jochen. "Tatsache ist doch, dass ihr euch an uns drangehaengt habt. Ich war von Anfang an nicht begeistert, aber Eric ist ja so verliebt in seine Petra ..." Ein Frontalangriff. "Das war deutlich", sagte ich. "Eric, du solltest dich dazu jetzt endlich mal aeussern. Jochen benimmt sich seit Tagen total unmoeglich, und du schweigst und gibst ihm das Gefuehl, voll hinter ihm zu stehen." Ein gruener Ford Capri fuhr auf den Platz und kam unweit unseres Standorts zum Stehen. Der Fahrer stieg aus und ging auf das Postamt zu. Eric ueberlegte noch, was ich sagen sollte. Offenbar wollte er nicht gegen ihn Position beziehen. "Sein Vorschlag zurueckzufahren, ist doch vernuenftig", sagte er. "Euch hat es vorgestern schon gereicht, als unsere Zelte so nass geworden sind." Der Capri-Fahrer erkannte, dass er keine Briefmarke bekommen wuerde. Trotzdem blieb er eine Zeitlang sinnend vor dem Postamt stehen. "Bitte lenke nicht vom Thema ab", sagte ich und hatte dabei das Gefuehl, mich wie meine Mutter anzuhoeren. "Es geht nicht nur um die Haushaltskasse, sondern darum, ob wir hier erwuenscht sind oder nicht. Wir sind schliesslich nicht von euch abhaengig und koennten auch allein weiterfahren. Zu zweit koennten wir trampen und Land und Leute viel besser kennenlernen. Ausserdem waeren wir nicht auf die lahmen Busse angewiesen, von denen man nie weiss, wann und ob sie ueberhaupt fahren." Als haette der Schotte mich verstanden, setzte er sich ploetzlich in Bewegung. "Hoer auf", sagte Eric. "Wir haben die Reise zu viert begonnen und wollen sie auch zu viert zu Ende bringen. Ich finde diesen Streit laecherlich. Jochen hat doch gar nicht von Trennung geredet. Und ich selber moechte das auf gar keinen Fall. Eher wuerde ich heimfahren." Nachdem er sich's im warmen Auto bequem gemacht hatte, fuhr der Mann davon. Jochen grummelte noch. Iris und ich unterhielten sich leise. Es war ein Riss in der Gruppe, doch die Reise war fuers erste gerettet. Wir kehrten nach Edinburgh zurueck, auf einen offiziellen Campingplatz, um dort auszuspannen und - seit Tagen das erste Mal - zu duschen. Wenn man von Nordwesten kommt, nimmt sich der Suedosten Schottlands geradezu lieblich, warm, ueppig und farbenpraechtig aus. Edinburgh, das 'Athen des Nordens', ist wie viele englische Staedte reich an architektonischen Sehenswuerdigkeiten, Schloessern in weiten gepflegten Parks, holzverkleideten uralten Shops in der Innenstadt, und labyrinthischen Siedlungen, die an sanft ansteigende Huegel gebaut sind und in denen sich Fachwerk- und Felssteinhaeuser abwechseln. Obwohl wir durch alle Gassen streiften, hatten wir fuer die Architekur wenig Sinn. Wir kauften nichts, ausser Lebensmitteln in Supermaerkten, erholten uns von den anstrengenden Highlands und sammelten Kraft fuer das Londoner Nachtleben. Als wir genug vom betulichen Edinburgh hatten, packten wir ein und fuhren mit British Rail nach London. Die englische Bahngesellschaft steckt tief in den roten Zahlen und hat kein Geld fuer Modernisierung und schnelle Verbindungen. Wir fuhren in langsamen, verlebten Zuegen nordenglische Staedte an, Newcastle, Darlington, Leeds, Sheffield, Birmingham, Namen, mit denen mich heute wie damals wenig verbindet. In hoelzernen Waggons schaukelten wir durch unzaehlige Wiesen, ueber Fluesse und Autobahnen, waehrend die Beats in unseren Walkmen bedrohlich wummerten. Endlich, die Fahrt wollte kein Ende nehmen, erreichten wir die aeusseren Raender der Metropole. Wir fuhren durch oede Brachen und Industrieruinen, die vom Niedergang der britischen Industrie zeugen - hervorgerufen durch das jahrelang ueberbewertete Pfund - und spaeter durch zahllose Vororte. London ist bei weitem die groesste Stadt Englands, das Herz dieses Landes, in dem seine Groesse und alle seine Sonderheiten sich konzentrieren. Wir suchten die Heimstatt, die Elixiere der Popmusik, die ausser von Schwarzen am meisten von den britischen Kelten profitiert hat. Die beiden Campingplaetze in Inner-London sind teuer und im Sommer gnadenlos ueberfuellt. Wir hatten vom Chelsea Sleep-In gehoert, wo man fuer ein halbes Pfund ohne Zwaenge und Gaengeleien uebernachten konnte - und ohne Geschlechtertrennung. Nach der Ankunft in Paddington, nach dem Gewuehl und dem Chaos, da wir die richtige U-Bahn nicht fanden und zwei Stationen in die falsche Richtung fuhren, erreichten wir die Herberge fast genau 36 Stunden nach unserer Abfahrt von Edinburgh. Das Sleep-In stellte sich als ehemaliges Lagergebaeude heraus, in dem man provisorisch drei Schlafsaele abgetrennt und mit je 20 Etagenpritschen ausgestattet hatte. Die Betten waren eigentlich fuer zwei Leute zu schmal, trotzdem kletterte ich zu Eric hinunter. Ich konnte nicht schlafen, die vielen Geraeusche in dem dunklen Raum irritierten mich. Von rechts hoerte man Stoehnen, als wuerde jemand von Kraempfen geschuettelt. Nur ein enthusiastischer Beischlaf. Bis nach drei war ein staendiges Kommen und Gehen, und einige Gaeste kamen erst in der Daemmerung von naechtlichen Streifzuegen zurueck. Am naechsten Tag kauften wir uns ein Gruppenticket fuer den Londoner Nahverkehr und fuhren mit U-Bahnen und Doppeldeckern mehrmals quer durch die Stadt, an allen Sehenswuerdigkeiten vorbei, die uns vom Englischunterricht gelaeufig waren, bis zu Endstationen in bedrueckenden Schlafstaedten, vor denen wir schnellstmoeglich in die City zurueck fluechteten. Spaeter konzentrierte sich unser Interesse (wie das der meisten Touristen) auf ein Gebiet, das von Oxford Circus (im Norden), Westminster (im Sueden), Hyde Park (im Westen) und St. Pauls (im Osten) begrenzt wird. Wir flanierten durch Geschaeftsstrassen mit aufwendig restaurierten Fassaden, schoben uns durchs Gewuehl von Soho, wo sich Laeden mit teurem Troedel und Staende mit billigem Nippes abwechseln, und streunten durch vergessene Hinterhoefe, in denen eine Art mittelalterliches London lebendig ist. Wir setzten uns zu den Tauben und Jugendlichen am Trafalgar Square, wo wir uns kuessten, waehrend Jochen ueber den Sinn unserer Reise meditierte, seine Notizzettel hervorholte und ein Gedicht schrieb. Er fand die alten klassizistischen Gemaeuer, denen die Architekten Erhabenheit hatten mitgeben wollen und die in groesserer Entfernung um den Platz herumstehen, nicht gerade inspirierend. Doch das Leben pulsierte, Gewusel und Laerm waren ihm Anregung genug. Er trug die kleine Tasche mit seinem Reisetagebuch die ganze Zeit bei sich. Leider ging sie auf dem Rueckflug verloren, so dass seine Notizen, Gedanken und Eindruecke vermutlich niemals gelesen wurden. Abends besuchten wir ein Punk-Konzert im Kensington Turnpike, dem wohl beruehmtesten unter jenen Clubs, die die englische Szene gross gemacht haben. Es gibt ihn noch heute in Covent Garden, in einem riesigen mit reichlich Elektrik hochgeruesteten Weltkriegsbunker, aussen und innen bunt angestrichen und in hellem Licht erstrahlend. Ich haette mir den Stempel auf dem Handruecken gern eintaetowieren lassen. Als wir die Treppe hinunterstiegen, spielten die Clash ihre punkigen Balladen. Es war unser schoenster Tag in London; wegen dieser Vibrations waren wir hier, Musiker und Publikum bildeten eine ekstatische Einheit. Am Ende, als die meisten erschoepft in den Sitzen hingen, hoerten wir "London Burning". Sein Rhythmus begleitete uns in die regennassen Strassen und brachte noch den Nachtbus zum Schwingen. - Am sechsten Tag in London waren wir abends mit der U-Bahn zwischen Knightsbridge und Kings Cross unterwegs, als mein Leben in einer Katastrophe endete. Wir kamen gerade aus einer Diskothek in Mayfair, wo es uns nicht gefallen hatte. Die Athmosphaere stimmte nicht. Vielleicht war halb elf einfach zu frueh. Ich hatte seit 2 Tagen einen Durchhaenger, dem Eric ziemlich hilflos gegenueber stand. Schlechte Laune, Einsilbigkeit, alles, was dazu gehoert. Am U-Bahn Schacht mussten wir an einer Traube junger Maenner vorbei, die sich nach mir und Iris den Hals verdrehten. Soviel maennliche Bewunderung kam mir nicht ungelegen. Sie belebte mich, putschte mich auf. Im Nachhinein meine ich, dass es schon laenger in mir gaerte und dass schwerwiegende Veraenderungen vorgingen, die ich bewusst gar nicht so wahrnahm. Bei meinem Aussehen war ich gewohnt, staendig von irgendwelchen Typen bewundert oder gar angebaggert zu werden. Seit ich Eric kannte, war verschaerftes Flirten natuerlich tabu. Irgendwann muss wohl die Frage aus meinem Unterleib in mein Bewusstsein gekrochen sein, ob das die naechsten 20 Jahre so weitergehen sollte, und ob ich mir durch unsere enge Verbindung nicht ein paar anregende Erlebnisse entgehen liess. Ich fand ihn zwar lieb und sexy und wollte mit ihm zusammenbleiben, kam jedoch zu der Ueberzeugung, dass ich nebenher gern den ein oder anderen Jungen ausprobieren wuerde. In der U-Bahn setzte ich mich ostentativ auf den freien Platz zwei jungen Englaendern gegenueber, die mich mit sicherem Instinkt als Touristin erkannten und schnell in ein Gespraech verwickelten. In dem ruckelnden Wagen war es um diese Uhrzeit noch relativ voll, so dass die anderen stehen mussten und nur an herabhaengenden schmuddeligen Kunststoffgriffen Halt fanden. "Where are you from?" - "Germany. " - "Oh, Germany. I have been to Germany before." Und damit war die uebliche Smalltalk-Runde unter Jugendlichen eroeffnet, die sich in fremden Laendern begegnen. Der eine war in Muenchen gewesen, der andere, ein echter Beau, mit einem Wust blonder Locken auf dem Kopf, in Bremen. Ich reagierte total auf ihn. Meine Augen fassten ihn an, waehrend meine Schultern sich strafften. Es war, als ob mein ganzes Geschlecht von ihm angezogen wurde. "Oh, Bremen", sagte ich. "That is near the place where we live." "We are from London originally, but now we study languages in Spain." - "Really. Spain." - "Yes, in Madrid. We are here just for a few days to meet old friends." Und dann gab er geschickt einen Sermon ueber Spanien von sich, wobei er mir tief in die Augen blickte, und ich antwortete mit entsprechenden Berichten ueber mein Leben als Schuelerin. Als wir ausstiegen, schlossen sich die Englaender an. Sie stellten sich als Fred und Sean vor und schuettelten freudestrahlend unsere Haende. Eric waere sie sicher am liebsten los gewesen, aber was sollte er machen? In der Stimmung, in der ich mich befand, haette ich solche Unfreundlichkeiten zum Anlass genommen, mit ihnen allein weiter zu ziehen. Ausserdem fand Jochen sie anscheinend auch ganz nett, fand es spannend, mal mit Ortskundigen unterwegs zu sein. Wir zogen durch verschiedene Pubs und Lokale. Fred und Sean zeigten uns ein paar echte Londoner Geheimtips. Sean kuemmerte sich intensiv um mich. Wir gierten danach, zusammenzusein. Ich spuerte, Eric stand kurz davor, mich zur Rede zu stellen; aber ich tat, als bemerke ich nichts. Spaeter trafen wir unten an der Themse, wo riesige Scheinwerfer die Promenade bestrahlen, einen Freund von Fred. Er besass einen VW Bus und ueberredete uns, zu einer Privataddresse in Nordlondon mitzufahren, wo jemand eine Party steigen liess. Ich weiss nicht, wieviel er getrunken hatte, jedenfalls raste er mit uns durch die naechtlichen Strassen, als wolle er ein Formel1 Rennen gewinnen. Durch die milchigen Seitenscheiben im hinteren Teil des Bullis sah ich vorbeihuschende Schatten wie in einer Geisterbahn. Innen roch es nach feuchten Decken und Matten. Eric hatte sich zwischen Fred und den Fahrer gezwaengt, waehrend ich es mir mit Sean ganz hinten auf dem Ruecksitz bequem gemacht hatte. Ich hoere noch die Westcoast-Musik aus ueberdrehten Lautsprechern droehnen, als wir auf die Stadtautobahn einbiegen und der Motor entfesselt aufheult. An der Ausfahrt nach Redbridge passiert es, der Junge glaubt, er kann seine 100 Meilen hier halten. Er verliert die Kontrolle und setzt den Wagen frontal gegen einen Brueckenpfeiler. Eine Rueckenlehne schlaegt wie ein Stahlhammer gegen meine Schulter. Dann ist es aus, vorbei. Ich bin halb bewusst- und wahrnehmungslos vor Schock, doch unverletzt, und kann mich seitlich aus der Schiebetuer des Wagens winden. Von Schock und Schmerzen betaeubt quaele ich mich nach vorn, um das Auto herum, und sehe das Ausmass der Zerstoerung und Erics blutigen Kopf wie in einem Panoptikum leblos hinter geplatztem Glas haengen. Nicht angeschnallt ist er mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe geknallt. Er ist tot - ich weiss es sofort.