GAUSS ODER EIN BETRAECHTLICHES MASS AN AUFKLAERUNG "Gauss wurde", begann der Erzaehler, "am 30.4.1776, also vor gut 100 Jahren, in Braunschwieg geboren. Waehrend andere Nationen sich intellektuell vorbereiteten, eine absolutistische Fuerstenherrschaft abzustreifen, lebten die Braunschweiger beschaulich, und in nicht allzu weiter Ferne von ihrem aufgeklaerten Herzog. Nach heutigen Masstaeben waren die Menschen arm, sie wohnten beengt und die meisten mussten fuer ihr Auskommen schwer arbeiten. Viele wurden frueh von lebensbedrohlichen Krankheiten dahingerafft. Heutzutage kann einer, der in den 40ern steht, ohne weiteres noch mit 20 oder 30 Jaehrchen rechnen, damals aber war eine derartige Ungleichheit im Leben und Sterben der Menschen, dass man froh sein musste, wenn man die 40 erreichte. Dem Vater von Gauss war die erste Frau weggestorben und hatte ihn mit einem Kleinkind zurueckgelassen. Er nahm dann die zweite, Dorothea Benze, die als Magd im Hause eines Klienten arbeitete. 2 Jahre aelter als er und ueber 30, galt sie fuer ein 'spaetes Maedchen', das sich schon auf ein Leben in ihrem Dienstberuf eingerichtet und kaum damit gerechnet hatte, noch unter die Haube zu kommen. Ein Jahr spaeter wurde Gauss geboren, und sie hatte neben ihm, der ihr einziges Kind blieb, noch dessen um 3 Jahre aelteren Stiefbruder zu versorgen. Das Stadthaus, in dem er Kindheit und Jugend verbrachte, wurde von 11(!) Parteien bewohnt, und war doch nur ein trostloser verwinkelter Fachwerksbau mit kleinen Butzenscheiben und steilansteigendem Dach, in dem die meisten Familien mit winzigen Zimmerchen und schraegen Waenden vorlieb nehmen mussten. Das Holz bog sich derart unter der Last der Pfannen, dass man meinen konnte, gleich werde die Zimmerdecke einstuerzen. Nicht selten, und besonders in stuermischen oder regenreichen Naechten, waehrend die uebrigen Bewohner fest schliefen, lag Gauss wach und lauschte auf die inneren und aeusseren Geraeusche seines Heimes. Dann hoerte er schwere Naesse vom Dach auf Holz oder Steine tropfen, und kratzende Geraeusche ueber den Balken, von Mardern, die sich ein Nest dort gebaut hatten, und dazu das Knirschen der ueberdehnten Balken. Ein verwegener Architekt hatte aus dem Schiff des Haupthauses mehrere grosse Erker herausgeschlagen, die, ohne von Saeulen oder Halterungen gestuetzt zu werden, wie Teile einer ehemals maechtigen Bruecke freischwebend in der Luft hingen. Vor dem Haus verlief ein breiter, ungepflasterter Fahrweg, in den Fuhrwerke tiefe Rinnen eingegraben hatten und der sich bei Naesse in einen uebelriechenden Morast verwandelte. Gluecklicherweise wohnte die Familie nach hinten heraus, wo sie der Blick auf den Garten und eine nahegelegene Kirche fuer die laestigen Gerueche teilweise entschaedigte. Manchmal stand der Junge am Fenster und fixierte scheinbar gedankenverloren einen fernen Punkt am Himmel. Dabei konzentrierte er sich auf die Bewaeltigung einer selbst gestellten mathematischen Aufgabe; und nur wenn er sie perfekt geloest hatte, nahm sein Gesicht einen zufriedenen oder entspannten Ausdruck an. Es kam aber oefters vor, dass ihm die Loesung erst nach Tagen oder gar Wochen des Gruebelns einfiel. Dann wurden diese Sitzungen zu einer Qual, die auch am Schreibtisch nicht enden wollte, und der er sich freiwillig unterzog, wie ein Priester aus festem inneren Glauben einer Marter, und er gab nicht eher nach, als bis er das Resultat vollstaendig zu Papier gebracht hatte. Wenn Gauss von der Schule nach Hause kam, bedrueckten ihn Armut und Enge der Verhaeltnisse - besonders seitdem er auf das Gymnasium ging, wo die meisten Mitschueler aus begueterten Familien oder dem Kleinadel stammten. Aufgrund des sozialen Abstandes fand er kaum echte Freunde dort, doch verdarb er es sich auch mit niemand, und die wenigen, zu denen er Vertrauen fasste, wurden seine treue Kameraden. Die Schule lag auf der entgegengesetzten Seite der Stadt, und allein schon der lange Weg machte es schwierig, sich nachmittags noch mit Klassenkameraden zu treffen. Den langen Schulweg nahm er gern in Kauf. Jeden Tag aufs neue fuehrte er ihn aus seinem heruntergekommenen Stadtteil, wie aus einem engen Kelch, in eine weite Welt der Wunder, in der die Menschen scheinbar gluecklich und ohne materielle Beschraenkungen lebten. Er hoffte, eines Tages auch auf dieser Seite des Lebens zu stehen und waere ohne weiteres bereit gewesen, dafuer moralische und politische Ueberzeugungen beiseite zu stellen. Gauss hatte die Moeglichkeit, die hoehere Schule zu besuchen, einem Stipendium des Herzogs zu verdanken, dem er sich dadurch untertan und verpflichtet fuehlte. Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig liebte Kunst und Wissenschaft, wenngleich mehr wie ein Dilettant - entschuldigen Sie, wenn ich so unverbraemt spreche - ", flocht der Alte hier in seinen Vortrag ein, "denn aus Verstand, und hatte ihn eines Tages zu sich bestellt, um sich hoechstselbst von dem kleinen Genie zu ueberzeugen. Das war dann eine Aufregung im Hause Gauss, als man den Jungen fuer die Audienz zurecht machte. Und Gauss bekam ganz grosse Augen, als er in das herzoegliche Arbeitszimmer trat; so einen riesigen Raum hatte er noch nie gesehen. Die Guete des Fuersten hat ihn von Anfang an fuer sich eingenommen. Er hat zeitlebens geglaubt, dass er ohne jenes Stipendium von der mathematischen Forschung gaenzlich abgehalten worden waere und war dem Herzog von Stund an fuer die Gewaehrung dieser Gunst ein dankbarer Untertan. Wenn er von der Schule kam, stroemten ihm bereits im Treppenhaus aus allen Stockwerken Essensgerueche entgegen. Er setzte sich dann gleich mit Mutter und Stiefbruder in der Kueche zum Mittag. Der Vater war meist noch auf Arbeit, was Gauss indessen ganz recht war. Alle Zimmer der Wohnung waren winzig, keines groesser als 12 Quadratmeter. Neben der Kueche lagen zwei Schlafzimmer und ein fensterloser Raum, der als gute Stube fungierte, und in dem sich die Soehne nur auf Zehenspitzen bewegten. Als Kind hatte Gauss abends gern mit der strickenden Mutter auf dem Sofa gesessen und ihr zugehoert, waehrend sie von der eigenen Kindheit auf dem Bauernhof und von Bekannten und Verwandten aus ihrem Heimatdorf erzaehlte, einem Weiler ungefaehr 20 Kilometer ausserhalb der Stadt. Manchmal packte sie ihre alte Reisetasche und fuhr ein paar Tage dorthin. Bevor er auf das Gymnasium wechselte, hatte Gauss sie oft begleitet und dort mit dem kinderlosen Onkel Benze gespielt, der ihm allerlei handwerkliche Tricks beibrachte und den er fuer ausnehmend klug und beschlagen hielt. Wenn man aelter wird, raetselt man, woher gewisse Charakter- oder sonstige Eigenschaften stammen, die einen von der Mehrheit unterscheiden, und Gauss meinte im spaeteren Leben, dass er seine Intelligenz nur von der Seite Onkel Benzes geerbt haben konnte. Der eigene Vater war in seinen Augen ein ueber alle Massen durchschnittlicher, ja gewoehnlicher Mensch. Die Mutter wuerde von der Kartoffelsuppe einschenken und fragen, wie es ihm in der Schule ergangen war. Er wuerde ausfuehrlich Bericht erstatten, weil er wusste, dass sie stolz auf ihn war und an seiner schulischen Karriere regen Anteil nahm. Sie war ueberhaupt der einzige Mensch, der ihm auch die einfachsten Fragen stellen konnte, ohne dass er ungeduldig oder gereizt reagierte. Meist war nur Positives zu erzaehlen. Gauss war sich bewusst, auf welch duennem Eis seine gegenwaertigen Privilegien bauten, und benahm sich alle Zeit mustergueltig. Neben den mathematischen Studien konzentrierte er seine Energie auf Griechisch und Latein, die damals als Eckpfeiler der Bildung galten. Dann wuerde sie fragen, was er fuer den Rest des Tages vorhabe. Ob er sich mit seinem alten Freund aus der Elementarschule treffen wollte. Der frage oefter nach ihm, wenn er ihr begegne, und er wusste, seine Mutter machte sich Sorgen, weil er zu wenig Freunde hatte. Aber da konnte sie ganz beruhigt sein. Er war kein maulfauler Eigenbroedler, den die Anderen nicht leiden konnten. Es war nur eben so, wenn die Zeit gekommen war, zog er sich gern mit seinen Buechern zurueck. Diese verschaffte er sich entweder ueber einen Vertrauenslehrer aus der Schulbibliothek, oder er kaufte sie selbst (in seinem Stipendium war ein spezieller Betrag zur Anschaffung von Literatur reserviert). Oft sass er abends ueber den roemischen Klassikern und noch haeufiger ueber denen der Mathematik. Am liebsten las er in Newtons Werken. Sie schienen ihm ganz meisterhaft und perfekt, so anders als die moderneren Schriften der Franzosen. Vorher aber wollte er sich mit dem Freund treffen; dann war die Mutter beruhigt ... "Ach uebrigens", fiel ihm jetzt ein, "Professor Zimmermann hat gesagt, dass wir bald eine Reise machen." "Wohin denn?" "Die ganze Klasse soll fuer eine Woche in den Harz fahren. Wir werden in einem Gasthof uebernachten, der speziell fuer den Aufenthalt von Schulklassen umgebaut worden ist. Die Kosten von 19 Talern muss allerdings jeder selber tragen ... " Er waere nicht traurig gewesen, wenn die Eltern ihm mit dem Hinweis, das Geld nicht aufbringen zu koennen, die Teilnahme an der Reise versagt haetten. Er haette dann zuhause all jene Buecher lesen koennen, fuer die er normalerweise keine Zeit fand, da er sich so viel mit den alten Sprachen beschaeftigen musste. Die Mutter machte ein nachdenkliches Gesicht. Das war viel Geld; seinem Vater wahrscheinlich zuviel. Trotzdem haette sie ihm die Teilnahme gern ermoeglicht. Auch Gauss schwieg nun. Er war ein huebscher Junge, mit gerader Nase, etwas zu schmalen Lippen und grossen leicht melancholischen Augen, die vortaeuschten, sie haetten bereits manches erlebt und gesehen, und die nur dann wirklich lebendig wurden, wenn er ueber wahrhaft interessante Themen sprach. Er hatte seine Schuluniform vor dem Essen abgestreift und in den Holzkasten gehaengt, der ihm als Schrank diente. Nun sass er in seiner Tageskluft da, einem Wams, das ihm die Mutter gestrickt, und abgetragenen Pantalons, nicht wie ein Oberschueler, sondern wie einer jener Strassenjungen, die sich zu Dutzenden im Viertel herumtrieben, wenn auch seine Augen vielleicht etwas sicherer und besonnener glaenzen mochten ... Man kommt nicht umhin festzustellen, dass der Stiefbruder bei dem ganzen Gespraech ziemlich unbeteiligt daneben gesessen hatte. Durch den fruehen Tod der eigenen Mutter fuehlte er sich vom Leben benachteiligt, besonders im Vergleich zu Gauss, dessen Mutter ihre ganze Liebe auf den leiblichen Sohn konzentrierte, waehrend sie dem Stiefsohn nur mit maessiger Freundlichkeit begegnete. Georg Gauss kam sich im Haus seines Vaters oft wie ein Fremder vor, da sich alle Aufmerksamkeit wie von selbst auf den juengeren Bruder richtete, der ihm, so dachte er manchmal, mit seinen Talenten die Luft abdrueckte. Die Situation waere vollends unertraeglich gewesen, wenn er aehnlichen Ehrgeiz besessen haette, doch war er einigermassen zufrieden, in die Fussstapfen seines Vaters zu treten, und nebenbei schnitzte er Holzfiguren. Als Gauss sich gerade vom Tisch erheben und in das Kaemmerchen zurueckziehen wollte, das er mit dem Bruder teilte, kam der Alte nach Hause, ein vierschroetiger, zupackender Mensch, sehr streng und oftmals grob im Verhalten gegen Frau und Kinder. Er verdiente in wechselnden Berufen, als Handels- oder Versicherungsassistent und spaeter als Gaertner und Haussschlachter, sein Geld. Allein, was immer er anpackte, und obwohl er fleissig und beharrlich arbeitete, kam er doch niemals zu Wohlstand. Was er am einen Tage einnahm, ging am naechsten fuer Miete, Kleider und Nahrungsmittel wieder hinaus. Einem Vater, den man meist, wenn ueberhaupt, nur spaetabends zu Gesicht bekam, vertraute Gauss nicht annaehernd wie der Mutter, die dem Sohn ueberdies haeufig signalisierte, wie ungluecklich sie mit ihrem Partner war. Jetzt aergerte er sich, nicht schon frueher vom Tisch aufgestanden zu sein. Die Mutter haette ihm das ohne weiteres erlaubt. Er riss sich zusammen und blieb gerade und aufrecht sitzen, in der Erwartung, dass man ihn hoffentlich bald entlassen werde. Stattdessen begann der Vater eine Unterhaltung, harmloses Geplaenkel zuerst - wie der Junge den Tag verbracht habe, welchen Lehrer er bevorzuge, was er nach dem Essen vorhabe, und so weiter - Gauss aber wusste schon, worauf es hinauslaufen wuerde und war innerlich auf der Hut. Solche Gespraeche mit dem Vater arteten allzu oft in Verhoere und strenge Zurechtweisungen aus. Er berichtete also alles noch einmal, diesmal knapper, und in weniger farbigen Bildern. Viele Details, die er seiner Mutter erzaehlt hatte, liess er weg, wusste er doch aus Erfahrung, je mehr er erzaehlte, desto groesser war die Gefahr, dass der muede, gereizte Mann irgendwo ein Haar in der Suppe fand. So auch heute. "Ich glaube, Bursche, du erzaehlst mir Kokolores", wurde er unfreundlich unterbrochen. "Alle Lehrer sind dir gleich lieb!? Das gibt es doch gar nicht! Eure Schule muesste ja das reinste Paradies sein! Ich verlange eine wahrheitsgetreue Darstellung, aber ein bisschen ploetzlich." "Lass den Jungen zufrieden. Er ist ganz abgekaempft von der Schule", mischte die Mutter sich ein. Wenn es um ihren Sohn ging, erwies sich die ruhige und sanftmuetige Frau, die sich ansonsten vieles gefallen liess, als standhaft und durchsetzungsstark, und nahm sich auch gegenueber dem Gatten nicht zurueck. "Ach was, abgekaempft. Wer schleppt denn seit 5 in der Frueh schwere Akten, waehrend Andere herumsitzen und auf die Tafel glotzen? Ich sage dir", wandte er sich wieder seinem Sohn zu, "du haettest besser daran getan, die Schule rechtzeitig zu beenden. Dann koenntest du mir bei meiner Arbeit helfen und wuerdest jetzt schon eigenes Geld verdienen." Solche Sprueche bekam Gauss fast jeden zweiten Tag von ihm zu hoeren. Er war aber mit seinen 16 Jahren bereits so gefestigt, dass man ihn damit schwerlich von seinem Weg abbringen konnte. Er haette es fuer unklug gehalten, dem Vater, der durch ein Veto den Besuch des Gymnasiums jederzeit beenden konnte, offen zu widersprechen, und dachte nur bei sich: "Der Alte ist nicht ganz bei Trost. Er behauptet zwar, mein Bestes im Sinn zu haben; ich glaube aber, er fuerchtet, ich koenne es einmal leichter haben als er? Ich verdiene doch Geld! Mein Stipendium ..." "Ach, das Stipendium," wischte der Vater den imaginaeren Einwand beiseite. "Du bist der Willkuer des Herzogs doch voellig ausgeliefert. Wenn es ihm einfaellt, oder wenn deine Leistungen nachlassen, kann er es dir jeden Tag entziehen. Und dann," fuegte er hinzu, "wird es sehr schwer fuer dich; denn du bist es nicht gewohnt, mit eigener Haende Arbeit Geld zu verdienen. Du hockst ja immer nur in deiner Gelehrtenstube ..." Jetzt verlor die Mutter ihre Geduld. Sie richtete sich auf, verschraenkte die muskuloesen Arme und wiederholte: "Ich sage dir noch mal, lass den Jungen in Ruhe. Du wirst ihn noch ganz vom Lernen abbringen." "Ja und wenn schon, das waere ganz gut so. Jetzt sieht er es natuerlich nicht ein, dass ich recht habe. So ist das immer mit der Jugend, sie will hoch hinaus, aber wenn er aelter geworden ist, wird er schon dahinter kommen, welche Beschwerlichkeiten er sich damit eingehandelt hat, und der Fall wird um so tiefer sein. Du aber solltest ihn nicht immerzu auf seinem falschen Weg bestaerken. Zumindest erwarte ich mehr Respekt gegenueber meinen Ansichten. Auch wenn ihr mir das nicht glauben wollt, liebe ich Euch alle drei gleichermassen. Mir liegt in allem, was ich sage, nur das Wohl meiner Kinder am Herzen." Die letzte Aeusserung erschien Gauss wie ein formales Lippenbekenntnis ohne innere Substanz. Ob der Vater ueberhaupt wusste, was Liebe ist? Er war in der Meinung ueber ihn gespalten; einerseits war er eine konstante Groesse in seinem Leben, auf die man sich weitgehend verlassen konnte; doch hatte er andererseits seinen Kindern noch nie gezeigt, was er fuer sie empfand. Meist stellte er unerfuellbare oder sinnlose Forderungen, war unbeherrscht und reagierte aggressiv auf jede Kritik. Gauss war zu jung, um zu wissen, dass zwischen Maennern und ihren Soehnen immer Schranken bestehen, die ein allzu enges Verhaeltnis verhindern. Bei der Vererbung von Eigenschaften, Interessen und Charaktermerkmalen ueberspringt die Natur oft die Generationen und reicht sie eher an die Enkel als an die Soehne weiter. "Gut, dass dein Bruder nicht in dieselbe Richtung geht", kam es jetzt von seinem Vater, doch dieser Satz zeugte nur von Hilflosigkeit gegenueber der Entwicklung, die sein juengster Sohn nahm. Bald darauf entliess er die Jungen und nahm den Rest der Mahlzeit allein und schweigend zu sich. "Alles in allem", schloss der Erzaehler diesen Teil seines Berichtes ab, "hat Gauss eine eher durchwachsene Kindheit gehabt, trotz der Anerkennung, die er auf der Schule fand. Die Strenge und Unduldsamkeit des Vaters haben ihn frueh die wohlfeile Verwendung des Opportunismus gelehrt. Dieser hat zwar seine Karriere befoerdert, die spaeteren Lebenstragoedien aber nicht abfedern koennen. - Soweit er seinem Vater zu entkommen vermochte, war Gauss' Jugend halbwegs gluecklich. Mutter und Sohn bildeten eine verschworene Gemeinschaft, mit dem Ziel, ihm den Aufstieg in eine hoehere soziale Schicht zu ermoeglichen. Gauss selbst sah dies als willkommenen Nebeneffekt seiner leidenschaftlichen und intensiven geistigen Taetigkeit. Fuer die Mutter, die keine hoehere Schulbildung besass und noch weniger Zugang zu seinen Forschungen, war es der Hauptaspekt. Im Grunde haetten ihm auch beengtere Verhaeltnisse als die gereicht, in die er aufsteigen wuerde, wenn man ihm nur einige Stunden pro Tag garantiert haette, an denen er frei seine Studien betreiben konnte. Als Arbeiter oder Handwerker haette er diese Garantie nicht gehabt; darum war es unbedingt erforderlich, die Reifepruefung abzulegen. Komplizierte mathematische Zusammenhaenge zu erkennen machte ihn uebrigens niemals vollstaendig gluecklich, da hinter der Qual einer geloesten Aufgabe schon die naechste wartete. Gauss war wie ein Junkie, der jeden Tag aufs neue schweren geistigen Stoff benoetigte, und jedesmal veraergert, ja empoert, wenn man ihn aus seinem Rausch riss. Dass er auch ein Familienmensch war, der Vertraute um sich braucht, und den ein einsames Studierzimmer allein auf Dauer nicht gluecklich macht, bemerkte er erst Jahre spaeter, waehrend des Studiums in Goettingen, wo er sich innerlich von der Mutter abnabelte, ohne sofort einen gleichwertigen Ersatz zu finden. Doch ich sollte nicht so weit vorgreifen", ermahnte sich der Erzaehler. "Es ist noch ein Unfall zu schildern, der fuer seine Entwicklung von grosser Bedeutung wurde. Die Mutter trug Sorge, dass er an einigen schulischen Veranstaltungen teilnehmen konnte, zu denen eigentlich das Geld fehlte. So musste er auch nicht zu Hause bleiben, als die Klasse im historischen Sommer des Jahres 1793 in den Harz aufbrach, als Robespierre eben die Girondisten verhaften und hinrichten liess. Der Klassenlehrer Zimmermann, der Mathematik und Physik unterrichtete und den Jungen besonders unter seine Fittiche genommen hatte, bat eines die Mutter zu sich in die Sprechstunde. "Ich moechte ueber die bevorstehende Klassenfahrt mit Ihnen reden", begann er, "bei der ein Kollege und ich die Sekunda begleiten werden. Ich weiss, die Kosten von fast 19 Talern lassen sich durch das Stipendium nicht decken. Trotzdem sollten Sie und ihr Mann", die letzten Worte kamen zoegernd, er kannte des Vaters negative Einstellung, "ihm diese Reise nicht versagen. Denn sie wird ein wahres Erlebnis sein, und die Erinnerung daran und die Eindruecke werden Ihren Sohn fuer immer begleiten." Er war ein rechter Wanderfreund und schwaermte fuer die Schoenheit der Natur, nicht nur fuer die ihrer Gesetze, und ihm war sehr daran gelegen, seinen Lieblingsschueler dabeizuhaben. Auf einen Hinweis des Grundschullehrers hatte er Gauss Jahre vorher zum Probeunterricht am Gymnasium zugelassen und dabei die grosse Begabung unzweifelhaft erkannt. Er setzte alles daran, ihm den Weg zu ebnen und nutzte den Kontakt zu einem der fuerstlichen Sekretaere, damit Gauss dem Herzog vorgestellt wurde. So war es letztlich Zimmermann, dem der Junge sein Stipendium zu verdanken hatte. Genies beduerfen uneigennuetziger Charaktere, um zur vollen Geltung zu kommen. Nur wenige dieser seltenen Blumen vermoegen sich im Verborgenen zu entfalten, und Gauss hat in jedem Stadium seiner Entwicklung mehrere solcher Foerderer gehabt. Die Mutter wusste natuerlich, wie sehr der Lehrer ihrem Sohn gewogen war und nahm kein Blatt vor den Mund: "Ich wuerde ihm die Reise gern gestatten, doch fehlen unserer Familie dafuer die Geldmittel. 4 oder 5 Taler, ja, die koennten wir aufbringen, aber so eine weite Reise, so ein langer Aufenthalt sind jenseits aller Moeglichkeiten." "Das ist zwar bedauerlich", meinte Zimmermann ruhig, "so etwas in der Art habe ich mir aber schon gedacht. Darum ueberlege ich, ob man den Herzog nicht um einen Beitrag zu den Reisekosten angeht. Ich denke, wir koennten ihn ueberzeugen, falls Sie sich bereit erklaeren, selbst einen kleinen Betrag beizusteuern, den er nur aufstocken muesste." So kam es, dass Gauss auf hoestherzogliche Verfuegung, und im Gegensatz zu zweien seiner Mitschuelern, an der Klassenfahrt in den Harz teilnehmen konnte, eine Reise, die fuer sein ganzes spaeteres Leben von groesster Bedeutung war. Nicht nur, dass sie sein Interesse an der Geometrie gekruemmter Flaechen weckte, wo er sich bisher nur mit der ebenen Geometrie beschaeftigt hatte, sie wuerde ihn auch vor seinem spaeteren Untergang bewahrt haben, wenn er das Menetekel ernst genommen haette. Im Gefolge der Umwaelzungen in Frankreich herrschte auch am Braunschweiger Gymnasium eine Athmosphaere des Aufbruchs. Einige Schueler hatten offen ihre Sympathie fuer den Volksaufstand bekundet, und ein solcher Ausflug passte zu dieser Stimmung. Schon waehrend der Hinfahrt in mehreren Pferdekutschen, die zwei Tage in Anspruch nahm und zuletzt ueber wenig erschlossenes bewaldetes Gelaende fuehrte, aber noch intensiver waehrend der Wanderungen, diskutierte man den Sturz des Koenigtums und die Ideen der Freiheit. Im allgemeinen verstaerken solche Gedanken die Aufnahmefaehigkeit fuer das Schoene und Ergreifende einer einsamen Waldlandschaft, doch wenn sie allzu hitzig gefuehrt werden, lenken sie uns von der unmittelbaren Wirklichkeit ab und verdraengen die herrlichsten Sinneseindruecke, die nicht nur auf Ferienreisen so massgeblich fuer die Erholung des Geistes sind. So ist es nicht nur in der Politik, sondern mit allen gluehend verfochtenen Meinungen, sogar den mathematischen, die durchaus nicht frei von Emotionen sind. Ein kurzer leidenschaftlicher Disput ueber die Grundlagen der Aesthetik, und wir nehmen die Schoenheit der Sonne nicht mehr wahr, die ueber unseren Koepfen aus einem blauen Himmel strahlt. Und manch einer betrachtet die Abstraktionen des Denkens, die doch fuer Irrtuemer so anfaellig sind, als das einzig selig machende Elexier des Lebens oder gar der Ewigkeit. Dabei war allein der Ort Hahnenklee - Ausgangspunkt ihrer Wanderungen - fuer die Stadtkinder eine besondere Erfahrung. In einem schmalen Talkessel schmiegten sich ein Dutzend verkommener Fachwerkhaeuser an Fels und Urwalddickicht. Der Gasthof, in dem sie uebernachteten, ein Knotenpunkt des aufkommenden Fremdenverkehrs, war allerdings erst kuerzlich hergerichtet worden. Die Jungen wurden fruehmorgens, noch vor dem ersten Hahnenschrei, von ihren beiden Lehrern geweckt, und standen eine halbe Stunde spaeter, wenn eben der Tag graute, Abmarsch bereit, in der Gaststube. Alle Schlafmuedigkeit war da schon von ihnen abgefallen und sie freuten sich unbaendig auf die bevorstehenden Abenteuer. Zimmermann, den 60 naeher als den 50, erfuhr bei diesen Wanderungen die Grenze seiner Leistungsfaehigkeit (was er indessen niemals oeffentlich eingeraeumt haette) und bekam die ueberlegene koerperliche Spannkraft der Jugend vorgefuehrt. Und auch auf dem Gebiet der Ideen musste er sich von einigen seiner Zoeglinge etwas vormachen lassen. Das stetige Fortschreiten der Beine ermutigte naemlich die jungen Leute, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Waehrend die Lehrer und die Mehrzahl der Gymnasiasten dafuer plaedierten, man solle erst einmal besonnen abwarten, was sich in Paris entwickeln werde, und ob die Ideen der Herren Rousseau und Voltaire sich in der Praxis als durchfuehrbar erwiesen, befuerworteten einige ihrer Mitschueler geradezu enthusiastisch die Befreiung von der Knechtschaft des Adels, und nahmen dies, bewusst oder unbewusst, als Moeglichkeit, sich zugleich gegen die Autoritaet der Professoren aufzulehnen, die - wennzwar aufklaererisch beeinflusst - doch im Solde der herzoeglichen Regierung standen. Einer der Jungen, er hiess Jens Haeussler, ging in seiner Kritik an den autoritaeren Verhaeltnissen besonders weit, es stoerte ihn ueberhuapt nicht, dass jeder mitbekam, wie er lautstark mit der europaeischen Aristokratie abrechnete und mit einem adeligen Altersgenossen heftig ueber die Veraenderungen in Frankreich debattierte und die dortige Entwicklung so ueber alle Massen lobte, dass man meinen konnte, er wuensche sich auch in deutschen Landen schnellstmoeglich einen Staatsstreich herbei. Die Lehrer, die sich allzu radikale Vortraege meist verbaten, waren empoert, als er sich nicht einfach zum Schweigen bringen liess, und zugleich fasziniert, wie vehement dieser Knabe, der doch kaum den Kinderschuhen entwachsen war, auf unausgegorenen Phantasien und zusammengereimten Meinungen beharrte. Schliesslich liessen sie ihn gewaehren, auch sie nahmen die Winde des Wandels wahr. "Freiheit und Gleichheit sind nicht nur moralische Kategorien der Philosophen", dozierte Haeussler, wobei sich die Worte wie siedende Lava von seinen Lippen ergossen, "sie muessen politisch erkaempft werden. Das ist normalerweise aber erst moeglich, wenn diejenige Bevoelkerungs-gruppe, die die Herrschaft in Haenden haelt, innerlich verfault und geschwaecht ist, und auf der anderen Seite ihr Gegenspieler - das gemeine Volk - durch furchtbare Repression und Ausbeutung quasi zum Aufstand getrieben wird. In Frankreich sind beide Bedingungen erfuellt gewesen, so dass die Franzosen sich gluecklich ihres Koenigtums entledigen haben." Bei den letzten Worten nahm das Gesicht des Kindes einen gluecklichen Ausdruck an - als koenne er selber von der franzoesischen Revolution profitieren - und seine Stimme wurde warm vor Sympathie mit den Aufruehrern, ohne dass er auch nur einen von ihnen persoenlich gekannt haette. "In Deutschland dagegen", und dabei verfinsterte sich seine Miene, "haben wir kein korruptes Zentralsystem, sondern eine gut funktionierende Kleinstaaterei, wo manche Fuersten ihre Untertanen bis aufs Hemd auspressen, waehrend andere sie nach eigenem Gusto leben lassen." "Was willst du also", fiel ihm sein Kontrahent ins Wort, "wir in Braunschweig koennen uns gluecklich schaetzen, einen aufgeklaerten Regenten zu haben. Ausserdem gibt es bei uns keine hungrigen Sansculotten und niemanden weit und breit, der ihm seine Herrschaft streitig macht. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Mehrheit, auch im Volke, an ihm festzuhalten wuenscht." "Dennoch wird er sich nicht mehr lange halten!" rief Haeussler unverfroren. Er war jung genug, sich gegen die scheinbare Determiniertheit der Zukunft aufzulehnen. "Auch in Deutschland weht der Wind den Herrschern ins Gesicht, und fuer aufgeklaerte Herzoege kann und wird es keine Ausnahmen geben." Zimmermann, der das Geplaenkel mit halbem Ohr verfolgte, aber so tat, als ob er nicht zuhoerte, zuckte bei diesen Worten innerlich zusammen. Wuerde das auch das Ende seiner gesicherten Position bedeuten? Aber nein, Lehrer wuerde man immer brauchen! Ausserdem war er im Grunde zu alt, um sich Sorgen um seinen Posten zu machen, den er in spaetestens 10 Jahren ohnehin einem Juengeren ueberlassen musste. Tatsaechlich konnte damals niemand voraussehen, dass sich aus dem Pariser Aufstand binnen kurzem ein Flaechenbrand entwickelte, der ueber ganz Europa hinweg toben und das Herzogtum Braunschweig in den Untergang reissen wuerde. Keine 5 Jahre spaeter, und der Landesfuerst lag gefallen unter der Erde, sein Land regiert von Jerome, dem Bruder Napoleons. "Dass die aeusseren Bedingungen bei uns nicht passen, heisst noch lange nicht, dass die Forderung nach Freiheit und Gleichheit nicht ebenso berechtigt waere. Von daher sind sie wieder moralische Kategorien, erstrebenswert, auch wenn sie sich im Moment nicht realisieren lassen. Schliesslich ist man nicht wirklich frei, solange man von einem aufgeklaerten Herrscher regiert wird." Der Junge liess sich nicht bremsen, das reizte jetzt auch die Wohlmeinenden unter seinen Mitschuelern. Er schien kein rechtes Mass zu kennen und kein Gespuer dafuer zu haben, wann es Zeit ist, den Mund zu halten. Ohne das es nach aussen offenbar wurde, spaltete er die Klasse in zwei Lager. Waehrend sich die Meisten innerlich ueber den Monolog aergerten und auf das Eingreifen der Lehrer warteten, sympathisierte eine Minderheit mit seiner Meinung und haette gern mehr davon gehoert. Nichts regt die Phantasie mancher Juenglinge mit finanziell gesichertem Hintergrund mehr an als tatsaechliche oder vermeintliche Revolutionen, in denen die Verhaeltnisse von Macht oder Moral umgedreht werden. Dann deklamierte Haeussler auswendig aus einer Rede, die Saint-Just unlaengst vor der franzoesischen Nationalversammlung gehalten hatte. "... und was ist unser Ziel? Die friedliche Liebe der Freiheit und Gleichheit, und die Herrschaft jener ewigen Gerechtigkeit, welche eingemeisselt ist nicht in Marmor oder Stein, sondern in die Herzen aller Menschen." Er hatte den Text aus einem Pamphlet, das irgendwie in seine Haende gelangt war und das er zuhause an einer geheimen Stelle versteckt hielt. Bei diesen Worten lief allen ein Schauer ueber den Ruecken - auch jenen, die auf der anderen Seite standen, und sie schritten kraftvoller aus, und mit jedem tiefen Atemzug, den sie taten, schienen die schwarzbewaldeten Berge um sie herum zu wachsen und naeher zu kommen und die Flamme der Hoffnung brannte heller, eine ontologische Hoffnung, die mehr verspricht, als alle Nationalversammlungen und Politiker jemals erfuellen koennen. Pubertaet ist wie ein drittes Mal geboren werden. Mit dem Schreien des Saeuglings ist nur die biologische Physis in der Welt, mit den ersten Gedanken des Kleinkindes ("Ich bin") tritt ein rudimentaeres Bewusstsein hinzu, doch erst in der Jugend schuettelt der Mensch alle Muedigkeit ab, wie ein Kueken die Reste der Eischale, und treibt zu neuen Ufern. Die Aktivitaeten der Ratio steigern sich zu einem wahren Crescendo und auch die Empfindungsfaehigkeit erreicht ihr absolutes Maximum. Die Eindruecke, die wir in der Jugend gewinnen, sind weitaus bestaendiger als alle Erinnerungen an Gluecksfaelle oder Schicksalsschlaege des spaeteren Lebens; und jene Tage des Wanderns, Fragens und Forderns blieben den Jungen fuer immer in ihrem Gedaechtnis. Zwar versuchte Zimmermann noch, die subversive Lawine zu daempfen. "Man sollte sich hueten", warnte er, "alles fuer bare Muenze zu nehmen, was ueber die Revolution im Umlauf ist. Ich bin sicher, ihr werdet im spaeteren Leben erfahren, dass sich die meisten Traeume nicht realisieren lassen, da sie auf falschen oder fehlenden Voraussetzungen beruhen." Und als er sah, wie Haeussler mit dem Kopf schuettelte: "Du glaubst mir nicht; aber warte erst einmal 10 Jahre ab, vielleicht aenderst du dann deine Meinung." Der Juengere setzte an, dass er nicht solange warten wolle. Zimmermann aber merkte selbst, wie abgedroschen seine Worte klangen und fuegte schnell hinzu: "Du denkst vielleicht, falls das Problem bei den Menschen liegt, dass sie flexibel genug sind, um sich zu aendern und sich anderen, womoeglich besseren Umstaenden anzupassen. Aber so einfach ist das nicht, bestimmte Aengste und Verhaltensweisen wirst du nie aus ihnen herausbekommen. Wer oben ist, will oben bleiben und ausserdem wie eine Mimose behandelt werden. Und wer unten ist, will sich unter seinesgleichen hervortun in knechtischem Gehorsam." Er sah, dass er so nicht an seinen Schuetzling herankam und fragte: "Nimm an, es liessen sich, aus welchen Gruenden auch immer, Liberte und Egalite nicht zugleich verwirklichen, und du haettest zwischen beiden die Wahl, welche wuerdest du fuer erstrebenswerter halten?" Der Junge war ihm nicht ausgesprochen unsympathisch, aber schwer zugaenglich, in der Schule durchaus zielstrebig, aber im Denken leichtsinniger als andere Schueler. Er wechselte oft seine Interessens-gebiete, und es war nicht vorherzusehen, was aus ihm werden wuerde. Eigentlich musste man sich keine Sorgen um ihn machen; der Vater war durch Exportgeschaefte zu Geld gekommen und die Familie stand finanziell sehr gut da. Im Moment hatte es dem Sohn das Politische angetan, naechstes Jahr wuerde er sich wahrscheinlich fuer etwas Anderes interessieren. Unberuehrt von den Hintergedanken des Lehrers erwog Haeussler einen Moment ernsthaft die Frage. Dann blickte er auf und sagte: "Ich wuerde gern frei sein. Frei leben, frei atmen, frei seine Meinung aeussern, das scheint mir das hoechste Ideal. Und doch, wenn Sie die Frage so stellen, ist mir die Egalite lieber. Denn Freiheit ohne Gleichheit, das koennte heissen, dass Einer den Anderen nach Belieben ausbeutet. Wenn aber alle gleich sind, kann es kein vollkommenes Unglueck unter den Menschen geben, und Zufriedenheit wird den Lauf der Dinge bestimmen. Letztendlich", fiel ihm dann ein, "gehoeren aber Freiheit und Gleichheit zusammen. Wenn man sie in ihren vollen Implikationen betrachtet, sind sie vielleicht sogar Synonyme. Denn in Wahrheit ist die Freiheit, anderen zu schaden, gar keine Freiheit!" Auf solche utopischen Gedankengaenge liess sich wenig erwidern und so konzentrierte man sich endlich auf das Wandern und die schoene Aussicht. Gauss uebrigens schwieg immer, wenn diese Reden gefuehrt wurden. Er gehoerte zu jener Minderheit von Schuelern, die sich von der allgemeinen Stimmung nicht anstecken liessen. Ausserdem war er viel zu sehr mit mathematischen Problemen beschaeftigt, um seinen Geist mit Politik zu belasten, und wusste genau, dass sich die Revolution nicht mit einem herzoeglichen Stipendium vertrug. Er beschaeftigte sich in Gedanken nicht halb so viel mit den franzoesischen Ereignissen wie seine Mitschueler, hoechstens mit ihren moeglichen negativen Auswirkungen, und auch die Denker und idealistischen Philosophen, die von Aufklaerung und Freiheit schwaermten, selbst wo sie sich mit den Grundlagen des Denkens, der Mathematik und der Logik befassten, liessen ihn kalt. Die jungen Eleven aus den Buerger- und Adelshaeusern konnten sich solche Gedanken leisten, dachte er geringschaetzig, wusste aber zugleich, dass dieses Vorurteil nicht ganz berechtigt war; denn der zweite herzoegliche Stipendiat in der Klasse stand auf Haeusslers Seite, und es schien ihn wenig zu stoeren, dass er damit sein Einkommen aufs Spiel setzte. Andererseits gab es genuegend wohlhabende Buergerkinder, die die Revolution ablehnten (jedenfalls in jener radikalen Form, wie Haeussler sie befuerwortete), weil sie ebenso wie Gauss ein ruhiges Leben unter einer aufgeklaerten Fuerstenherrschaft anstrebten, wo man ungestoert seinen Geschaeften nachgehen konnte. Er machte sich wenig Sorgen, der Aufstand koenne von Frankreich herueberschwappen. Dass in Brauschweig Unruhen losbrachen, war ein geradezu laecherlicher Gedanke, schliesslich hatte das Land einen relativ aufgeklaerten Fuersten, der seinen Buergern viele Freiheiten einraeumte; wohingegen das franzoesische Feudalsystem an seiner eigenen Unbeweglichkeit zu Fall gekommen war. Er lebte in einer kleinen Welt, in welcher bereits die Vorstellung, er werde in wenigen Jahren zum Studium in eine fremde Stadt ziehen, da die Lehrer seiner Vaterstadt ihm nichts mehr beizubringen hatten, seine Gedanken ueber Gebuehr beschaeftigten. Wenn er sich ueberhaupt um etwas sorgte, dann darum, sein ueberlegener Verstand reife nicht mehr mit derselben Geschwindigkeit wie bisher und seine Mitschueler schloessen auf dem Feld der Zahlenrechnung zu ihm auf. Ausgerechnet Haeusler trat neuerdings im mathematischen Unterricht durch kreative Einfaelle und Vorschlaege hervor, wie sie frueher nur von Gauss gekommen waren, so dass dieser manchmal das Gefuehl hatte, dass Haeussler ihn an Scharfsinn uebertraf; an Unternehmensgeist und Lebensmut war er ihm auf jeden Fall ebenbuertig. Von Kindheit gewohnt, fuer eine Art von Genius zu gelten, trafen ihn die Ansprueche des anderen ins Mark. Er war weit davon entfernt, sie gleichmuetig aufzunehmen und kaum noch in der Lage, sich mit seinem Widersacher normal zu unterhalten. Der widerum reagierte ebenso reserviert und muerrisch. Keiner von beiden haette einsehen moegen, warum es nicht zwei exzellente Rechenkoepfe in der Klasse geben sollte. Die Konkurrenz Haeusslers beunruhigte ihn dermassen, dass er seine mathematischen Ideen noch intensiver, um nicht zu sagen verbissener, verfolgte. Nie wieder, auch nicht waehrend des Studiums, sind derart negative Empfindungen bei Gauss ausgeloest worden wie durch die Versuche jenes Mitschuelers, ihn im Rechnen zu uebertrumpfen. Umgekehrt fuehlte sich der Andere von der scheinbaren Leichtigkeit und Nonchalance provoziert, mit der Gauss die Mathematik beherrschte und staendig neue Resultate produzierte, und durch das Lob, mit dem ihn nicht nur Zimmermann sondern auch auswaertige Professoren ueberhaeuften. Er nahm sich vor, selbst Mathematik zu studieren, um zu beweisen, dass man kein Wunderkind gewesen sein muss, um die Wissenschaft voran zu bringen. Unter der Aufsicht ihres wanderfreudigen Klassenlehrers machten die Schueler verschiedene lange Wanderungen, die sie auf fast alle Gipfel und auch in die kleinen Flecken und groesseren Orte des Harzes fuehrte. Das Leben in dieser abgelegenen Region war damals zwar um einiges primitiver als heute. Den Jugendlichen machte es aber nichts aus, eine Woche lang auf staedtische Annehmlichkeiten zu verzichten, im Gegenteil. Sie waren in einem Alter, wo man sich nicht mehr wie in der Kindheit gegen alles Neue und Unbekannte sperrt und genug damit zu tun hat, seine unmittelbare Umgebung und sich selbst zu entdecken, sondern hungrig auf spektakulaere Eindruecke und waghalsige Manoever, und sogar Gauss, der das Reisen zeitlebens nie anders als unbequem empfand, hat an den Impressionen dieser Klassenfahrt den groessten Gefallen gefunden. Er war noch nie so weit von seiner Heimat entfernt gewesen, wo die Landschaft wie ein welliges Waschbrett ist und die paar versprengten Huegel so flach, dass man im Winter nicht einmal Schlitten fahren kann. Hohe Berge wie den Brocken und schroffe Felsen wie die Hahneklippen hatte Gauss noch nicht gesehen, ja, er hatte sich bisher nicht recht vorstellen koennen, wie solche Hoehendifferenzen, ein solcher Wechsel zwischen Grat und Tal, in den auch noch Weiler und sogar Doerfer eingezeichnet waren, in der Wirklichkeit aussahen. Am ersten Tag erkundeten sie die naehere Umgebung des Ortes. Sie spazierten an kleinen terassenfoermig angelegten Feldern entlang zum Waldrand und fanden sich, eh sie sichs versahen, weit ueber der Spitze des schmalen Kirchturmes, unter ihnen ausgestreckt lagen die schwarzen Schindeldaecher der Bauernhaeuser wie auf dem Boden ausgebreitete Fluegel erschoepfter Schwalben. Schliesslich ging es auf einem schmalen Pfad und ein ausgetrocknetes Flussbett zum Kammberg, der hoechsten Erhebung ueber Haehnenklee, und von dort ins jenseitige Tal, wo sie rasteten. Am zweiten Tag wanderten sie neben dem Spielbach zum Bruchberg hinauf, und machten eine grosse Runde um den Rehberg, um sodann in einem eiligen Schlenker nach Hahnenklee zurueckzukehren, da die Dunkelheit heranbrach. Sie marschierten in Zweier- und Dreiergruppen, die sich bald aufloesten, bald neu zusammenfanden und beschritten unter anderem einen Weg, der sich wie eine Spirale in ein enges Tal herunterschraubte, und Gauss fragte sich, ob die Mathematik je in der Lage sein wuerde, so stark gekruemmte Flaechen sauber zu beschreiben. Die bestehenden Ansaetze, soweit er von ihnen Kenntnis hatte, begnuegten sich mit einer blossen Parametrisierung solcher Flaechen durch ebene Koordinaten x und y, wobei das Problem darin bestand, dass die Wahl des Koordinatensystems nicht eindeutig war. Im allgemeinen gab es beliebig viele Moeglichkeiten, die eine gegebene Flaeche alle in einem anderen Licht erscheinen liessen. So kann man zum Beispiel fuer eine Sphaere, also die Oberflaeche einer Kugel, verschiedene Darstellungen, das heisst Projektionen auf die Ebene finden, das wussten die Kartographen schon lange, entweder eine laengentreue oder eine winkeltreue, es gibt aber keine Darstellung, die sowohl laengen- als auch winkeltreu ist. Fuer die eine oder andere Spezialflaeche hatte sich also zu Gauss' Zeit bereits betraechtliches Wissen angesammelt, ohne dass man jedoch die allgemeinen Zusammenhaenge zwischen der Art der Parametrisierung und der Flaechenkruemmung verstanden haette. Eine vernuenftige Definition der Kruemmung sollte von der Wahl der Parameter unabhaengig sein, und genau so ein Kruemmungsbegriff fehlte den Mathematikern. Gauss entfernte sich mit solchen Gedanken weit von seinen Kameraden, und wenn er auch tat, was alle taten, und nach aussen hin zu jedermann hoeflich blieb, und freundlich antwortete, wenn er angesprochen wurde, so gehoerte er doch auf eine bestimmte Weise nicht zu ihnen. - Es kann aber nur eine Vermutung bleiben, dass dies Unbeteiligte, diese innere Abwesenheit, dem boesen Unfall Vorschub geleistet hat, der die Freuden der Reise fuer ihn jaeh beendete, und von dem ich in Baelde naeheres erzaehlen werde. Manchmal, waehrend der Verschnaufpausen, oder wenn er abends im Bett lag und nicht sofort einschlafen konnte, wurde er von einer seltsamen Melancholie ergriffen. Er war hier staendig nur mit Maennern zusammen, aber er war doch jung und voller sexueller Traeume und Begierden, und da er sich schon von den revolutionaeren Reden seiner Mitschueler nicht mitreissen liess, so schmachtete er um so mehr nach weiblicher Hinwendung; dort hin war seine Sehnsucht gerichtet. Denn in den Gesichtern junger Frauen spiegelt sich das ewige Versprechen der Fortpflanzung. Wie die roten Liebesaepfel beim Kirmes sind sie, ueberzogen vom Lack der Fruchtbarkeit - in der Herberge in Gestalt der jungen Magd, die taeglich das Essen auftrug, ein suesses rosiges Geschoepf, dessen Augen und Locken vorwitzig unter einer Leinenhaube hervorlugten, dass er meinte, ihm wuerde das Herz zerspringen, wenn er sie nicht wenigstens einmal ansprach. Zugleich weckte aber die Vorstellung, Worte mit ihr zu wechseln und ihr dabei womoeglich nahe zu kommen, eine vollkommen irrationale Angst und hysterische Unruhe in ihm, und er waere ueber blosses Stammeln und Stottern nicht hinausgekommen, selbst wenn sie ihn angesprochen haette. Jeden Abend, sobald er das Gasthaus betrat, wo er sie in Kueche oder Schankraum wusste, wurde er ein Gefangener des wildesten Herzklopfens und von Gefuehlen, die zwischen Furcht, Feigheit und Verlangen hin- und herschwankten, und meist war er froh, wenn er nach ueberstandenem Essen im Bett lag und mit geschlossenen Augen an die Kleine denken konnte. Sicherlich fiel sie auch den anderen Jungen auf und war das Ziel zahlloser hastig luesterner Blicke, die sie scheinbar unbeeindruckt ueber sich ergehen liess. Er aber meinte, sie am meisten zu begehren, und bildete sich ein, dass er sich praechtig mit ihr verstehen wuerde, wenn er sie naeher kennenlernte, er stellte sich vor, wie er Hand in Hand mit ihr durch Forst und Felder flanierte, und dass sie und keine andere die ideale Partnerin fuer ihn sei - schliesslich war seine Mutter selbst eine einfache Magd gewesen, bevor sie geheiratet hatte. Das Maedchen wusste natuerlich nichts von diesen Gedanken, sie fand sich einfach einer Horde Jungen gegenueber, der eine mehr, der andere weniger reizvoll, ansonsten aber wenig verschieden, und man konnte nicht von ihr erwarten, dass sie den grossen Mathematiker erkennen wuerde. Gauss also war zu scheu und schuechtern, sich ihr zu naehern. Da gab es andere - nicht gerade Haeussler, den beschaeftigten im Moment nur seine politischen Phantasien, der liess sich vom profanen Geschlechtstrieb nicht ablenken, aber einige in seiner Umgebung, mit einer handfesteren Einstellung - die, ungeachtet haenselnder Bemerkungen ihrer Mitschueler, vielleicht einen Versuch gewagt haetten, wenn sie dazu ermuntert worden waeren ... Gauss' Verhaeltnis zu dem jungen Maedchen stagnierte jedenfalls auf niedrigstem Niveau und entwickelte sich nur in einer unausgesprochenen Dimension und Welt der Einbildung weiter. Am dritten und vierten Tag des Aufenthaltes war das Wetter diesig und bedeckt - wenngleich es nicht regnete - und so eifrig sie auch wanderten, die grossartige und vielleicht zu ausgelassene Stimmung stellte sich erst wieder ein, als es am fuenften ploetzlich umschlug und einer Hochdruckwitterung ohnegleichen Platz machte. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel in die meist bleiche Haut der Jugendlichen, die sich aber davon nicht beeindrucken liessen. Lehrer und eigener Ehrgeiz trieben sie schnell zum hoechsten Gipfel, den Brocken, hinauf. Dort war ein hoelzerner Aussichtsturm errichtet, von dem aus man nach allen Richtungen ueberland blicken konnte. Brandenburger Wanderfreunde hatten ihn finanziert, die es leid waren, dass der freie Blick durch hohe Baeume behindert wurde. Er war wenigstens fuenfmal hoeher als ein gewoehnlicher Jaegerstuhl und bedeutend stabiler gebaut, indem man mehrere Tuerme und Plattformen uebereinandergesetzt hatte. Uebrigens haette ein steinerner Bergfried sicher eine groessere Lebensdauer gehabt; und tatsaechlich ist das Holzgeruest ein halbes Jahrhundert spaeter durch eines aus Mauerwerk ersetzt worden, heute ein Wahrzeichen des Harzes, das bei gutem Wetter aus weiter Ferne zu sehen ist. Die Jungen kletterten nacheinander hinauf, die einen vorsichtig, andere mit leichter Hand, waehrend der Lehrer unten wartete und ihnen Ermahnungen nachrief. An diesem Tag herrschten einzigartige Sichtverhaeltnisse. Im Sueden sah man bis zu den steil ansteigenden Gebirgszuegen der Rhoen und im Westen bis in die Taeler des Sauerlandes. Nach Norden und Osten, wo das Land flach war, ahnte man Kueste und Meer und noch den Qualm aus Berliner Schloten. All dies schien Gauss derart zum Greifen wirklich, dass er unwillkuerlich einen Schritt nach vorn machte, um einen fernen Punkt im Westen genau zu fixieren. Aus Nachlaessigkeit oder Schlamperei war aber an dieser Stelle in der Bruestung ein Holz ausgespart, und Gauss trat ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht und stuerzte in freiem Fall nach unten. Er waere wohl zu Tode gekommen, wenn ihn nicht mehrere unterhalb der Plattform angelegte kreuzfoermige Verstrebungen gluecklich aufgefangen haetten. Von dort bargen ihn zwei mutige Mitschueler auf die Leitersprossen. Unten angekommen wurde er auf die Seite gelegt und von Zimmermann, der in Erster Hilfe ausgebildet war, untersucht. Es schien, als habe Gauss mehr Glueck als Verstand gehabt und sich ausser geringfuegigen Hautabschuerfungen und Rippenprellungen nur einen gebrochenen Arm eingehandelt. Zimmermann liess ihn zur Herberge tragen und einen Arzt rufen, der den Arm schiente und den Oberkoerper bandagierte. Schliesslich wurde er ins Bett befohlen, wo man ihn weiter beobachtete. Er schloss die Lider, und waehrend ein Teil seines Bewusstseins gegen leichte Schmerzen und Uebelkeit ankaempfte, konzentrierte sich sein Denken auf die empfangenen Sinneseindruecke, die sonderbar intensiv in seine Erinnerung eingebrannt waren, und er liess den Ausblick ueber hunderte von Kilometern, den er nach allen Richtungen gehabt hatte, vor seinem inneren Auge noch einmal Revue passieren. Auf den Unfall selbst verschwendete er keinen Gedanken. Eben erst einer Gefahr entronnen, haelt jeder Halbwuechsige es fuer selbstverstaendlich, ohne Schaden davongekommen zu sein, ja, er sieht es geradezu als sein Schicksal an, aus Situationen, die ihm eigentlich als Warnung dienen sollten, als Heros, als Siegfried hervorzugehen. Gauss hatte mehrere besonders markante Punkte in der Landschaft ausgemacht. Zum einen die nahen Hoehenzuege des Harzes, von denen zwei Erhebungen besonders ins Auge stachen, Inselberg und Hoher Hagen, die mit dem Aussichtspunkt am Brocken ein etwa gleichseitiges Dreieck bildeten. Er wusste schon lange, dass solche Dreiecke von Geometern benutzt werden, um die Landschaft zu vermessen; denn er hatte, von des Vaters Tiraden angestachelt, sich Vorstellungen von seiner beruflichen Zukunft zurechtgelegt, und eine realistische Moeglichkeit fuer einen Mathematiker, sein Geld zu verdienen, bestand darin, fuer Verwaltungen oder Grossgrundbesitzer als Landvermesser zu arbeiten. Grundlage der Geodaesie war (und ist auch heute noch) die Triangulation. Dabei wird ein Landstrich in Dreiecke unterteilt, und man beginnt die Messungen mit kleinen, absolut praezise zu vermessenen Triangeln, um danach zu groesseren ueberzugehen, die mit den kleinen einen gemeinsamenen Schenkel haben. Gauss glaubte, dass sich wegen der Klarheit der Verhaeltnisse jenes Dreieck der Berge besonders genau vermessen liesse. Ihn beschaeftigte die Vorstellung, ausgehend vom Harz ganz Deutschland zu kartographieren. Denn viel weiter in der Ferne, wo die letzten Auslaeufer des Harzes sich schon laengst ins Wesertal verliefen, und ueber andere, flachere Gebirgszuege hinweg, hatte er zwei weitere Punkte ins Visier genommen, die Spitze des Rhoenkegels und eine weitere Erhebung im Sauerland, zusammen mit dem Brocken Teile eines 100-, wenn nicht gar 1000-fach groesseren Dreiecks. Dass die kleinen Fuerstentuemer wenig Interesse daran haben wuerden, das Land ueber ihre Grenzen hinaus zu vermessen, stoerte ihn im Moment nicht. Er freute sich an seinen Visionen und entwickelte sogar die Ahnung, dass man mit solchen Messungen auch etwas ueber die Natur und Bewegung von Lichtstrahlen herausfinden konnte. Den Messinstrumenten war es sicherlich gleich, aus welcher Entfernung sie ihre Signale empfingen, aber das Medium selbst, also das Licht, und die Luft, durch die es sich bewegte ... man konnte der Frage nachgehen, ob sie bei derart grossen Abstaenden tatsaechlich ein planares Dreieck ... Er brachte also viele Impressionen und Anregungen von seiner Harzreise mit, die ihn auf Dauer begleiten (und zuletzt in den Untergang treiben) wuerden. Zunaechst jedoch, und bis zum Ende seiner Schulzeit, konzentrierte er sich auf mathematische Probleme ganz anderer Art, Probleme der Zahlentheorie, die nichts mit der Unmittelbarkeit des Anschauungsraumes zu tun haben, und verschaffte sich mit dieser Arbeit bald Aufmerksamkeit in den Gelehrtenkreisen ganz Norddeutschlands. - Am Morgen des 10. Oktober 1795 brach er in Braunschweig auf und machte sich auf die damals noch recht beschwerliche Reise nach Goettingen. Es waren die Tage, wo in Paris die Gemaessigten die Oberhand zurueckgewannen - indem sie sich mit Allen verbuendeten, die weiterleben wollten - und mit Robespierre ebenso kurzen Prozess machten, wie er es ihnen vorgefuehrt hatte. Doch die Frage, was die entartete Revolution oder das naechste Jahrhundert fuer die Menschheit bringen wuerde, interessierte ihn nach wie vor wenig. Stattdessen beschaeftigte ihn die Aussicht auf seine bevorstehende Studentenzeit. Er hatte sich voellig der Mathematik verschrieben und im vorangegangenen Jahr nicht nur von den lokalen Lehrern, sondern auch von den Klassikern emanzipiert. Seine Gedanken und Einfaelle sprudelten in so unausgesetzter Fuelle, dass er ihrer kaum Herr werden konnte, und zum Beispiel auch waehrend der Reise vorsorglich ein Heft aufgeschlagen hielt, um neue Ideen gleich zu notieren. Vieles von dem, was ihm in jenen Tagen durch den Kopf ging und was er aus Zeitmangel nicht aufschreiben konnte, ist fuer immer unwiderbringlich verlorengegangen. Um diesen Mangel zu verwalten, der aus dem Reichtum der Ideen entsprang, hatte er ein System von Notizbuechern angelegt, mathematische Diarien gewissermassen, in die er seine Inspiration zu kanalisieren versuchte. Es waren dies keine Hefte aus weissem Papier, wie sie das Gymnasium oder die Universitaet fuer Klausuren und Hauptvorlesungen zur Verfuegung stellt, sondern aus billigen Resten broschiert, rauh, dunkel und faserig, und man hatte Schwierigkeiten, darauf zu schreiben. Nachdem er sich von den Eltern verabschiedet hatte - die Mutter weinte, da ihr einziges leibliches Kind sich so weit entfernen wollte - bestieg er am Marktplatz eine schwankende Reisekutsche, in der bis auf seinen schon saemtliche Plaetze besetzt waren, und versuchte, es sich zwischen einem dicken Geschaeftsmann und einem erkaelteten Marktfraeulein bequem zu machen. Er liess sich waehrend der Fahrt von nichts in seiner Konzentration stoeren, weder von den Gespraechen der uebrigen Fahrgaeste noch vom Jammern und Husten der Marktfrau, oder vom fluchenden Kutscher, oder den Schlagloechern, die die Kutsche bestaendig erschuetterten, dass sich einem der Magen umdrehte, auch nicht von haeufigen Hindernisse, die zum Halten zwangen, oder der wenig verlockenden Aussicht auf Uebernachtung in einer billigen Absteige in Gandersheim. Obzwar vom Herzog mit Reisespesen gut versorgt, hatte Gauss nur das einfachste Zimmer gemietet. Er wollte das Geld, wenn ueberhaupt, lieber in Goettingen fuer Buecher ausgeben. Da er aus beengten finanziellen Verhaeltnissen stammte, war er schon in seiner Jugend ein sparsamer Mensch, der sein Geld umsichtig anlegte und zeitlebens, auch als er schon lange eine etablierte Position innehatte, die unbewusste Furcht mit sich herumtrug, eines Tages ohne einen Groschen Geld dazustehen. In spaeteren Jahren uebrigens drohte die an sich positive Eigenschaft der Sparsamkeit in Geiz umzuschlagen. Als die zusammengewuerfelte Reisegruppe nachmittags bei ihrem Zwischenstop eintraf, war die Sonne ueber Regenwolken aufgegangen, und Gauss wurde mit einem Ausblick auf die ganze Breite des Harzes fuer die Strapazen der Reise entschaedigt. Ein besonderes Panorama bot sich von der Dachkammer, in der er uebernachten wollte. Er stand dort einige Minuten an der offenen Luke und atmete die frische Oktoberluft, waehrend seine Sinne alles in sich aufnahmen und sein Geist versuchte, an die Erinnerungen der Klassenfahrt anzuknuepfen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, es wollte ihm nicht recht gelingen; denn die Schoenheit der Berge ist mannigfach und verschieden, je nachdem, aus welchem Winkel wir sie betrachten. Die beiden anderen Reisenden, mit denen er den kleinen Raum teilte, weilten noch unten beim Bier in der Wirtstube. Er sass im Halbdunkel auf seiner Pritsche und gedachte melancholisch der Kuechenmagd. Ein so schoenes Maedchen hatte sicher laengst einen Verlobten. Dann glitten seine Gedanken zu den Eltern, die er erst im naechsten Sommer wiedersehen wuerde, und zu Zimmermann und dem Ende seiner Schulzeit. Er freute sich auf das Studium, da er geistig schon lange ueber das Gymnasium hinaus war, doch er wusste auch, ein Lebensabschnitt lag unwiederbringlich hinter ihm." Der Erzaehler reckte die Glieder und blickte starr in die Ferne, und etwas wie Wehmut, oder Gram, senkte sich ueber seinen Blick, als wenn er sich eben mit gemischten Gefuehlen an seine eigene Jugend erinnern wuerde. Mit einem Mal kam er mir unendlich alt vor. Das Kreuz wie eine Mondsichel gebeugt, die unkontrollierten Bewegungen seiner duennen Glieder, die in schwarzen Hoehlen liegenden Augen ... die Haut faltenzerfurcht wie ein Acker von einem schlechten Pflug. Unwillkuerlich fragte ich mich, wie lange er wohl noch zu leben hatte. Er aber strafte solche Gedanken Luegen, indem er eifrig und ohne einen Anflug von Muedigkeit mit der Erzaehlung fortfuhr: "Die Kutsche traf am naechsten Abend mit reichlich Verspaetung hier in Goettingen ein. Damals war unsere Stadt viel kleiner als heute, alles Leben spielte sich innerhalb der alten Mauern ab, jenseits davon war gar nichts, nur grosse oede Felder; einzelne Hoefe und Gueter lagen weitab verstreut. Obwohl tief im suedlichen Niedersachsen gelegen, wo es ins Hessische hineingeht, sind Kommune und Universitaet immer von Hannover aus regiert worden ... so ist es heute noch und so wird es wohl auch in hundert Jahren sein", konnte sich der Alte nicht verkneifen hinzuzufuegen. "Es gibt bei den Braunschweigern wie auch bei uns Goettingern starke Ressentiments gegen die Hannoveranische Vorherrschaft, und das hat zum Beispiel auch den Aufruhr der 'Goettinger Sieben' mit angestachelt; aber zuletzt sind der Hannoveraner Innenminister und der Hannoveraner Finanzminister mit den Studenten und Professoren noch immer fertig geworden. Gauss hat unter den Sieben auch seinen engsten Mitarbeiter verloren. Aber das ist eine andere Geschichte, ich weiss nicht, ob ich sie Ihnen heute nacht noch erzaehlen sollte." Damit spielte er auf die fortschreitende Zeit an; anscheinend zweifelte er, ob ich genuegend Geduld aufbringen wuerde, ihm bis zum Ende zuzuhoeren. Ich aber hatte es mir auf meinem Lesesessel bequem gemacht und ermunterte ihn, nach der Reihenfolge fortzufahren und nur ja nichts auszulassen. "Er hat sich dann in Goettingen einigermassen akkomodiert. Obwohl er sich dort laengst nicht so wohl gefuehlt hat wie in seiner Vaterstand, hoerte man keine Klagen von ihm. Er wusste ja, dass er nur fuer die begrenzte Zeit des Studiums hier sein wuerde - nicht laenger als der Militaerdienst heutzutage dauert." Der Alte raeusperte sich, und ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Musste man das als Seitenhieb auf unsere preussischen Tugenden auffassen? Aber dann fuhr er fort: "Manches in Goettingen hat ihn enttaeuscht, vor allem die Qualitaet der Lehrveranstaltungen. Die Aussicht, an der Universitaet herrsche ein weit hoeheres Niveau als am Gymnasium, war ja der Hauptgrund gewesen, Braunschweig zu verlassen, wo es ihm mathematisch zu eng geworden war. Doch wie das manchmal ist, wenn man sich etwas in schoenen Farben ausmalt: man wird von der Wirklichkeit vor den Kopf gestossen. Zu jener Zeit waren die Universitaeten nur provinzielle Lehranstalten, die nachholten, was auf der Schule versaeumt wurde. Die meisten ihrer Lehrer waren mit dieser Aufgabe zufrieden und besassen keinerlei Ehrgeiz, eine junge Forscherelite heranzuziehen. Dies Ziel hat Humboldt erst Jahre spaeter in die Gruendungsannalen der Berliner Universitaet geschrieben, ein Vorbild, wonach sich Professoren seither zu richten haben. Gauss setzte sich im Oktober/November 1795 jeweils fruehmorgens um 8 Uhr 30 hoffnungsfroh in die mathematische Hauptvorlesung, und noch im Verlauf der ersten Stunde daemmerte ihm, dass er dort nicht allzuviel lernen werde. Die Veranstaltung wurde von unserem damaligen Dekan Abraham Gotthelf Kaestner abgehalten, einem kugelrunden fast sechzigjaehrigen Menschen, der von dieser Aufgabe sichtlich ueberfordert war. Die haeufigen Fehler an der Tafel, die Unbeholfenheit seines Denkens, die offen zutage trat, wenn man eine Frage an ihn richtete, und von der er nur durch schlechte Witze oder Wechsel des Themas abzulenken vermochte, Gauss verglich ihn unwillkuerlich mit seinem Lehrer Zimmermann, der fast im gleichen Alter stand, und das Ergebnis fiel nicht gerade vorteilhaft fuer den Universitaetsprofessor aus. Gewiss, Zimmermanns Beschaeftigung mit der hoeheren Mathematik war eine marginal-episodische, aber sein Geist war von vollkommener Klarheit und mit einem lebhaften Interesse am Detail, alles Eigenschaften, die man bei Kaestner vermisste. Von den mathematischen Faehigkeiten der uebrigen Professoren hatte Gauss ebenfalls keine grosse Meinung (ohne dass er dies lauthals verkuendete). Nur einige von juengeren Dozenten angebotene Spezialveranstaltungen, wie auch viele anregende und manchmal mitreissende Diskussionen, die er mit ihnen fuehrte, entschaedigten fuer das Heimweh, dass ihn gelegentlich ueberfiel. Sie hoben seine Laune und trugen dazu bei, dass er das Studium letztendlich doch als Erfolg betrachtete. Er war - als Forscher und als Mensch - ein ehrgeiziger und ungeduldiger Charakter. Er hasste es, seine Zeit mit niederen oder stumpfsinnigen Dingen zu verschwenden und sich zum Beispiel mit Kommilitonen in verraeucherten Bierkellern zu treffen, wo die fluessigen und die gasfoermigen Elemente das Gehirn benebeln. In deutschen Landen war das Studieren damals noch einer kleinen Minderheit vorhehalten, die Zeit der Studentenverbindungen mit ihren laermenden Grossveranstaltungen lag in ferner Zukunft, und doch, das Wesen der Zusammenkuenfte von jungen Maennern unterschied sich nicht wesentlich von dem, was wir heute kennen, und wovon wir Alten manchmal mit Schrecken in der Zeitung lesen. Zweitens hasste es Gauss schon seit fruehester Kindheit, sich auf viele Personen gleichzeitig einzustellen. Er bevorzugte Dialoge, in denen man sich auf einen einzigen Gespraechspartner konzentriert. Ausserdem waren die Themen, die bei solcherlei geselligen Abenden angeschnitten wurden, in seinen Augen seicht und oberflaechlich oder gaenzlich uninteressant. Sport, Maedchen, Alkohol - zu all diesen Themen hatte er mangels Erfahrung wenig zu sagen. Ausserdem stellte sein sozialer Hintergrund eine Barriere dar; aufgrund seines mathematischen Talents und seiner Forschungsergebnisse, von denen in der Fakultaet viel die Rede war, wurde er zwar allseits akzeptiert; er war alles andere als ein verachteter Aussenseiter. Und trotzdem nahm er eine Sonderrolle ein; es gab einfach Bereiche im Leben der Mehrheit seiner Kommilitonen, in die er nicht vordrang. Stattdessen freundete er sich mit einem anderen Einzelgaenger an, Farkas Bolyai, einem Ungarn, 2 Jahre aelter als er, und diese Freundschaft war eine Wahlverwandtschaft, die auf dem gemeinsamen, fast ausschliesslichen Interesse an Mathematik beruhte. Obwohl schon laenger in Goettingen, fuehlte er sich als Auslaender fremd und hilflos in Niedersachsen, und manche Ueberheblichkeit deutscher Studiengenossen steigerte nicht gerade seine Stimmunng. Er hatte sich gegen den Widerstand seiner Eltern um den Studienplatz in Goettingen beworben und sich dabei ausgemalt, in Unabhaengigkeit und Freiheit liessen sich die besten Lern- und Forschungsergebnisse erzielen. Nun fuehlte er sich einsam, so weitab von aller vertrauten Kultur und Sprache, und merkte, dass sich unter solchen Bedingungen neue Zwaenge einstellen. Gauss hat in jeder Lebensphase seine Zuneigung und Freundschaft auf wenige Einzelpersonen konzentriert. Seines Rufes wegen hatte er es nicht noetig, sich bei anderen anzubiedern. Es war umgekehrt, die Anderen versuchten, ihn fuer sich einzunehmen. In spaeteren Jahren vermochte er sich Radfahrer und Schleimer nicht immer vom Halse zu halten, die anstaendige Menschen gewoehnlich aus der Umgebung grosser Maenner verdraengen, in seiner Jugend jedoch hatte er ein feines Gespuer fuer den Wert eines Menschen, das ihn auch bei Farkas Bolyai nicht im Stich liess. Die Beiden lernten sich in einer Spezialvorlesung ueber Astronomie kennen, die von Ludwig Harding, einem jungen Professor der Sternwarte in dem tristen, dunklen Seminarraum des Naturforschungsinstituts abgehalten wurde. Die Veranstaltung hatte ganze 4 Hoerer - was fuer damalige Verhaeltnisse keineswegs unueblich gewesen ist - doch die Zusammensetzung stimmte den Dozenten unzufrieden: zwei der Studenten, eben Bolyai und Gauss, waren augenscheinlich so stark in ihre mathematischen Lehrgaenge verstrickt, dass sie die Astronomie als einen Zweig der Integralrechnung zu betrachten schienen - sie interessierten sich wesentlich mehr fuer die innere Struktur der Keplerschen Gesetze als fuer die Konstruktion und Moeglichkeiten moderner Teleskope. Fuer einen Forscher, der mit Leib und Seele an seinem Arbeitsgebiet haengt, ist es immer eine Enttaeuschung, fast wie eine verschmaehte Liebe, zu erfahren, dass faehige Studenten sich mit Enthusiasmus einem ganz anderen Gebiet verschrieben haben. Der Dritte war ein junger Mann, bei dem man sich wunderte, dass er ueberhaupt den wissenschaftlichen Kanon gewaehlt hatte. Auf pruefende Fragen wuerde er unweigerlich in einer Weise antworten, die seine voellige Unfaehigkeit, und auch sein Desinteresse offenbarten. Harding hielt ihn schlichtweg fuer eine Niete und versuchte, ihn soweit als moeglich zu ignorieren. Dies Verfahren haette er auch gern bei dem vierten Teilnehmer praktiziert, einem aelteren Semester namens Lindner, mit wirrer Haarpracht und unstetem Blick, der sich jedesmal ganz nach vorn in die erste Reihe platzierte. Allein, durch Ignorieren liess sich jener nicht zum Schweigen bringen. Im Gegenteil, er nahm sich gewohnheitsmaessig die Freiheit, noch waehrend des Vortrages seltsame Fragen und Kommentare in den Raum zu stellen. "Ihr Astronomen habt ja nun sehr schoen die Bewegung der Planeten erklaert", sagte Lindner zum Beispiel unvermittelt. "Aber diese sind nur kleine dunkle Gesteinsbrocken im Vergleich zu den Myriaden Fixsternen, ueber die man so gut wie gar nichts weiss, das haben Sie selbst zugegeben. Man weiss, dass sie sehr weit entfernt sind, hat aber keinerlei Kenntnis davon, woher sie die Kraft nehmen, aus solcher Entfernung zu leuchten. Man weiss noch nicht einmal, wie unser Tageslicht zustande kommt, und weigert sich beharrlich, die alten Weissheiten der Astrologie, die ueber viele Jahrhunderte sich angesammelt haben und immer wieder bestaetigt worden sind, auch nur zur Kenntnis zu nehmen." Damit war er bei seinem Lieblingsthema angelangt, das er irrlichternd in verschiedenen Vorlesungen, am liebsten in solchen der Astronomen, unter die Leute zu bringen versuchte. Die Zahl der Studenten war in Goettingen damals sehr klein, allenfalls einige hundert bis tausend, einschliesslich der Juristen, Mediziner und Kameralisten. Daher war Gauss der aeltere Kommilitone schon oefters ueber den Weg gelaufen. Wenn er von Lindner angesprochen wurde, erfasste ihn, wenn nicht geradezu Angst, so doch ein unwohles Gefuehl, das an Furcht grenzte. Bei solchen Leuten konnte man nie wissen, wie weit sie gehen wuerden, wenn sie sich in ihren Anliegen verletzt fuehlten. Er machte daher einen grossen Bogen, wennimmer er des Mannes von Ferne ansichtig wurde, doch fiel es ihm zunehmend schwerer, seinen Aufdringlichkeiten auszuweichen. Seitdem Lindner Wind davon bekommen hatte, fuer welch ein Genie Gauss unter den Professoren galt, belaestigte er ihn oft mit nervtoetenden Fragen und Meinungen. "Warum ignoriert ihr beharrlich die neuesten Erkenntnisse des Doktors Brandt aus Bielefeld", setzte er nun seine Eroerterung fort, "der bewiesen hat, dass sich die Stellung aller Fixsterne allein aus der Zahl pi=3.1416 herleiten laesst, und der darueberhinaus sogar eine Verbindung mit der alten astrologischen Bedeutung der Sternbilder herstellen konnte?" Harding schuettelte bei diesem Vortrage immer ungeduldiger den Kopf, doch war er im Innersten ein besonnener Mensch, den man nicht so leicht aus der Fassung bringen konnte. Er sagte daher nur knapp: "Wenn es auch nur den Zipfel eines Hinweises auf solche Zusammenhaenge gaebe, wuerde ich sie weiter verfolgen. Im Moment aber sehe ich dafuer keinen Anlass. Auch glaube ich vom grundsaetzlichen her, dass Ihr Anliegen nicht recht in meine Vorlesung passt, und bitte Sie daher, mich mit solchen Nebenbemerkungen nicht mehr zu unterbrechen." Durch diese eindeutige Abfuhr liess sich Lindner nicht beeindrucken; er hatte schon wesentlich aggressivere Reaktionen von Dozenten erlebt. "Wenn Brandt's Thesen nicht in eine Astronomievorlesung passen, weiss ich nicht, wo man sie sonst behandeln sollte", rief er aus und drehte sich beifallheischend zu den anderen Hoerern um, anscheinend erwartete er ernsthaft ihre Unterstuetzung. Doch die drei Kommilitonen mieden seinen Blick, und schwiegen waehrend des ganzen sich fortsetzenden Wortwechsels, seis weil sie - wie Bolyai - ein Urteil ueber die phantastischen Behauptungen nicht zu aeussern wagten, oder weil sie in Gedanken ganz woanders weilten, Gauss bei einer Gleichung fuenften Grades und der dritte Kommilitone beim Stammtisch in seinem Studentenklub. Endlich war es Harding gelungen, den Spintisierer fuer diesmal zu besaenftigen - er hatte ihm in freundlichem Tonfall zugeredet, ohne in der Sache auch nur einen Millimeter nachzugeben - so dass er mit der Vorlesung fortfahren konnte. Gauss und Bolyai hatten noch eifrig mitgeschrieben und waren gleichzeitig auf einen Widerspruch in den Darlegungen des Dozenten aufmerksam geworden. Sie kamen nach vorne, um nachzuhaken, ob es so gemeint gewesen war, wie sie es verstanden hatten, und fanden sich ploetzlich, Harding war ein dringender Termin eingefallen, allein im Hoersaal wieder. Etwas Schweres, Schwerfaelliges lag in der Luft, wie dicker Staub, und die vom Hoeren mueden Gemueter mussten Ihre ganze Jugendkraft aufwenden, auf dass sich jener Staub nicht auch in ihnen ausbreite. Vielleicht war es diese Anstrengung (aber sicherlich nicht nur sie), und die Furcht, an diesem Abend in der Einsamkeit ihrer Studierstuben verlorenzugehen (aber gewiss nicht nur sie), die sie bewog, aufeinander zuzugehen. Von draussen fiel graues Oktoberlicht durch runde Fensterscheiben, gerade eben hatte es noch ausgereicht, die Formeln an der Tafel zu lesen, doch nun begann es zu daemmern, und im trueben Licht heraufziehender Regenwolken konnte Gauss Bolyai's Zuege nicht mehr genau erkennen, er nahm hauptsaechlich ein Paar vorgebeugte Schultern und schemenhaft ungelenke Bewegungen wahr - und die Augen. Wie in Spiegeln am Ende eines dunklen Ganges erkannte er in seinen Augen dasselbe lodernde Feuer, die gleiche unbedingte Hingabe an nur das eine Thema. Er las darin aber noch etwas anderes, keine sachlichen, eiskalten Gefuehle, die jene Mathematiker so schaetzen, die ihre Wissenschaft fuer einen Zweig der Zahlenverwaltung halten, sondern es lag eine warme Zuneigung darin, die ihn, Gauss, mit einzuschliessen schien. Er ahnte vom ersten Moment, dass er Bolyai in allem hundertprozentig vertrauen konnte und dass ihm der andere treu und bedingungslos ueberall hin folgen wuerde. Er war bereit, auf der Stelle dasselbe absolute Versprechen abzugeben und versuchte, waehrend sie diskutierten, dies in seiner Mimik zum Ausdruck zu bringen. Irgendwann schlug er vor, gemeinsam in der Mensa zu Abend zu essen. Bolyai nahm die Einladung sofort ueberschwenglich an, und waehrend sie sich auf den Weg machten, unterhielten sie sich weiter, befluegelt von der Vorstellung, eine vielversprechende Bekanntschaft gemacht zu haben. Gauss bedeutete eine solche Bindung mehr als alle Aktivitaeten in Vereinen und Korporationen; sie wuerde ihn inspirieren und ihm genug Zeit fuer die eigene Arbeit lassen. Er war kein maulfauler oder menschenscheuer Charakter, aber er hatte begriffen, dass man an Stammtischen viel Lebenszeit sinnlos vertun kann. Mit seinem spaeter weitlaeufigen Bekanntenkreis hat er im Grunde viel weniger anzufangen gewusst als mit dem Einzelgaenger Bolyai. Zu Bolyai fuehlte er sich seltsam hingezogen; gleich jenes erste Schweigen bei ihrer Kontaktaufnahme deuteten sie als Gemeinsamkeit und grundsaetzliche Uebereinstimmung, die soziale Tolpatschigkeit des je Anderen ruehrte sie an, und ueber das Bewusstsein hinaus, eine gemeinsame Leidenschaft zu teilen, hatte jeder das Gefuehl, dass der Andere etwas aehnlich Besonderes und ueber dem Durchschnitt stehendes repraesentiere wie er selbst. Sie waren einig darin, sich nur fuer Mathematik und Naturforschung zu interessieren. Wenn sie mit Dritten zusammen sassen und das Gespraech auf ein anderes Thema kam, das normalerweise Leidenschaften zu entfachen imstande ist, seis der Sport, die Politik oder die Frauen, pflegten sie einander anzusehen und genau zu wissen, was der andere dachte - "es lohnt sich nicht, hier weiter herumzuhocken" - und machten den Abgang. Gauss war in Ausuebung dieser Haltung noch extremer und einseitiger als Bolyai, der sich gelegentlich immerhin auf philosophische Diskussionen einliess, besonders wenn sie die Grundlagen seiner Wissenschaft beruehrten. Bolyai bewunderte den Juengeren von allem Anfang fuer seine Forschungsresultate. Darum war in seinem Verhalten waehrend der ersten Zeit ein unsicheres Zoegern; er konnte sich nicht vorstellen, warum der Andere sich ausgerechnet um ihn bemuehte. Gauss widerum wurde durch das Fremdartige und Besondere an Bolyai's Sprache und Intonation und ganzer Lebensart angezogen und unterliess es nicht, haeufig zu signalisieren, dass er etwas Wertvolles in ihrem Kontakt sehe. Sie sassen oft abends zusammen in der Mensa, oder, wenn diese schloss, in ihren Mansarden, und im Laufe der Wochen und Monate entwickelte sich eine enge Vertrautheit, wie manchmal zwischen jungen Maennern, wenn sie sich ausschliesslich aufeinander beziehen. Sie konnten sich alles beichten und mitteilen, private Sorgen so gut wie Ideen und Meinungen jeglicher Art. Wenn man Gauss danach gefragt haette, wuerde er sofort bestaetigt haben, dass unter allen Menschen sein Freund an Wertschaetzung gleich nach der Mutter rangierte. Er war bereit, Bolyai jeden erdenklichen Dienst zu erweisen und ueberzeugt, dasselbe auch von ihm erwarten zu koennen. Es wird heute von Experten bestritten, dass Bolyai's Talent mehr als durchschnittlich war, und bezweifelt, ob er Gauss' Ideen in irgendeiner Weise befruchtet hat; doch sollte nicht uebersehen werden, dass seine 'ungarischen' Sichtweisen fuer Gauss, der hauptsaechlich an aeltere deutsche Lehrmeister gewohnt war, sehr erhellend gewesen sind, und zudem allein schon die Existenz eines so leidenschaftlichen Diskussionspartners und wahren Freundes das Denken inspirieren. Eines Abends sassen sie nach dem Essen beisammen. Bolyai machte ein besorgtes Gesicht, wie immer, wenn ihn das kleinste Problemchen beschaeftigte, und klagte: "Uebrigens will meine Wirtin die Miete erhoehen. Sie sagt, sie haette mir das schon beim Umzug angekuendigt, damals jedoch Betrag und Termin noch nicht festgelegt, da sie das Verhaeltnis ihrer Kosten und Einnahmen nicht ueberblicken konnte." "Sie denkt wahrscheinlich, sie kann sich mit dir als Auslaender alles erlauben! Nach meiner Ansicht waere es am besten, wenn du wie ich im Wohnheim unterkaemest. Hier hat man Platz, eine Kueche und sogar die Erlaubnis, einen Freund zum Abendessen einzuladen. Ausserdem wuerden wir uns dann haeufiger sehen, und du haettest nicht mehr diese langen Wege durch das unwirtliche Winterwetter." Waehrend des Semesters sei ein Umzug schwierig, erwiderte Bolyai. Ausserdem wolle er lieber unabhaengig bleiben. Sein Hauptproblem sei, wenn der Kurs des Talers weiter ansteige, werde es seinem Vater schwer fallen, das Studium in Deutschland zu Ende zu finanzieren. In dem Fall muesse er nach England ausweichen. Eventuell nach der Vorpruefung. Er habe sich jedoch in Goettingen gut eingelebt. Wenn er die Universitaet wechsele, werde sich seine Studienzeit mit Sicherheit verlaengern; es sei hoechst unwahrscheinlich, dass man ihm Uebungsscheine oder Pruefungen aus Goettingen anerkennen werde. In Europa wurstele jede Hochschule allein vor sich hin, eifersuechtig darauf bedacht, keiner anderen etwas nachzugeben. Gauss schwieg dazu. Natuerlich hoffte er, Bolyai moege ihm noch moeglichst lange erhalten bleiben; bei seinen eigenen beschraenkten Mitteln wuerde er ihm aber kaum beistehen koennen, abgesehen davon, dass der Freund zu stolz war, um materielle Hilfe ueberhaupt anzunehmen. Nach einer kurzen Pause fanden sie zu einem anderen Thema. "Wie gefaellt dir die Geometrievorlesung?" fragte Bolyai. "Glaubst du, dass die Euklidischen Axiome universelle Gueltigkeit haben? Der Dozent scheint daran zu zweifeln, sonst wuerde er nicht wochenlang auf dem Parallelenaxiom herumreiten. Dabei schwankt er aber staendig in seinen Argumenten. Offenbar hat er vieles nicht vollstaendig durchdacht und von Lagrange oder anderen Koryphaeen ungeprueft abgeschrieben." Wie Sie wissen", wandte sich der alte Mann direkt an mich, "hat Euklid vor 2000 Jahren fuenf Regeln oder 'Axiome' aufgestellt, nach der man die Geometrie zu betreiben hat. Die ersten vier sind einfache, anstellige und evidente Prinzipien, ohne die sich kein geometrisches Gebilde denken laesst. Das fuenfte, das sogenannte Parallelenaxiom, scheint ebenso einsichtig, hat jedoch aufgrund seiner komplizierten Formulierung viele Mathematiker des 17. und 18. Jahrhunderts zu dem Versuch veranlasst, es aus den uebrigen vieren herzuleiten. Es besagt im wesentlichen, dass zu jeder gegebenen Geraden und jedem gegebenen Punkt in einer Ebene genau eine Gerade existiert, die durch den Punkt geht und parallel zu der Ausgangsgeraden ist. Hierauf hat sich Bolyai bezogen, und Gauss hat ihm, nach kurzem Zoegern, folgendermassen geantwortet: "Ich weiss nicht. Schwer zu sagen. Die ersten vier Axiome sind sicherlich unumstoesslich. Aber die Versuche, das Parallenaxiom aus ihnen abzuleiten, langweilen mich. - Frag mich doch in vier Wochen noch einmal. Vielleicht kann ich dir dann bessere Auskunft geben." Waehrend er diese Saetze leichthin aussprach, beugte er sich vor, und seine Augen verengten sich; man konnte erkennen, wie wichtig er das Problem nahm. Auch wenn ihn seine zahlentheoretischen Analysen immer wieder davon ablenkten, hatte er an Geometrie besonderes Interesse. Das hing unter anderem mit dem Plan zusammen, spaeter als Landvermesser sein Brot zu verdienen. Dieser Beruf reizte ihn nach wie vor. Er war keineswegs ueberzeugt, dass ihm die Alternative, Lehrer oder Professor zu werden, gefallen wuerde. Universitaetsdozenten waren damals nicht so privilegiert wie heute. Bis auf wenige Ausnahmen, die aufgrund besonderer Verdienste freigestellt waren, hatten sie aehnlich hohe Lehrdeputate zu erfuellen wie Lehrer an gewoehnlichen Gymnasien, und sich mit beinahe ebenso vielen unfaehigen und desinteressierten Studenten herumzuschlagen. Wenn er ungeschickten Kollegen oder mathematischen Laien etwas erklaeren sollte, wurde Gauss schnell ungeduldig und missmutig. Er wusste, er wuerde niemals Freude daran haben wuerde, Vorlesungen abzuhalten, und beschloss daher, der Beruf des Geometers sei dem des Lehrers vorzuziehen, ohne jedoch eine endgueltige Entscheidung zu treffen. "Alle Raeume und geometrischen Konstruktionen, die sich Mathematiker bisher ausgedacht haben, erfuellen das Parallelenaxiom", sagte Bolyai. "Da ist es natuerlich naheliegend, zu vermuten, dass es sich aus den anderen ableiten laesst." "Ich werde meine Zeit nicht damit vergeuden, die Axiome des Euklid ineinander umzuformen", sagte Gauss abschaetzig. "Ich glaube durchaus, dass eine 'nichteuklidische Geometrie' existieren koennte, zum mindesten ist es nicht voellig auszuschliessen. Wenn unser Anschauungsraum zum Beispiel mehr hyperbolische anstatt elliptischer Eigenschaften haette, und, da er ja offen und unendlich ist, ..., aber nein, einfach hyperbolisch reicht nicht aus, auch die Art und Weise, wie Abstaende gemessen werden, muesste anders sein. Wenn zum Beispiel Sphaeren mit imaginaeren Radien existierten, koennte man konsistent eine andere, quasi nichteuklidische Trigonometrie definieren, das ist schon lange bekannt, seit Lambert, und ist eine interessante, wenngleich seltsame Methode, die Funktionen Sinus Hyperbolicus, Cosinus Hyperbolicus und so weiter zu definieren." Bevor Bolyai reagieren konnte, wurden die Freunde durch Geraeusche aus dem Nebenzimmer abgelenkt. Ein Mitbewohner des Stiftes war heimgekommen, und hatte, den leisen Stimmen nach zu urteilen, Damenbesuch mitgebracht. Natuerlich war das gegen jede Vorschrift und strengstens verboten, ihm drohte die Exmatrikulation, wenn der Hauswart Wind davon bekam ... unwillkuerlich lauschten die Jungen, was sich drueben abspielte. Zuerst hoerte man noch leises launiges Gekicher, doch dann verstummten alle Geraeusche, und die Beiden zwangen sich, zu ihrem Thema zurueckzukehren. Bolyai nickte zustimmend, er hatte Gauss nur zu einem skeptischen Urteil gegen die Beweisbarkeit des Parallelenaxioms provozieren wollen und erklaerte eifrig: "Ich stimme dir voellig zu. Ich habe in letzter Zeit sehr viel ueber das Axiom nachgedacht und glaube bestimmt, dass es von den uebrigen voellig unabhaengig ist. Ich habe meine Argumente hier zusammengefasst ...". Er holte zwei handbeschriebene Seiten Papiers aus seiner Mappe und wedelte damit in der Luft. Seit zwei Wochen trug er sie mit sich herum, zweifelnd, ob er sie der Kritik des Freundes aussetzen sollte, zugleich aber auf eine guenstige Gelegenheit wartend. "Vielleicht sollten wir unsere Meinung zu diesem Thema publizieren." Gauss wurde ganz still und las mit ernstem Gesicht. Endlich liess er die Blaetter sinken. "Das sind alles richtige Gedanken, ueber die ich zum Teil auch schon nachgedacht habe", sagte er, "doch wir wissen einfach zu wenig von unendlichen Raeumen und ihren Ebenen und kennen keine guten Beispiele, die sich grundsaetzlich von unserem Anschaungsraum unterscheiden. Solange es noch nicht einmal Ansaetze gibt, solche Strukturen systematisch zu untersuchen, sollte man mit Publikationen vorsichtig sein. Im Moment bin ich definitiv nicht in der Lage, ein vernuenftiges Urteil abzugeben." Solche Saetze von dem selbstbewussten Gauss erstaunten Bolyai. Und sie befluegelten ihn und spornten seinen Ehrgeiz an; denn sosehr er den Freund auch fuer dessen grossartigen Resultate bewunderte, so glaubte er doch, ihm im Denken ueber fundamentale Fragen zumindest ebenbuertig zu sein. Vielleicht war es genau diese Haltung, wenngleich moeglicherweise auf einer Selbstueberschaetzung beruhend, die ihre Freundschaft in einem stabilen Gleichgewicht hielt. "Na gut, wenn du meinst. Du wirst sicher recht haben", gab er nach. "Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, falls ich in Zukunft Gelegenheit dazu habe, zumindest einen Teil meiner Forschungen auf dieses Problem zu konzentrieren." Heute wissen wir", unterbrach sich der Alte, "Bolyai hat zu dem Thema keine einzige Arbeit verfasst. Er gehoerte nicht zu jenen produktiven Naturen, die in der Nachwelt zu Ruhm und Ehre kommen. - Wobei die Produktivitaet nicht die einzige Voraussetzung fuer Ruhm und Ehre ist", fuegte er mit bitterer Miene hinzu, "ein gehoeriges Mass Ellbogen gehoert auch dazu, und der unbedingte Wille emporzukommen. Der Gedanke an die nichteuklidische Geometrie hat ihn freilich ueber Jahrzehnte nicht losgelassen, waehrend denen er an einem unbedeutenden Ort mit dem laecherlichen Namen Maros Vasarhely als Lehrer taetig war. Das Thema hat ihn so sehr beschaeftigt, dass er seinen Sohn mit der Begeisterung fuer diese Idee ansteckte, und der hat sie nachher auf seine Fahnen geschrieben und in der mathematischen Oeffentlichkeit unermuedlich verfochten und gilt dafuer seither in der Literatur als ihr Begruender. Der junge Bolyai lebt uebrigens noch, in Wien, er ist vor Jahren auch einmal in Goettingen gewesen ... dabei weiss man bis heute nicht, welche Bedeutung diese Raeume, die ja als mathematische Konstrukte unzweifelhaft existieren, in der Realitaet haben. Viel spaeter allerdings ist Gauss eine moegliche reale Bedeutung in den Sinn gekommen, und wenn Sie meine Geschichte zu Ende hoeren wollen, will ich am Ende gern noch darueber berichten." § Der alte Mann war ganz in Gedanken versunken, als besinne er sich irgendeines Geheimnisses betreffs der nichteuklidischen Geometrie, seine Augen waren wie in weite Fernen gerichtet. Vielleicht hatte er aber gar keinen bestimmten Gedanken gefasst, sondern war einfach durchs Erzaehlen muede geworden. Als ich ihn ansprach, kehrte sein Blick sofort in die Gegenwart zurueck, und er besann sich auf das, was er fuer seine Pflicht hielt, naemlich mir, als Verkoerperung der Nachwelt, die wahre Geschichte des Carl Friedrich Gauss zu erzaehlen, wie sie in keiner Biographie zu finden ist. "Bitte verzeihen Sie, wenn ich vom Kern der Sache abschweife", wiederholte er, "aber die Gespraeche der beiden Studenten sind an und fuer sich interessant genug, und haben obendrein den Fortgang meiner Geschichte beeinflusst. Die Geschehnisse, die Gauss letztendlich zum Verhaengnis wurden, haengen mit dem Fortschritt der Geometrie durchaus zusammen, und zur Haelfte auch mit dem Parallelenaxiom. Darueber werde ich spaeter noch berichten. Bolyai beschloss, das Thema vorerst auf sich beruhen zu lassen, behielt sich indessen vor, darauf zurueckzukommen, falls der Wind sich drehen und Gauss' Einstellung sich aendern wuerde. Er war manches Mal innerlich unzufrieden mit seinem Gefaehrten, zum Beispiel auch, wenn der sich weigerte, ueber alle Formen 'abstrakten Unsinns', wie er es nannte, nachzudenken. Es muesse doch die Frage erlaubt sein, so meinte Bolyai, in welchem Zusammenhang die menschlichen Sichtweisen von der Welt im allgemeinen und das mathematische Denken im besonderen zueinander stuenden. Er wolle die Dinge, die sich in unseren Koepfen abspielten, ins rechte Verhaeltnis zur Wirklichkeit gerueckt wissen, ... genau auf dieses Problem gebe der Idealismus eine Antwort. Und dann begann er, dem Freund von der 'Kritik der reinen Vernunft' vorzuschwaermen. Gauss verhielt sich dazu seltsam sprachlos, seis weil er den Anderen mit seiner negativen Einstellung nicht vor den Kopf stossen wollte oder weil ihm zu Kants Hypothesen partout nichts einfallen wollte. Bolyai spuerte die Skepsis, und beeilte sich zuzugeben, dass weitergehende, extreme Formen des Idealismus, welche die Historie quasi zu einem mit Intellekt begabten, sich kontinuierlich hoeher entwickelnden Lebewesen mache, seine Sache nicht seien. "Ich sehe keine anderen intelligenten Lebewesen als uns Menschen", kam es da kategorisch von Gauss. "Das edelste, was wir tun koennen, ist mit der Natur oder mit den Gedanken experimentieren und abwarten, was dabei herauskommt, und unsere Reaktionen darauf abstimmen. Wenn wir so vorgehen, kann es nie geschehen, dass wir uns statt von der Wirklichkeit von Wahnideen und Luftschloessern leiten lassen." Bolyai erkannte, dass er sich jemand anders suchen musste, um philosophische Dispute zu fuehren. Er fand, seinem Freund entgehe etwas sehr Wichtiges, wenn er sich auf den Vorrang der Empirie versteifte, und wunderte sich, wie soviel mathematisches Talent und Phantasie mit der bornierten Haltung zusammengehen konnte, die Gauss auf anderen Gebieten an den Tag legte. Doch Mathematik ist ein Prozent Kreativitaet und 99 Prozent Praezision, und um sich die letztere zu erhalten, musste Gauss die ungeloesten Fragen der Philosophie, wie auch manches Andere, aus seinem Denken verbannen, was ihn ansonsten gewiss bereichert haette. Dazu gehoerten desgleichen zeitgenoessische Resultate der Mathematik, auf die er nur zoegernd, wenn nicht gar abwertend reagierte. Nicht selten, wenn ihn Dozenten auf neuere Arbeiten anderer Autoren hinwiesen, meinte er, diese oder aehnliche Ergebnisse bereits selber hergeleitet zu haben. ... ob zu recht oder zu unrecht, das lasse ich dahin gestellt sein", flocht mein Erzaehler ein. "Gauss hat zweifellos noch viel mehr entdeckt, als der Nachwelt bewusst ist. Viele seiner Aufzeichnungen und Notizhefte sind spaeter, nach jener schrecklichen Nacht, mit ihm untergegangen oder auf unerklaerliche Weise abhanden gekommen, ohne dass irgendjemand diese Schaetze jemals bergen konnte." Die Haltung gegenueber Kollegen sei natuerlich ein wenig schmeichelhafter Charakterzug gewesen, bemerkte der Alte dann. "Wie ich schon sagte, Gauss hatte in seiner Pubertaet die mathematischen Klassiker enthusiastisch studiert, und nun schien es, als beseele ihn ein ungesunder Ehrgeiz, alles, was in ihren Schriften nicht zu finden war, allein und als erster zu ergruenden. Das tat natuerlich dem Genie keinen Abbruch, es gab genuegend Resultate, die bekanntermassen nur er allein und zuallererst entdeckte. Er war aber so egozentrisch, dass er nur auf gaenzlich unbestellten Feldern arbeiten mochte und sich ueber jeden entgangenen Entdeckerruhm aergerte. Nun will ich aber", sagte der Alte, "auf die Dispute mit Bolyai zurueck kommen, die so lange Schatten geworfen haben. Obwohl es ihn fuchste, musste er Gauss' letzter Bemerkung zustimmen. Er konnte sich aber nicht enthalten, gleich anschliessend provozierend zu fragen: "Du glaubst also nicht an den Fortschritt?" "So ist es", erwiderte Gauss knapp; die Debatte begann ihn zu langweilen. "Aber leugnest du damit nicht die Existenz der Weltgeschichte? Wenn wir alle nur so, quasi richtungslos existierten, ..." "Ich bestreite nicht, dass es Fortschritte gibt. Alles Wissen, das sich seit der Antike angesammelt hat und heute mehr und mehr anhaeuft, stellt fuer die Menschheit gewiss einen Fortschritt dar. Diejenigen aber uebrigens, die dies Wort am haeufigsten im Munde fuehren, also die franzoesischen Revolutionaere, ... nun, ich finde, es sieht im Moment nicht so aus, als ob sie den Fortschritt besonders befoerderten." "Gut, vergessen wir die Franzosen, aber das Wachstum des menschlichen Wissens in der Geschichte besitzt doch eine eigene Dynamik, ein eigenes Gesicht; Hegel uebertreibt vielleicht, wenn er es einen Weltgeist nennt, ..." "Ich sehe ein, wenn man will, kann man ein kuenstliches Konzept daraus machen", raeumte Gauss widerwillig ein. "Man muss allerdings bedenken, dieser Weltgeist ist ein zartes Pflaenzlein. Ich halte es durchaus fuer denkbar, dass unser schoenes Abendland eines Tages untergeht, und all unsere Kulturgueter samt Weltgeist und den alten Roemern und Griechen in Vergessenheit geraten. Des weiteren glaube ich, dass es keine Garantie fuer den Fortschritt gibt, dass unsere Kultur bestaendig bedroht ist, und dass es Sache jedes einzelnen und aller Nationen ist, diese Bedrohung abzuwehren. Darum geht man fehl, wenn man ihm eine Metadynamik zuschreibt. Es gibt keinen roten Faden in der Geschichte, der unabhaengig vom Zutun der Menschen waere oder gar aktiv agieren wuerde. Noch viel weniger glaube ich uebrigens an die Verschmelzung von Natur und Geist, wie sie von manchen Idealisten verfochten wird. Man sieht doch in der taeglichen Arbeit der Mathematiker und Naturwissenschaftler, dass dies zwei voellig getrennte Welten sind." Damit bezog er sich auf einen Vortrag, den ein junger Philosophieprofessor aus Muenchen im Kolloquium gehalten hatte, in Gauss' Augen krauses Zeug, das man der Wissenschaft auf keinen Fall aufoktroyieren durfte. Er wollte sich gar nicht weiter mit diesem Thema beschaeftigen. Wenn nur der Freund nicht dauernd darauf herumreiten wuerde! "Schau mal", sagte er und zog eine schmale Druckschrift aus der Lade des Schreibtisches (der ihm uebrigens auch als Esstisch gute Dienste tat, wenn die Zeit morgens knapp war), "was mir mein alter Lehrer aus Braunschweig geschickt hat." Es war das Septemberheft der 'Monatlichen Korrespondenz zur Befoerderung der Erd- und Himmelskunde', herausgegeben von Franz Wilhelm Zach-Olbers, einem Arzt und Astronomen aus Bremen. "Eine astronomische Zeitschrift mit sehr interessanten Artikeln. Harding hat doch in seiner Vorlesung ausfuehrlich die Entdeckung des Uranus vor 20 Jahren beschrieben ..." Im Nebenzimmer hoerten sie auf einmal seltsame Geraeusche, die sie zuerst nicht einordnen konnten, ein hohes Pfeifen, wie von einem winselnden Hund, vermischt mit unterdruecktem Gestoehne, als ob jemand starke Schmerzen leide. Was ging da vor? Noch kaum hatte sich diese Frage in ihrem Bewusstsein gebildet, da prickelte, kribbelte es in ihren Lenden, und in den Koepfen breitete sich ein starker, nicht unbekannter Reiz aus, und eine bildliche Vorstellung davon, was sich im Nebenraum abspielte. Wie durch ein Milchglas meinten sie vor ihrem inneren Auge die Bewegungen zweier Leiber zu erkennen, eine Vision, scheinbar weit ab von allen theoretischen Ideen - und doch so nah. Denn verlangt nicht der Geist, vom Sexus stimuliert und mit Brennstoff versorgt zu werden? Das anfaengliche Kichern von nebenan jedenfalls, und auch das jetzige Stoehnen, wirkten sich durchaus auf jene Kettenreaktion aus, die man 'Erkenntnisinteresse' nennt. Auch wenn sie im Moment verstummten und die Diskussion nur um den Preis wieder aufnehmen konnten, den Vorgang aus ihrem Bewusstsein zu verdraengen. Ein jeder schluckte zweimal schwer und lenkte seine Gedanken mit aller Macht auf die Astronomie zurueck, und da zugleich die Geraeusche aus dem Nachbarraum wie eine sonderbare Melodie verklangen, blieb nichts als eine marginale Irritation uebrig - und eine anregende Erinnerung, die sie an einsamen Abenden mit ins Bett nehmen wuerden. Bolyai hatte sich zuerst wieder gefangen. Auch er wollte den Streit ueber Hegel beenden. Solche kleinen Differenzen, fand er, konnten einer echten Freundschaft nichts anhaben. Er nahm Gauss die Zeitschrift aus der Hand. "Ich weiss", sagte er, "Harding wollte uns zeigen, wie sich die Existenz des Uranus aus der Titus-Bodeschen Abstandsregel herleitet. Und wir haben nicht eingesehen, wie sich die Regel mathematisch oder astronomisch begruenden laesst; wir waren uns einig, dass sie ein reines Zahlenspiel ist, und Harding hat uns zum Schluss damit recht gegeben ..." "... jedenfalls sind hier", unterbrach ihn sein Freund, "alle Details der Entdeckung noch einmal zusammen getragen, und, was noch interessanter ist, es wird auch ausfuehrlich von dem neuen kleinen Planeten berichtet, der die Astronomen im Moment so beschaeftigt." "Du meinst, den dieser Italiener, Piazzi oder wie er heisst, Anfang des Jahres beobachtet, aber nach ein oder zwei Tagen wieder aus den Augen verloren hat. Nun drehen alle wie wild an ihren Teleskopen, aber niemand weiss, wo man am Himmel nach ihm suchen soll." Die Jungen grinsten sich an. "Neulich habe ich beim Mittagstisch gehoert, wie sich ein paar Juristen darueber unterhielten. Das Thema scheint auch viele Laien zu interessieren. Irgendwie regen diese riesigen Materieklumpen, die so ruhig und unveraenderlich um die Sonne kreisen, die menschliche Phantasie an. Dabei handelt es sich in diesem Fall womoeglich um ein Hirngespinst." "Das habe ich bisher auch fuer moeglich gehalten", raeumte Gauss gutmuetig ein. "Aber in dem Artikel stehen so viele ueberzeugende Details... laut Zach muss man den Italiener wohl ernst nehmen. Mir ist uebrigens aufgefallen", und hier nahm seine Stimme mit einem Mal eine ganz andere Faerbung an, es war fast wie wenn ein Blinder vom Licht oder ein Straefling ueber die Freiheit spricht, "es muesste moeglich sein, die Bahnkurve allein aus den Daten zu berechnen, die in dem Artikel zur Verfuegung gestellt werden, und ich habe vor, das in Angriff zu nehmen." Bolyai beugte sich vor. "Lass mal sehen. Das wuerde mich auch interessieren. Vielleicht kann ich dir helfen. " "Kein Problem; wir koennen uns den Artikel gleich jetzt vornehmen. Ich werde dir die wichtigsten Stellen zeigen." Damit vertieften sie sich in die Beschreibungen und Zahlentabellen und versuchten sich vorzustellen, wo der Himmelskoerper im Moment stehen mochte. Und sie liessen sich davon weder von den vielfaeltigen Geraeuschen aus dem Inneren des Wohnheims noch von den Kutschen ablenken, die draussen durch die Gasse rumpelten. - So oder aehnlich intensiv verliefen viele ihrer gemeinsamen Abende. Oft nahmen sie sich auch jene Ergebnisse vor, die Gauss in der reinen Mathematik gewonnen hatte, und wiewohl Bolyai nur wenig eigene Ideen beizusteuern hatte, stellte sich Gauss doch bereitwillig seinem kritischen Urteil, der Freund half ihm, manches fuer nebensaechlich erkennen, was er fuer wichtig gehalten, und bei anderem, wohin er weiter fortzuschreiten hatte. Damals war der Gebrauch komplexer Zahlen keineswegs selbst-verstaendlich. Das naive Rechnen mit ihnen hatte selbst beruehmte Mathematiker wie Euler und d'Alembert in die Irre gefuehrt. Gauss untersuchte als erster ueberhaupt die sogenannten 'ganzen komplexen Zahlen' - aber das wissen Sie sicher, das wird allen Goettinger Studenten im ersten Vorlesungsjahr eingetrichtert - und entwickelte in jener Zeit, in der Bolyai der gute Geist seiner Forschungen war, daraus die Theorie der biquadratischen Formen. Seine bedeutendste Leistung auf diesem Gebiet sind Entdeckung und Beweis des kubischen und biquadratischen Reziprozitaetsgesetzes, das in jeder mathematischen Abschlusspruefung heutzutage abgefragt wird, da es alle bedeutenden Zahltentheoretiker unseres Jahrhunderts zum Ausgangspunkt ihrer Ueberlegungen und Konstruktionen genommen haben. - Eine unangenehme Erfahrung im ersten Goettinger Jahr war die Anwesenheit von Jens Haeussler in den mathematischen Seminaren und Vorlesungen. Der ehemalige Mitschueler hatte sich ebenfalls an der Georgia-Augusta immatrikuliert, da er wie Gauss von dem reichhaltigen Lehrplan, den wissenschaftlichen Freiheiten und der modernen Bibliothek profitieren wollte. Denn obwohl unsere Universitaet erst durch Gauss ihren eigentlichen Weltruf erlangt hat, ist sie auch schon vorher ein Zentrum der Gelehrsamkeit gewesen ... jedenfalls im Vergleich zu dem, was andere Hochschulen zu bieten hatten. Helmstedt zum Beispiel, mit seiner an sich aelteren Tradition, verbreitete einen derartigen Odem der Rueckstaendig-keit, dass die dortige Universitaet von Vielen gemieden wurde und Jahre spaeter von Napoleon zu recht geschlossen worden ist. Obgleich Gauss inzwischen bei allen Dozenten und Professoren bekannt und beliebt war, liess Haeussler nicht nach, ihn oeffentlich herauszufordern, wann immer er die Moeglichkeit dazu fand. Gauss widerum versuchte, den Anderen vorzufuehren, sooft sich eine Gelegenheit bot. Einmal wurde Haeusler waehrend einer Vorlesung aufgefordert, seinen Vorschlag fuer die Loesung einer Uebungsaufgabe vorzutragen. Damals war es noch ueblich, Vorlesung und Uebungsbesprechung innerhalb einer einzigen Veranstaltung anzubieten. Nur einige privilegierte Lehrstuhlinhaber und der Dekan konnten sich einen eigenen Assistenten leisten und Aufgaben und Klausuren aus ihrer Vorlesung ausgliedern. Dies nur zur Klaerung. Haeussler sammelte ein paar Papiere aus seiner Tasche und begab sich an die Tafel. Dort setzte er zu einem laengeren Vortrag an, zum Loesen des Problems benoetige er verschiedene Lemmata, die er vorab beweisen wolle. Er beschrieb die ganze Tafel mit Theoremen, indes der Professor an seinem Pult sass und ihn reden liess, jedoch immer ungeduldiger mit den Fuessen wippte. Zwischendurch, in einer Pause, als Haeussler etwas in seinen Papieren suchte, meldete sich Gauss mit den Worten: " Ich weiss nicht, warum der Kommilitone solche Haken schlaegt. Die Aufgabe laesst sich doch in 3 Zeilen erledigen." Dann erklaerte er zuegig, wie man vorzugehen habe. Wie Oel perlten die hoehnischen Worte von seinen Lippen. Waehrend der ganzen Zeit aber nickte der Dozent zustimmend, und Haeussler waere vor Scham und Ohnmacht am liebsten im Boden versunken. Als letzte Verteidigung fiel ihm bloss ein, er habe mit seinen Ausfuehrungen auch das ganze Umfeld des Problems beleuchten wollen. Doch da wies ihn der Professor zurecht, das sei nicht Sinn der Aufgabe gewesen; ausserdem gehe der Beweisfuehrungsstrang im Wust seiner Formeln verloren. Er jedenfalls habe nicht recht verstanden, was Haeussler meine, und bitte sich in Zukunft etwas mehr Klarheit aus. Gauss triumphierte auf der ganzen Linie und kostete diesen Moment weidlich aus. So einfach ist er mit seinen Feinden fertiggeworden! Sein scharfer Verstand und sicheres Auftreten (spaeterhin kamen Beruehmheit und hohes Ansehen dazu) genuegten, um jeden Kritiker zum Schweigen zu bringen oder in den Augen Dritter zu desavouiren. Nach seinem Aufstieg galt das uebrigens auch fuer den politischen Bereich. Maechtige jederlei Coleur haben ihn hoffiert, das wird man noch sehen. Uebrigens hat er ihnen das nicht schwer gemacht, er war ein leicht zu fuehrender Untertan. Mathematisch gesehen war Deutschland zu jener Zeit flach wie eine Ebene und trocken wie die afrikanische Savanne. Gauss ragte daraus wie die fruchtbaren Haenge des Kilimandscharo hervor. Es gab weit und breit keinen anderen bedeutsamen Mathematiker. Doch von den Wechselfaellen des Lebens haben ihn seine Talente nicht verschont, und auch nicht vor dem endgueltigen Untergang errettet ..." Wieder dieser Hinweis auf sein boeses Ende! Warum beschraenkte sich mein Erzaehler auf ominoese Andeutungen? Mir wurde ganz bange bei der Vorstellung, was dem grossen Mann zugestossen sein mochte. "Nun sagt schon," fuhr ich ihn ungeduldig an, "was ist denn letztlich mit Gauss so Schlimmes geschehen? In den Geschichtsbuechern liest man nur von seinem unerklaerlichen Verschwinden ..." Da liess der Alte ein keckerndes Lachen ertoenen, das sich wie das provozierende Trompeten eines Elefanten in dem hohen Raum ausbreitete und an den Buecherwaenden brach, und mit einem Mal wurde mir ganz unheimlich zumute, und ich fragte mich, woher er all die Einzelheiten aus dem Leben des Mathematikers kannte. Er bemerkte mein Erbleichen und beruhigte mich schnell, keine Angst, es gehe alles mit rechten Dingen zu. Er wolle nur die Spannung aufrecht erhalten und nichts vorwegnehmen, was die chronologische Ordnung der Geschichte stoeren wuerde. "Wahrscheinlich", fuhr er fort, "war es jenes Erlebnis in der Vorlesung, was Haeussler veranlasste, von der reinen Mathematik in die angewandte Physik ueber zu wechseln. Dort hatte er Gauss und seinen wachsenden Erfolg nicht staendig vor der Nase, wenngleich der sich inzwischen ebenso durch astronomische Berechnungen hervortat und also auch unter den Physikern einen guten Namen besass. Fuer das rein Geistige der Mathematik brachte Haeussler jedenfalls nicht genuegend Leidenschaft auf. Wenn er eine laengere mathematische Abhandlung las, fragte er sich oftmals, woher der Autor die Motivation nahm, seine Forschung in diese und nicht in eine beliebige andere Richtung zu lenken. Dies Element von Beliebigkeit empfand er als unbefriedigend, und die Ausrichtung auf die eine Waffe des Verstandes zu einseitig - mit einem Wort, er vermisste in der Mathematik die praktische Bewaehrung. So wechselte er in das Gebiet der Optik, wo man nicht nur mit Bleistift und Papier, sondern mit einer Vielzahl von Utensilien und Instrumenten interessante Experimente durchfuehren kann. Mathematisches Geschick ist uebrigens auch in der Physik sehr nuetzlich, und tatsaechlich hat Haeussler dort mit eigenen Entwuerfen schnell Anerkennung gefunden. - Etwa zur selben Zeit gelang es Gauss, die Bahnkurve des Kleinplaneten Ceres zu berechnen, indem er eine neue Methode in der Stoerungsrechnung einfuehrte. Das Ergebnis waren numerische Tabellen, die dem Astronomen Zach-Olbers zur Verfuegung gestellt wurden und diesem die Wiederauffindung der Ceres ermoeglichte. Bolyai hatte sich fruehzeitig aus dem Projekt zurueck gezogen. Ihm fehlten Sinn und Ehrgeiz, solche Details und Kleinigkeiten, wie er sie nannte, auszuarbeiten, und als er Gauss die meiste Arbeit allein tun sah, hat er dem Freund das Feld ganz ueberlassen. Die Suche nach Ceres fand unter starker Anteilnahme der Oeffentlichkeit statt, und der astronomische Erfolg machte Gauss in breiten Kreisen zu einer groesseren Beruehmtheit als seine mathematischen Veroeffentlichun-gen jemals vermocht haetten. Zach-Olbers war ihm derart dankbar fuer seine Zahlen, dass er nicht aufhoerte, Gauss' Ruhm in aller Welt zu verbreiten. Der Juengling erstellte aehnliche Tabellen auch noch fuer andere Himmelskoerper, was zur Entdeckung der Kleinplaneten Pallas und Vesta (ebenfalls durch Zach-Olbers) und Juno (durch den Goettinger Professor Harding) fuehrte. Jahre spaeter wuerde er Methode und Resultate in seinem astronomischen Hauptwerk zusammenfassen, der 'Theorie der Bewegung von Himmelskoerpern, welche in Kegelschnitten um die Sonne laufen'. Eines Morgens machte er sich auf den Weg zum Vorposten der Sternwarte, der auf einem Huegel ausserhalb der Stadtmauern lag. Es hatte geregnet, Schlamm klebte an seinen Sohlen und mehrmals zwangen ihn Fuhrwerke, ins feuchte Gras auszuweichen. Harding hatte ihn eingeladen, seine neuesten Ergebnisse mitzubringen und wollte ihn bei der Gelegenheit mit Nikolaus Fuss bekannt zu machen, einem schweizerischen Astronomen, der in St. Petersburg lehrte und sich augenblicklich als Gast in Goettingen aufhielt. Die beiden erfahrenen Wissenschaftler standen in Hardings Buero beisammen und diskutierten, als Gauss - ehrfuerchtig und leicht eingeschuechtert durch das internationale Flair, das Fuss verbreitete - auf sie zutrat. Bei einem gewoehnlichen Studenten haetten sie ihr Fachgespraech fortgesetzt und damit die natuerliche Distanz des Altersunterschiedes noch vergroessert, in diesem besonderen Fall jedoch waren sie wachsam, keine Befangenheit aufkommen zu lassen und den Juengeren schnellstmoeglich sozusagen in ihrer Mitte aufzunehmen. Statt zu warten bis Gauss von Harding vorgestellt wurde, drehte sich Fuss, schritt auf ihn zu und schuettelte ihm herzlich die Hand. "Herr-r Gauss, man hat mir schon so viel von Ihnen erzaehlt, dass ich Sie unbedingt kennenlernen musste. Ich bin Fuss. Aus St. Petersburg. Ja-a-ah, ich weiss, was Sie sagen wollen, kalte Heimat und so weiter. Aber bei uns in der Hauptstadt herrschen fuer Forscher die fr-ruchtbar-rsten Bedingungen, und ich habe vor Jahren die eidgenoessische Heimat verlassen, um meiner Pr-rofession und Leidenschaft noch besser fr-roenen zu koennen", aeusserte er in dem langsamen, rhythmischen Tonfall seiner Muttersprache. Harding wollte die offizielle Vorstellung doch nicht ganz ueberspringen und warf ein: "Richtig Nikolaus, dies ist also Herr Gauss, unser Goettinger Hoffnungstraeger ..." Gauss blieb kaum Zeit, "guten Tag" zu sagen, da fuhr Fuss bereits fort ihm zu schmeicheln: "Ludwig und ich haben in den letzten Tagen eigentlich nichts anderes getan, als Ihre Tabellen zu studieren. Gestern nacht konnte ich mich sogar ganz pr-raktisch und r-real davon ueberzeugen, wie genau Ihre Zahlen sind. Ludwig hat sein Teleskop danach eingestellt, und gleich hatten wir Cer-res und schliesslich auch Juno im Visier." Gauss haette gern etwas vergleichbar Schmeichelhaftes zurueckgegeben; allein, er war zu ungeuebt im Plaudern. Auch waren ihm Fuss' derzeitige Forschungsaktivitaeten nicht unbedingt gelaeufig. So musste Harding aushelfen: "Sie erinnern sich vielleicht aus meiner Vorlesung, Herr Gauss; Nikolaus hat einen wichtigen Beitrag zur Entdeckung des Uranus geleistet, indem er nachwies, dass Bahnkurve und Umlaufdauer nicht genau den urspruenglich von Herschel ermittelten Werten entsprechen. - Leider hast du", damit wandte er sich Fuss, "inzwischen der praktischen Astronomie den Ruecken gekehrt und betaetigst dich hauptamtlich als Sekretaer der Petersburger Akademie." "Oh bitte", rechtfertigte sich Fuss, "das bedeutet nicht, dass ich den Kontakt zur aktuellen Forschung verloren haette. Im Gegenteil, ich bin an der Planung fuer den Ausbau der neuen Sternwarte ganz wesentlich beteiligt. - Ausserdem habe ich die ehr-renvolle Aufgabe, Naturforscher von Rang in unserer Metropole zusammenfuehren. Zum Beispiel Sie, Herr Gauss. Auch wenn ich mit der Tuer ins Haus falle. Wir waeren gluecklich, Sie bei uns als Gast begruessen zu duerfen. Wenn ich Ludwig recht verstehe, wollen Sie erst das Studium zu Ende bringen, bevor Sie sich aufmachen, Ihre Ergebnisse in Deutschland und Europa vorzustellen. Ich moechte Ihnen jedoch nahe legen, schieben Sie es nicht zu lange hinaus. Man gewinnt auf Reisen nicht nur Freunde, sondern auch Inspirationen fuer die eigene Arbeit." Dieser Rat ging bei dem reisefaulen Gauss allerdings fehl, der ausserdem nicht an einem Zuwenig, sondern an einem Uebermass an Einfaellen litt. "Wir in Petersburg haben ein grosszuegiges Budget, um auslaendischen Kollegen die Reisespesen zu bezahlen", fuegte er hinzu. "Einzige Bedingung ist, dass Sie zuvor eine kurze Zusammenfassung ihrer Forschungen zur Beurteilung an die Akademie der Wissenschaften senden; in Ihrem Fall ist das eine reine Formsache, ich kenne die Bedeutung der Resultate ja bereits." "Gute Idee", sagte Harding. "Gauss sollte den Bericht auch an andere Institutionen verschicken. Auf diese Weise ist er sicher, dass seine Ergebnisse ueberall bekannt werden - eine wichtige Voraussetzung, wenn er spaeter in der Wissenschaft arbeiten will. Selbst diejenigen, die schon von ihm gehoert haben, werden sich freuen, etwas Schriftliches in die Hand zu bekommen." Diesen Ratschlaegen entsprechend erhielt die Petersburger Akademie der Wissenschaften einige Wochen spaeter folgenden Brief: "Bei der gespannten Aufmerksamkeit aller Astronomen auf die wichtige, Anfang des Jahres von Piazzi gemachte Entdeckung eines neuen Planeten hoffe ich, dass die kaiserliche Akademie der Wissenschaften die Freiheit, die ich mir nehme, ihr eine kurze Uebersicht der Resultate meiner ueber die Bahn dieses Planeten gefuehrten Rechnungen vorzulegen, guetigst verzeihen wird, umso mehr, da die langen Winternaechte in St. Petersburg und die betraechtliche noerdliche Deklination, welche die Ceres jetzt haben muss, hoffen lassen, dass sie sich daselbst erfolgreich finden und beobachten laesst. Ich darf mich begnuegen, nur die wichtigsten Ergebnisse aufzufuehren, da ein ausfuehrlicher Bericht von meinen Rechnungen in des Herrn von Zach Monatlicher Korrespondenz im Dezember bereits abge-druckt wurde. Von den dabei gebrauchten Methoden habe ich vielleicht in Zukunft die Ehre, der kaiserlichen Akademie eine vollstaendige Darstellung vorzulegen." Damit waren persoenliche wie offizielle Kontakte nach Russland hergestellt, die sich insofern auszahlten, als Gauss ein Jahr spaeter (1802) zum korrespondierenden Mitglied der Petersburger Akademie gewaehlt wurde, seine erste akademische Ehrung ueberhaupt - ohne dass dies in seinen Augen von grossem Nutzen gewesen waere, da er immer noch plante, sich in Braunschweig als Geometer niederzulassen. - Eines Tages, im Sommer des Jahres 1803, befand er sich auf einer Gartenparty im Haus eines Braunschweiger Pfarrers. Die letzten Tage waren warm und trocken gewesen, die Abende mild und das gute Wetter versprach anzuhalten. Das Fest wurde vom Sohn der Familie, mit dem Gauss weitlaeufig bekannt war, anlaesslich seines 25. Geburtstages organisiert. Die Schwester - und das machte die Sache interessant - war aufgefordert worden, alle Freundinnen einzuladen, derer sie habhaft werden konnte. Das Pfarrhaus lag an der Stadtperipherie und war von einem weitlaeufigen, liebevoll in franzoesischem Stil gestalteten Garten umgeben. Aus Anlass des Festes hatte man keine Muehe gescheut, das romantische Ambiente noch zu verstaerken. Das Gras war praezise kurz geschnitten und Baeume und Straeucher neuerlich gestutzt worden. Ueberall im Garten hingen Lampions, die noch den hintersten Winkel erleuchteten, und auf der Terasse spielte eine kleine Kapelle leise Melodien. Die laue Luft, die vielen jungen Maedchen auf dem Gelaende, Gauss kam sich vor wie im Garten der Lueste. Anders als im steifen und verschlafenen Goettingen, wo, wenn man abends nach dem Ende ermuedender Vorlesungen durch die Gassen schlurrte, hoechstens mal eine schreckhafte Magd an einem vorbei huschte und der Zutritt zu Buergerhaeusern, in denen die hoeheren Toechter lebten, Studenten fuer gewoehnlich verwehrt blieb, waren die Dinge in Braunschweig wesentlich mehr im Fluss. Die Klassen durchmischten sich staerker; Buerger und Handwerksmeister fanden wenig dabei, zu Familienfeierlichkeiten auch ihre Untergebenen und Gesellen einzuladen. Vielleicht aber waren das nur Vorurteile, vielleicht war Gauss in Goettingen, wo er nach erfolgreichem Examen inzwischen seine Zelte abgebrochen hatte, noch nicht so weit gewesen, den Budenzauber mitzumachen, den manche Kommilitonen veranstalteten, vielleicht fuehlte er sich in der Vaterstadt einfach wohler als in der Fremde ... Natuerlich hatte er sich von seinen Freunden, allen voran Bolyai, gebuehrend verabschiedet. Ein schaler Geschmack war trotzdem geblieben. Sosehr man sich auch versprochen hatte, den Kontakt auf jeden Fall aufrecht zu erhalten, wussten beide nur zu genau, hier war der erzwungene Abbruch einer Freundschaft zu beklagen, die in dieser Form nie wieder erstehen wuerde. Der Ungar hatte Goettingen wenige Monate nach Gauss verlassen, um in seine Heimat zurueckzukehren, und es war hoechst ungewiss, ob sie sich jemals wiedersehen wuerden. Unter den damaligen Verhaeltnissen, man experimentierte gerade erst mit Dampfmaschinen als Mittel zur Fortbewegung, war Ungarn von Braunschweig mindestens so weit entfernt wie Amerika heutzutage fuer uns. Die Trennung von Bolyai empfand der junge Gauss als den groessten Verlust, den er bis dato erfahren hatte, und gab vielleicht den Anstoss dafuer, dass sich seine Einstellung gegenueber oeffentlichen Verlustierungen (und insbesondere Gartenparties) aenderte. Ihm war deutlich geworden, dass er sein Leben auf keinen Fall ohne Frau und Familie verbringen wollte. Zwar befriedigten und motivierten ihn seine Studien nach wie vor ueber alle Massen - er haette auch weiterhin wochenlang und ohne aeusseren Zuspruch bis in die Naechte hinein bei Kerzenlicht ueber Figuren und Formeln brueten koennen - doch genauso rational, wie er die Probleme in seinen Uebungsbuechern analysierte, erkannte er, dass er heiraten und Kinder haben wollte. Die nagende Sehnsucht nach einem weiblichen Wesen war so uebermaechtig, dass er mit alten Einstellungen brach und es durchaus nicht mehr als Zeitverschwendung ansah, die Abende statt in seiner Stube in der Oeffentlichkeit zu verbringen. Er hatte ehrliche Absichten und keine ausgefallenen sexuellen Vorlieben. Er waere vollkommen zufrieden gewesen, moeglichst rasch eine Frau zum Heiraten zu finden, eine liebe, huebsche, anschmiegsame Gefaehrtin, die ihm ein behagliches Heim garantierte. Leider fing er sich anfangs, was fuer junge Maenner nicht ungewoehnlich ist, einige Koerbe ein. Er machte naemlich den Fehler, sich auf viel umschwaermte Schoenheiten zu konzentrieren, die verlockendere Angebote als von einem aufstrebenden Mathematiker hatten. Sein Name war zwar in aller Munde, doch niemand wusste genau, was er eigentlich so Bahnbrechendes geleistet hatte und vor allem, wie sich seine Zukunft gestalten und wieviel Geld er verdienen wuerde. Gewiss, er war nicht haesslich, er hatte ein einnehmendes Gesicht, hielt sich gerade und besass die ueblichen Vorzuege und die Frische der Jugend; im Vergleich zu anderen Heiratskandidaten aber war er, auch von seinen koerperlichen Vorzuegen her, nicht mehr als durchschnittlich begabt. Da er seit der Kindheit mehr Zeit in Studierstuben und Hoersaelen verbracht hatte als beim Muskeltraining und auf Sportplaetzen, mangelte es ihm an breiten Schultern und anderen Attributen, die seine Gestalt fuer Frauen unwiderstehlich gemacht haetten. Ausserdem ging ihm das Gespuer ab, auf den ersten Blick zu erkennen, wann sich ein Maedchen fuer ihn interessierte. Wiederholt sprach er junge Damen an, die bereits verlobt waren oder aus den anderen, genannten Gruenden wenig Interesse zeigten. Gauss war 22, als er aus Goettingen zurueckkam, doch es vergingen mehrere Jahre, bis er seine Absichten in die Tat umsetzte und ernsthaft engeren Kontakt mit weiblichen Wesen aufnahm. Da war er 24, und danach verrannen noch einmal zwei erfolglose Sommer und Winter. Er hat sich mit Fragen gequaelt, ob er vielleicht nicht intensiv genug auf Brautschau ging. Besonders die dunklen, tristen Wintermonate des Jahres 1803 waren entsetzlich gewesen, in denen er von Depressionen und boesen Ahnungen heimgesucht wurde. In den Sommern konnte man allerlei Kontakte knuepfen und sich der Illusion hingeben, aus einem davon werde sich schon etwas entwickeln; doch im Winter fanden nur selten Feste und Tanzveranstaltungen statt, ausser zu Sylvester, und spaetestens im Januar ueberfiel ihn die endgueltige Einsicht, sein Leben werde freudlos dahingehen ... - Er war einem Sportverein beigetreten und traf sich einmal die Woche mit einem Stammtisch junger Akademiker, vor allem Juristen. Bei keiner dieser Veranstaltungen waren Frauen zugelassen, doch mit den jungen Maennern lernte er unweigerlich auch deren Familien kennen, samt Schwestern und Kusinen. Ueberdies verhalfen ihm die Kontakte zu aufstrebenden Juristen in Zukunft womoeglich zu Auftraegen, auf die er als Geometer angewiesen sein wuerde, oder gar zu einer Stelle im Staatsdienst. Der Aspekt des beruflichen Fortkommens war ihm im Moment allerdings weniger wichtig als die Suche nach einer Ehefrau. Der Herzog hatte erst kuerzlich sein Stipendium um zwei Jahre verlaengert, und ein Ende der Foerderung liess sich im Grunde nicht absehen. Man war hoeheren Ortes ueberein gekommen, dem grossen Talent muesse Gelegenheit gegeben werden, seine selbststaendigen Forschungen fortsetzen koennen. Er machte sich inzwischen begruendete Hoffnung, eine Professorenstelle zu erhalten. Freilich, das hiesse, Braunschweig verlassen und den Umzug in eine ferne Stadt in Kauf nehmen. Fuss und Zach-Olbers hatten in St. Petersburg so viel Gutes ueber ihn verbreitet, dass man dort daran dachte - so wurde jedenfalls in Norddeutschland kolportiert - ihn zum Nachfolger Eulers zu berufen. Das Angebot, wenn es denn kam, wuerde er wohl annehmen muessen - aus Karrieregruenden und wegen der vielfaeltigen Moeglichkeiten, die sich einem Institutsleiter boten. Doch alles in ihm straeubte sich, so weit von Braunschweig entfernt sesshaft zu werden. Bei den damaligen Verkehrsverhaeltnissen und dem Zustand der russischen Wege, wuerde er seine Vaterstadt hoechstens alle 5 oder 10 Jahre besuchen koennen. Gauss war nicht der Mensch, sich die grosse weite Welt um die Nase wehen zu lassen. Er hoffte, dass er es niemals noetig haben wuerde, mit ungewissen Aussichten von einem Ort zum anderen zu ziehen, wie mancher junge Astronom, den er in Goettingen kennengelernt hatte, sondern dass seine Bekanntheit ihm schnell zu einer festen Position verhelfen wuerde. Andernfalls blieb immer noch die Option, endgueltig auf den Berufspfad des Landvermessers einzuschwenken. Bei seiner Rueckkehr nach Braunschweig hatte er zuerst die zahlentheoretischen Ergebnisse der Goettinger Zeit zusammengetragen und diese Schrift zur Promotion an der Universitaet Helmstedt eingereicht. Es war eine derart praezise und weitsichtige Abhandlung, dass sie noch heute von Mathematikern als Vorlage fuer ihre Forschungen benutzt wird. Damals ist sie nur von wenigen Fachkollegen verstanden worden, aber dass da etwas im Keimen war, was man foerdern und hegen musste, und nicht verkuemmern lassen durfte, das ist auch Aussenstehenden und mathematischen Laien wie dem Herzog Carl Wilhelm Ferdinand evident gewesen. Zur Zeit jener Gartenparty konzentrierte er sich auf die Geometrie, zum einen, weil das zu der Option passte, sein Geld als Geometer zu verdienen. Uebrigens ist ihm diese Aussicht im Vergleich zu einem Professorentitel nie zweitrangig vorgekommen. Die ruhige und ueberlegte, durchaus hoch qualifizierte Arbeit des Landvermessers schien ihm ehrlich erstrebenswert, die Beschwerlichkeiten der Arbeit und Bewegung unter freiem Himmel, oftmals tagelang ohne nach Hause zu kommen, ueber unwegsames oder unerkundetes Gelaende reisen zu muessen - damals gab es zwischen den Staedten noch keine Strassen im heutigen Sinn, und in den Provinzen vielfach nicht einmal einfache Forstwege - konnte er sich mangels konkreter Erfahrung nicht vorstellen. Fuer ihn war die Geodaesie die elementarste Form, Macht ueber die Natur zu gewinnen, nicht indem man sie subjektiv nach ihrem Geldwert, sondern objektiv nach schierer Groesse bemisst. Die Geometrie war aber auch vom Standpunkt der hoeheren Mathematik ein lohnendes Forschungsobjekt. Schliesslich hatte er schon 8 Jahre zuvor mit seinem Ergebnis ueber das 17-Eck einen sensationellen Erfolg erzielt, an den er anknuepfen konnte. Nunmehr wandte er sich maehlich gekruemmten, zweidimensionalen Flaechen zu, wie sie der Geometer zu verwalten hat, und suchte nach Moeglichkeiten, sie koordinaten-unabhaengig, das heisst, aus sich selbst heraus zu beschreiben. Erst Riemann hat die Resultate spaeter auf hoeher-dimensionale Raeume verallgemeinert. Gauss sah darin bis kurz vor seinem Tode keine Notwendigkeit. Er konnte bei seinen Ueberlegungen auf die Theorie gekruemmter Kurven zurueckgreifen, die schon seit mehr als hundert Jahren bekannt war. Eine gekruemmte Linie ist nichts als die Funktion einer Veraenderlichen, und heutzutage lernt jeder Schueler, dass deren Kruemmung durch die zweite Ableitung dieser Funktion bestimmt wird. Analog entspricht eine gekruemmte Flaeche einer Funktion zweier Variabler, der x- und der y-Koordinate, die auf einer Ebene gegeben sind, und es war jedem Experten klar, dass wieder die zweiten Ableitungen die Kruemmung liefern mussten. Das Problem bestand darin, dass ein und dieselbe Flaeche durch verschiedene solcher Funktionen dargestellt werden kann und diese Funktionen im allgemeinen verschiedene zweite Ableitungen besitzen ... das Problem der Parametrisierungsabhaengigkeit, ueber das Gauss schon auf der Klassenfahrt in den Harz reflektiert hatte. Jetzt machte er sich systematisch daran, nach Groessen zu suchen, gebildet aus Kombinationen von ersten und zweiten Ableitungen, die nicht von der Parametrisierung abhaengen, sondern nur von der Metrik, das heisst, von der Art, wie auf der Flaeche Entfernungen gemessen werden. Auf diese Weise traf er als erster die wichtige Unterscheidung zwischen den inneren(=Metrik und Kruemmungsradien) und aeusseren(=die Art und Weise, wie sie in den Raum eingebettet ist) Eigenschaften einer Flaeche. Er stiess auf die heute so genannte Gauss'sche Kruemmung, die zwar nicht fuer die einfache, wohl aber fuer die hoehere Geodaesie von erheblicher Bedeutung ist. Und schliesslich benutzte er diese Groesse, um alle zweidimensionalen Flaechen zu klassifizieren. Die Flaechen, die er betrachtete, waren immer 'glatt', das heisst, ueber kleine und kleinste Unebenheiten des Bodens oder Pflanzen mit ihren Blaettern, Blumen oder spitzen Dornen usw sieht man hinweg, wie es ein Geometer eben tut, und er ist also von differenzierbaren Flaechen ausgegangen, was zum damaligen Zeitpunkt und noch heute und moeglicherweise auch in Zukunft keine grosse Einschraenkung ist (aber wer weiss schon, was kommen wird), und hat eine Reihe von weitreichenden theoretischen Ergebnissen erzielt. - Natuerlich hatten ihn all diese Forschungen bei der Suche nach einer Frau nicht einen Schritt weitergebracht, sondern nur die Zeit ueberbrueckt ... Beim Eintritt ins Pfarrhaus waren ihm gleich ein paar gut aussehende Maedchen aufgefallen - woran man sieht, wie sehr sich sein Koordinatensystem verschoben hatte - und eines von ihnen, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam, quittierte seinen Blick mit einem langen, neugierigen Laecheln. Leider stand sie mit Haeussler zusammen. Ausgerechnet Haeussler. Der die Politik schon lange aufgegeben hatte und, obwohl er dabei war, sich in Goettingen festzusetzen, haeufig in Braunschweig auftauchte. Im Moment voll und ganz damit beschaeftigt, die Kleine fuer sich einzunehmen. Sie hiess Hanna Osthoff und war die Tochter eines Gerbermeisters, ein huebsches Geschoepf, drei Jahre juenger als Gauss, von heiter-besonnenem Temperament und mit lebendigen Zuegen. Sie hatte gelegentlich von seinen Erfolgen und Aussichten als Mathematiker gehoert und sich sein Gesicht eingepraegt. Aus Gruenden, die bei jeder Frau im Dunkeln liegen, hatte sie es nicht auf einen der aufstrebenden jungen Kaufleute abgesehen, sondern auf intelligente Akademiker a la Gauss oder Haeussler. Ihre Figur und Aussehen waren ganz danach, dass sie die meisten Maenner um den Finger wickeln konnte und denjenigen auch bekommen wuerde, den sie sich in den Kopf setzte. Sie war gross und schlank und hatte langes schwarzes Haar, dessen Pony die hohe, ebene Stirn verdeckte, und gesunde weisse Zaehne. Sie bemerkte die Blicke wohl, die Gauss ihr bei seiner Ankunft zuwarf, doch fiel ihr auch auf (und das alles, waehrend sie mit Haeussler plauderte), dass er nach ihr noch Andere taxierte. - Wie denn auch sie verschiedene Moeglichkeiten in Betracht zog. Haeussler, dessen Gesicht sich unnatuerlich verzog, als er Gauss eintreten sah, war so ein Kandidat, der ihr aeusserlich mindestens ebenso gut gefiel, von groesserer Statur als der Mathematiker und mit vollerem Haar. Doch hatte sie wohl vermerkt, dass in der Oeffentlichkeit von seinen Talenten weniger die Rede war. Immerhin, es gab mehrere Alternativen, sie wuerde ruhig abwarten, wie sich der Abend entwickelte. Etwas spaeter stand sie neben der Gastgeberin, ihrer Freundin Lisa, und unterhielt sich mit ihr ueber die Organisation des Festes; da trat Haeussler erneut heran. Er wollte noch einmal mit ihr ins Gespraech kommen, so gut gefiel sie ihm, und sich mit ihr verabreden. Vorhin waren sie unterbrochen worden, ehe er die Rede darauf bringen konnte. Lisa verstand sofort und entfernte sich bald. So standen sie beieinander, fuer jedermann sichtbar im Zentrum des Gartens, und besprachen sich 10 Minuten lang angeregt, ja vergnuegt, sie sahen sich suchend in die Augen, und zum Schluss lud er sie zu einem Picknick mit seinen Eltern ein. Gauss beobachtete die Beiden und aergerte sich. Er stellte fest, dass ihm Haeussler dauernd in die Quere kam; genau dies Maedchen wuerde auch ihm vortrefflich gefallen, das wusste er. Als er Haeussler so lange mit ihr herumstehen sah, empfand er das wie eine Herausforderung. Erst dadurch wurde er vollends auf sie aufmerksam und vergass alle anderen Frauen, die ihn auf dieser Party eventuell auch interessiert haetten. Ohne bewusst darueber Rechenschaft abzulegen, fixierte er sich auf Hanna Osthoff und wuerde nicht zufrieden sein, bevor er nicht noch diesen Abend mit ihr gesprochen hatte. Zwei Stunden spaeter, die Dunkelheit war schon hereingebrochen, sah er sie mit dem Sohn des Pastors zusammen stehen. Auch der versuchte also sein Glueck! Hanna hatte ihm allerdings schon mehrfach ihr Desinteresse signalisiert. Aus mehrjaehriger Praxis beherrschte sie das Verfahren perfekt, den direkten Blick eines unerwuenschten Bewerbers niemals zu erwidern, sich ihm nur aus objektiver Notwendigkeit zu naehern, und sich jedesmal so schnell zu verabschieden wie die Regeln der Hoeflichkeit zuliessen. Gauss wusste freilich nichts von ihren Gefuehlen. "Lieber Freund", dachte er nur, "dein Pech, dass du mit mir so gut bekannt bist" und gesellte sich frech den Beiden hinzu. Eine seltene Entschlossenheit hatte ihn gepackt, und der Pfarrerssohn sah sich gezwungen, ihn vorzustellen, nicht ohne giftige Seitenblicke, die bedeuten sollten, er laufe Gefahr, nicht wieder eingeladen zu werden, wenn er nicht baldmoeglichst sich trolle. Gauss war nicht in der Stimmung, sich beirren zu lassen und mit derselben Wucht, die sonst die schwierigsten mathematischen Probleme loeste, stuerzte er sich blindlings ins Gemetzel. Tatsaechlich konzentrierte das Maedchen seinen Blick und ganze Haltung sofort vollstaendig auf den Hinzugetretenen; der Bruder der Freundin sollte endlich begreifen, dass er bei ihr keine Aussichten hatte. Gauss wusste den starren Blick der Dame zu deuten. Er nahm die Gelegenheit wahr und trat, wie nur selten bei Fremden, ganz aus sich heraus, und die beiden begannen einen so intensiven Dialog, als haetten sie den dumm Danebenstehenden voellig vergessen. Gauss erzaehlte drauflos, von den zwei Jahren in Goettingen, von seiner Schulzeit und Kindheit, und ploetzlich gab es viele Beruehrungspunkte; es stellte sich naemlich heraus, dass sie aus dem gleichen Viertel stammte; und er raetselte, warum er sie damals nie gesehen hatte. Aber so ist das eben, kleine Maedchen fallen den Jungen gewoehnlich erst auf, wenn sie geschlechtsreif sind. Sie wussten sich ueber alles moegliche zu unterhalten; da war eine weite vertraute Ebene, die sich vor ihnen auftat, als berge jeder Satz und jedes Wort, das sie sprachen, gemeinsame Erfahrungen, und etwas kam ins Schwingen wie oefter bei Leuten, die die soziale Welt aus derselben Perspektive wahrnehmen, Endlich verzog sich der Pfarrerssohn mit finsterer Miene. Die Freundschaft mit Gauss war fuer ihn beendet. In der Gruppe junger Maenner, zu der sie gehoerten, lauerte hinter einer friedlichen Fassade der Krieg, ein unerbittlicher Konkurrenzkampf um das andere Geschlecht und die fruchtbarsten Frauen. Gauss' Verhaeltnis zu diesen Bekannten in Braunschweig war ganz anders als das zu Bolyai, oberflaechlicher und durchaus sich bewusst, dass eine solche 'Freundschaft' in jenem Kampf leicht in Abneigung, ja Hass, sich verwandeln konnte. Im Moment vergeudete er seine Zeit natuerlich nicht mit Reflexionen ueber den Wert von Maennerfreundschaften, sondern packte die Gelegenheit beim Schopfe. Er wagte sich weit vor und fragte direkt, ob er sie wiedersehen koenne. Und in seiner momentanen Extrovertiertheit fiel ihm ein, diese Frage mit dem Kompliment zu garnieren, unter allen Freundinnen von Lisa sei sie mit Abstand die schoenste. "Mit Freude", sagte sie laechelnd (denn alles in ihr draengte sich nach ihm) jedoch mit schlechtem Gewissen (da sie ja schon mit Haeussler verabredet war). "Ach was", dachte sie dann, "solche Rendezvous bedeuten gar nichts", und betonte nachdruecklich, wie sehr sie sich freuen wuerde, wenn er sie zu Hause bei ihren Eltern besuchte. Haeussler war ins Haus gegangen, um sich etwas zu essen zu holen, und geriet dabei in ein Streitgespraech mit dem politisierenden Pastor ueber die Entwicklung in Frankreich, das er schliesslich mit der Bemerkung abbrach, er halte schon seit Jahren nichts mehr von der franzoesischen Revolution, und sei also die falsche Adresse, sich ueber die imperialen Gelueste der ehemaligen Revolutionaere zu beschweren. So entging ihm der Erfolg seines Feindes. In den folgenden Wochen liess Hanna beide Bewerber ungefaehr auf dieselbe Entfernung an sich herankommen. Sie hatte sowohl Gauss wie Haeussler in ihr Herz geschlossen und konnte sich schwer entscheiden, einem von ihnen den Vorzug zu geben. Sie wartete, ob ueberhaupt ein Antrag erfolgen wuerde, und meinte, dann sei immer noch Zeit, sich endgueltig festzulegen. Geschickt verhinderte sie, dass die Haehne einander in die Quere kamen, und so wurde keiner gewahr, wie weit die Bemuehungen des anderen gediehen. Beide waren gleichermassen und heftig verliebt und meinten, Hanna's Verhalten gebe Anlass zu hoffen, dass ihre Gefuehle erwidert wuerden. Das Maedchen schien wahrlich nicht abgeneigt, sich mit ihnen einzulassen; immer suchte oder erwiderte sie den Augenkontakt und ermunterte jede Avance. Wenn Gauss und Haeussler abends in ihren dunklen Betten lagen, wurden sie von zarten Gefuehlen regelrecht uebermannt. Das Maedchen war ihnen ja so teuer! Wie gern wuerden sie sie an ihr Herz druecken (und dabei ihren warmen Koerper spueren)! Sie war so ruhig, so lieb, so nachgiebig und voll waren ihre Lippen, man konnte den Wert dieser Frau gar nicht hoch genug einschaetzen. "Der Herzog hat mein Stipendium erhoeht", dachte Gauss. "Ich habe mehr als ich allein verbrauche und koennte ohne weiteres eine kleine Familie ernaehren. Ich wuerde sie so gern an die Hand nehmen und durchs Leben fuehren." Dabei streckte er seine Rechte sehnsuechtig in die Luft und stellte sich vor, er beruehre Hannas Handflaeche. Haeussler dachte in dieselbe Richtung; er war bereit, wenn noetig in die Fusstapfen seines Vaters zu treten, um ihr ein sorgenfreies Leben zu bieten. Dann wurde beiden in ihren Betten ploetzlich heiss und bang. Hatten sie ihr auch genug geschmeichelt? Ihr genug Honig in die Haare geschmiert? Frauen liebten es, zu hoeren, wie huebsch und attraktiv sie sind, und sie hatten dies bisher womoeglich nicht deutlich genug zur Sprache gebracht. Dabei waere es bei ihr wahrhaftig nicht die Unwahrheit. Mit brennenden Farben haetten sie ihr ein Bild malen koennen, wie sie sie sahen. Warum hatte er, Gauss, sich ueber ihre Haltung und Figur nicht laenger ausgelassen, und er, Haeussler, nicht ueber ihre schoenen Augen. Doch vielleicht waere das nur peinlich und aufdringlich gewesen, dachten sie, sich entspannend. Es war schon genierlich genug, ihr gegenueber zu sitzen und zu wissen, wie sehr sie sie begehrten; das musste sie ohnehin spueren; und es vereinfachte nicht gerade die Zusammenkuenfte, wenn sie noch darauf herumritten. Nein, fuers erste wollten sie weiter unverfaenglich mit ihr plaudern. Das an sich machte bei einem so reizenden Geschoepf schon Vergnuegen. Trotz aller Hemmungen fielen ihnen bei den Rendesvous immer neue Themen ein, die sie mit ihr besprechen konnten. Ihr schien das zu gefallen; nie zeigte sie sich gelangweilt; noch der langatmigsten Beschreibung wissenschaftlicher Projekte zollte sie Bewunderung. Man wird", sagte der Alte, "meinen Worten unschwer entnehmen, dass Hanna Osthoff eine attraktive Frau mit einer gewissen Intelligenz, aber ohne grossen Ehrgeiz oder spezielle Talente gewesen ist. Ich bitte jedoch, diese Tatsache nicht allzu negativ zu beurteilen! Schliesslich kann nicht jeder Mensch ein Genie sein; das wuerde nicht funktionieren. Gauss und Haeussler jedenfalls haetten wenig mit einer begabten Frau anzufangen gewusst und solche Merkmale eher als stoerend empfunden. In einer Verbindung mit ihnen wuerde es um die Selbstverwirklichung der Frau gewiss nicht besonders bestellt sein. Doch Hanna besass, was bei den ersten vorsichtigen Annaeherungen nicht zutage trat, einen robusten Charakter und viel, schwarzen und weissen, Humor; sie wuerde, mit ihrer innerlichen Heiterkeit, sogar einem launischen oder gar schwermuetigen Gatten Paroli bieten; und so etwas fuehrt eine Ehe sicherer zum Erfolg als jeder andere Vorzug. Wochen und Monate vergingen. Der Herbst zog ins Land. Sowohl Gauss wie Haeussler hatten Hemmung, ihren Antrag vorzubringen. Gegen jeden Anschein fuerchteten sie, doch abgewiesen zu werden, und meinten, es waere besser, die Bekanntschaft in aller Ruhe noch zu vertiefen. Vielleicht haette sich alles anders entschieden, wenn sie von ihrer Konkurrenz gewusst haetten! Bei Haeussler ging die Befangenheit so weit, dass er seine Zuneigung schliesslich in einem Brief offenbarte, den er lange wog und aenderte, und erst abschickte, kurz bevor er zu einer laengeren Studienreise nach England aufbrach. In dem Brief bat er um schriftliche Antwort auf seinen Antrag. Er mochte ihr nicht gegenueber stehen, falls er abgewiesen wurde. So verklemmt war der Ex-Revoluzzer! Doch ach, sein Brief ging verloren. Es war einer jener Zufaelle, die einem jungen Leben, das sich im breiten Strom der Zeit gerade behaglich einrichten will, eine tragische Richtung geben. Denn seine anschliessende Abwesenheit entschied die Situation. Hannas Zutrauen zu dem Rivalen vertiefte sich derart, dass sie ohne grosses Zoegern ihre Zustimmung gab, als er endlich allen Mut zusammennahm und ihr seine Vorschlaege unterbreitete. Im Juli 1804 konnte Gauss an Bolyai schreiben: "Ich habe ein Maedchen kennengelernt, wie ich es mir als Partnerin immer gewuenscht habe. Ein wunderschoenes Gesicht, ein Spiegel des Seelenfriedens, zaertliche schwaermerische Augen, eine gute Figur (ja, ja), ein heller Verstand, eine gebildete Sprache und dazu eine stille heitere Seele, die niemandem weh tun kann. Seit drei Tagen ist sie meine Braut, und ich koennte nicht gluecklicher sein. Mehr noch, ich haette mir nicht vorstellen koennen, dass es einen solchen Zustand vollkommener Seligkeit ueberhaupt gibt. Das Leben liegt vor mir wie ein ewiger Fruehling mit funkelnden Farben. Sie ist viel besser als ich und wahrscheinlich habe ich sie gar nicht verdient; ich bin nicht schoen, nicht galant, ich habe nichts anzubieten als ein grosses Herz voll treuer Liebe. Im letzten Winter noch verzweifelte ich, je eine Frau zu finden, und jetzt! Jeder Tag gibt mir neue Buergschaften fuer mein Glueck." - Eines Nachts hatte Gauss einen schrecklichen, bizarren Alptraum: Er irrte allein durch dunkles Dickicht und wusste, dass Hanna im Sterben lag. Wenn er sie noch einmal lebend sehen wollte, musste er so schnell als moeglich aus diesem finsteren Forst heraus. Doch es gab kein Entrinnen. Wann immer er in der Ferne einen Lichtschein ausmachte, stellten sich Ungeheuer ihm entgegen; sie spuckten Feuer, sie schlugen nach ihm und lenkten ihn so lange ab, bis das Licht erlosch. Schliesslich erreichte ihn die Nachricht, dass sie tot war. Voellig verzweifelt wachte er auf; und da lag seine Frau ruhig schlummernd neben ihm, den Kopf halb ins Kissen gedrueckt, Haare, Wange und Augenlider derangiert - und trotzdem sah sie huebsch und reizvoll aus. Gauss empfand seine Beziehung zu ihr wie ein fortwaehrendes Wunder, ja, das war es, ein groesseres Wunder als seine geniale Begabung, und beide, Frau und Begabung, waren ihm von einem wohlmeinenden Schicksal geschenkt worden. Erleichtert drehte er sich ihr zu und legte seine Handflaeche auf ihre Huefte, vorsichtig, damit sie nicht wach werde; das erregte ihn zuerst und, da sie nicht reagierte, beruhigte ihn dann so sehr, dass er wieder einschlief und erst munter wurde, als helles Morgenlicht ins Zimmer fiel. Die Gaussens waren kurz nach der Hochzeit in eine kleine Wohnung im Braunschweiger Westen gezogen. Viel Platz hatten sie nicht, aber das Quartier war fuer damalige Verhaeltnisse hochmodern, helle Zimmer vertrieben truebe Stimmungen und neue Oefen mit blitzenden Kacheln sorgten fuer eine ansprechende Athmosphaere. Bevor sie einzogen, hatten sie die Raeume gemeinsam renoviert und weiss gestrichen. Gauss sparte, zum ersten Mal in seinem Leben, nicht mit Mitteln und schaffte solides wertbestaendiges Mobiliar an, das fuer viele Jahre den Kern seiner Wohnungseinrichtung bildete. Natuerlich setzte er seine theoretischen Studien fort, mit leichterer Hand als jemals zuvor. Gleichzeitig entwickelte er Plaene, die herzoeglichen Laendereien, und eventuell auch die der angrenzenden Fuerstentuemer, neu und umfassend geodaetisch zu vermessen. Daneben fand er genug Zeit, zusammen mit seiner Frau ein sorgloses Dolce Vita zu fuehren, ohne grosse Verpflichtungen. Sie trafen sich haeufig mit anderen jungen Paaren in aehnlicher Lage, privat oder bei oeffentlichen Tanzveranstaltungen, und genossen ihr Leben auf eine Art, die Gauss von zuhause, und auch vom Studium her, voellig fremd war. Frueher war er immer irgendwie angespannt gewesen und unbefriedigt, und hatte staendig das Gefuehl gehabt, etwas Wichtiges zu versaeumen, wenn er sich nicht sofort wieder zu seinen Buechern begab. Und der Besuch von Gartenparties war auch nicht ganz zweckfrei gewesen. Nun aber nahm er sich einfach die Zeit fuer Vergnuegungen und fuer Hanna. Ja tatsaechlich, nun gab es etwas wichtigeres als seine Studien. Die Beschaeftigung mit den Wissenschaften stand hinter einem menschlichen Wesen zurueck. Sie gab ihm alles auf vielfache Weise mit Zinsen zurueck. Ihr frohes freundliches Wesen verbreitete in seinem Herzen eine Stimmung besonderer Art, die er nie zuvor kennengelernt hatte. Bei seinen Eltern war es recht freudlos zugegangen und auch er selber war nicht gerade ein Ausbund an Lebensfreude. Von Natur eher ein verdriesslicher Charakter, der sich von Rueckschlaegen leicht aus dem Gleichgewicht bringen liess, neigte er zu pessimistischen Urteilen und Einstellungen und agierte haeufig uebervorsichtig, so dass er im praktischen Leben manche Moeglichkeit versaeumte. Seine Erfolge und nun die glueckliche Ehe machten jedoch den Hang zu depressiven Stimmungen mehr als wett. Das grosszuegige Stipendium, das immer wieder verlaengert wurde, gab ihm materielle und soziale Sicherheit. Er konnte sich spaeter an keinen Lebensabschnitt erinnern, in dem er so gluecklich gewesen war; das erklaerte wohl auch die Verlustaengste, die sich in jenem Albtraum ausdrueckten. Seine einzige Sorge betraf Napoleon, der mit seinen Truppen immer tiefer nach Deutschland einrueckte. Wenn ihm nicht bald Einhalt geboten wurde, wuerde er auch Braunschaweig in seine Gewalt bringen; und was dann geschaehe, vermochte sich Gauss nicht auszumalen ... Hanna hatte bemerkt, dass er aufgewacht war und streckte die Beine, um ihn mit ihren Zehen zu kitzeln. Er blinzelte zu ihr herueber und rieb sich die Augen. "Na, wie hast du geschlafen", fragte sie. "Ganz gut" sagte er. Von dem Albtraum mochte er ihn nichts erzaehlen. "Und du? Wie geht es dir." "Auch ganz gut", sagte sie munter, "aber es ginge mir noch besser, wenn du zu mir unter die Decke schluepfen wuerdest, um mich ein bisschen zu waermen." Gauss liess sich das nicht zweimal sagen. Wieder einmal fand er bestaetigt, dass er und Hanna vortrefflich zusammenpassten und ihre Beduerfnisse sich praechtig ergaenzten. Als er eine halbe Stunde spaeter aufstehen wollte, bat sie ihn: "Bleib noch ein wenig. Lass uns noch etwas reden. Du weisst doch, ich mag es nicht, wenn man nach der Liebe so sang- und klanglos auseinander geht. Dein Termin bei der Gueterverwaltung ist doch erst um 11. Erzaehl mir noch mal, wie du deine Plaene vorstellen wirst." Er hatte alles schon mehrmals mit ihr durchgesprochen, und sie hatte ihre Meinung kundgetan, was er anziehen solle und wie er bei der Praesentation vorzugehen habe. Aber er war gern bereit, es noch ein weiteres Mal zu eroertern. Ein selig verliebtes Paar kann sich gar nicht genug mitteilen und ist um so gluecklicher, je mehr es miteinander zu reden hat. Auch die belanglosesten Wiederholungen stimulieren seine Leidenschaft. Er setzte sich also zurueck auf das Kopfkissen. "Heute ist ein wichtiger Tag fuer uns, und ich sollte eigentlich unruhiger sein. Andererseits weiss ich gar nicht, ob ich bei der Geodaesie bleiben werde. Der Herzog ueberlegt angeblich, mir eine Stelle als Astronom zu verschaffen; und ich habe mir ueberlegt, solange das Stipendium laeuft, werde ich mich nicht mit anstrengenden Vermessungen abgeben, sondern lieber meine theoretischen Studien fortsetzen." "Immerhin hast du viel Zeit investiert, um die Plaene auszuarbeiten, und solltest dir bei der Vorstellung entsprechend Muehe geben." "Auf jeden Fall. Ich werde zuerst mit dem Sekretaer und dann mit dem Landesamtmann sprechen, und, wie du empfohlen hast, erst ganz zum Schluss meinen Vorschlag zur Sprache bringen, auch die angrenzenden Fuerstentuemer in die Vermessung mit einzubeziehen." - Als er bei der Gueterverwaltung eintraf, ahnte er schon, dass seinem Konzept nicht die gebuehrende Aufmerksamkeit zuteil werden wuerde. In den Strassen hatte sich das Geruecht verbreitet, Napoleon habe die preussischen Truppen, mit denen Braunschweig verbuendet war, bei Jena vernichtend geschlagen. Und tatsaechlich, in dem Verwaltungsgebaeude schwirrte es wie in einem Bienenkorb. Niemand war in der Lage, ihm zu sagen, wo er den Amtmann antreffen konnte, und als er ihn endlich gefunden hatte, erhielt er statt einer hoeflichen Begruessung einen aufgeregten Vortrag ueber die Austerlitzer Ereignisse; es war, als muesse sich der Mann damit seine Existenzsorgen von der Seele reden. Ehe Gauss es sich versah, wurde er verabschiedet und auf einen ungewissen Termin in der Zukunft vertroestet. Der Sekretaer liess sich an der Vorzimmertuer zwar noch zu einer laengeren Entschuldigung herab, aber Gauss hoerte gar nicht richtig zu. Auch er hatte Angst bekommen. Seine eigene Zukunft, so meinte er, hing ja ebenso vom Fortbestand des Braunschweiger Herzogtums ab. Als er aus dem Gebaeude trat, blickte er noch einmal zurueck. Die Balken des breiten Fachwerkhauses mit seinen vielen Giebeln und Fenstern waren ungewoehnlich bunt gestrichen. Er wusste, dass sich im Hof manchmal Hochzeitsgesellschaften versammelten und an der farbenfrohen Kulisse freuten, bevor sie ins nahe gelegene Standesamt gingen. Er fragte sich, wie dieser Platz wohl in einigen Wochen aussehen und ob er hier jemals wieder Zutritt erhalten wuerde. Wie viele Braunschweiger, sorgte auch er sich um den Herzog, da dieser an der Schlacht teilgenommen hatte. Niemand wusste ihm Moment, was aus ihm geworden war. "Wenn er tot ist, koennen wir einpacken", sagte er daheim zu Hanna. "Mein Stipendium, meine ganzen Zukunftsplaene, alles ist so fest an seine Person geknuepft. Ohne ihn werde ich vermutlich gezwungen sein, mir anderswo Arbeit zu suchen. Falls ich in den Nachkriegswirren ueberhaupt eine Beschaeftigung finde!" Hanna richtete sich innerlich und aeusserlich auf und strahlte ihn wie ein helles Licht an. "Das wuerde mir ueberhaupt nichts ausmachen", behauptete sie ruhig, in dieser Minute mannhafter als Gauss. Er solle sich nur keine Sorgen machen. Sie fuehle sich, solange er bei ihr sei, stark genug, neu anzufangen. Ausserdem, von der preussischen Niederlage muesse sich wohl jeder bedroht fuehlen. Er aber, mit seinen Faehigkeiten, werde ueberall Arbeit finden. Die Franzosen haetten sicher von ihm schon gehoert. So leicht liess sich Gauss nicht beruhigen. Er hatte sich seine Zukunft ganz gesichert vorgestellt und fand sich nun auf schwankendem Boden. Instinktiv fuerchtete er, das Schiff seines Lebens koenne in dieselben Wasser geraten wie das seines Vaters. Auch meinte er, besser als Hanna abschaetzen zu koennen, dass sich die franzoesische Soldateska um einen Mathematiker nicht scheren werde. Von all dem aber liess er nichts verlauten, sondern gab ihr halbherzig recht. Erst kuerzlich habe er wieder Korrespondenz mit St. Petersburg gehabt, wo sie bekanntlich immer noch einen Nachfolger fuer Euler suchten. Dann jedoch schwieg er bedrueckt. "Ich kann es nicht ertragen", sagte Hanna nach einer Pause, "dich so bekuemmert zu sehen. Aber ich weiss auch keinen besseren Rat als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Am besten waere es, du wuerdest deine Sorgen fuers erste vergessen ..." "Wie kann ich gelassen bleiben, wenn ich voraussehe, dass naechsten Monat mit dem Stipendium Schluss ist?" "Versuch es doch einfach. Komm, wir wollen es uns auf unserem neuen Sofa gemuetlich machen." Er setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme, und natuerlich lenkte ihn das von seinen Zukunftsaengsten ab. Hanna erregte ihn, und spaeter oeffnete sie ihren Koerper, und alle Anspannung wich von ihm. Es folgten ungewisse Tage und Naechte, Wochen und Monate. Er nahm Verbindung zu verschiedenen Universitaeten und Forschungsinstituten auf, vor allem in Laendern, die nicht vom Krieg betroffen waren, musste jedoch meist lange warten, bis er Antwort erhielt. Anfangs fiel es ihm schwer, Bitt- und Bewerbungsbriefe an Menschen zu schreiben, die er hoechstens dem Namen nach kannte. Nachdem er aber gemeinsam mit Hanna ein wiederverwendbares Muster entworfen hatte, hielt sich der Aufwand in Grenzen. "...in Braunschweig hat uns ein unglueckliches Geschick getroffen. Wenige Tage zuvor noch im Genuss von allen Segnungen des Friedens, sahen wir unsere Fluren auf einmal zum Schauplatz des Krieges werden, unseren geliebten Fuersten toedlich verwundet, kaum ein paar Tage Ruhe in seinem Lande findend, die Verfolgungen der Feinde fliehend, und bald in fremder Erde begraben." Solche oder aehnliche Saetze standen in den Briefen, samt einer vollstaendigen Anpreisung und Auflistung seiner Resultate und Publikationen. Insgeheim fuerchtete er sich davor, zu einem Vorstellungsgespraech eingeladen zu werden. Nicht dass er Lampenfieber gehabt haette. Sein Talent, meinte er, wuerde sich ueberall durchsetzen. Doch konnte man sich in jenem Jahr als Zivilperson nur schwer in Europa bewegen. Er waere heilfroh gewesen, fuers erste in seiner vom Krieg weitgehend verschonten Heimatstadt bleiben zu koennen, und wuenschte sich nichts weniger als fern der Heimat zum Freiwild militaerischer Willkuer zu werden. Einer der Briefe war nach St. Petersburg gegangen, an Nikolaus Fuss, und von ihm erhielt er endlich, nach langem Warten, einen positiven Bescheid. Doch hatten die Petersburger, wie sich herausstellte, zu lange gezoegert. Sie bekamen ihn nicht. Eines Tages klopfte es naemlich an der Wohnungstuer und ehe sichs Gauss versah, stand ein franzoesischer Leutnant im Flur, der ihn aufforderte, zum Hauptquartier der Besatzungs-truppen mitzukommen. Aeusserlich ruhig, bat Gauss den Mann, einige Minuten zu warten, er wolle sich anzukleiden und seiner Frau, die ausgegangen war, eine Nachricht hinterlassen. Er begab sich ins Schlafzimmer, wo er kopflos mehrere Schraenke oeffnete. Dann eilte sein Blick die Waende entlang, als suche er einen Fluchtweg. Endlich, in einem Versuch, sich zu besinnen, schloss er die Augen und fragte sich, was er sich hatte zuschulden kommen lassen. An seinem Stammtisch war es gang und gaebe, die Franzosen zu schmaehen, und wenn er auch nicht der Vorlauteste unter den Bruedern war, so hatte er doch nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen die Besatzer gemacht. Der Leutnant verhielt sich freilich nicht gerade, als ob er ihn verhaften wollte. Er war hoeflich oder neutral ... wahrscheinlich wusste er gar nichts ueber den Zweck der Vorladung. Gauss wurde zu demselben Gebaeude gefuehrt, wo er vor Wochen seine Landvermessungsplaene unterbreiten wollte. Anstelle des herzoeglichen Wappens prangten die Kokarde und ein zweisprachiges Hinweisschild neben der Pforte, und fremde Soldaten eilten ueber den Vorplatz. Bei ihrem Anblick schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass mit der franzoesischen Vorherrschaft ueber Westeuropa die besten Bedingungen fuer eine wahrhaft weitraeumige Triangulation gegeben waren. Auf den Fluren hoerte man kein Wort deutsch; alle Beamte waren vorlaeufig nach Hause geschickt und nur einige wenige, fuer den laufenden Betrieb unverzichtbare Handwerker und Ingenieure uebernommen worden. Doch ging die Rede, Jerome, der 'Koenig von Westfalen' und Bruder Napoleons, beabsichtige, die Meisten demnaechst in ihre alten Positionen wieder einzusetzen. Er wurde in ein Buero gefuehrt und musste eine Zeitlang dort warten. Das Zimmer war kuerzlich umgeraeumt worden, wie helle Flecken auf Parkett und Tapete bewiesen. In der Ecke am Fenster tuermten sich Akten, anscheinend aussortiert. Ueberall, auf Regalen, Tischen und Stuehlen lagen frische Druckfahnen herum, und an der Wand hatte man - etwas schief - ein Bild des Kaisers aufgehaengt. Gauss schritt unruhig hin und her und ueberlegte zum dutzendsten Mal, wodurch man auf ihn aufmerksam geworden war, da oeffnete sich ploetzlich die Tuer, und ein Mann trat herein, der ihn auf Deutsch ansprach. "Sie sind Dr. Carl Friedrich Gauss?" vergewisserte er sich und sagte dann: "Ich moechte mich entschuldigen, Sie so mir nichts dir nichts hierher gezerrt zu haben, aber ich bin nur diesen Nachmittag in Braunschweig und wollte Sie unbedingt kennenlernen. Mein Name ist von Mueller. Ich bin der neu eingesetzte Generalstudiendirektor des Koenigreichs Westfalen" - ein Kollaborateur also, dachte Gauss veraechtlich, aber natuerlich hielt er den Mund, von Mueller schien nichts Boeses gegen ihn im Sinn zu haben, eher das Gegenteil, so freundlich wie er redete - "wir sind dabei, uns einen Ueberblick ueber die faehigsten Akademiker des Landes zu verschaffen, um unsere Hand ueber sie zu halten und dafuer sorgen, dass sie an den Folgen des Krieges keinen Nachteil haben. Ich habe schon so viel Positives ueber Sie gehoert, sowohl von deutscher als auch von franzoesischer Seite, dass Sie zu den ersten gehoeren sollen, die von dieser Politik profitieren." Gauss wusste auf diese Anrede nicht viel zu sagen. Auch er freue sich, stotterte er schliesslich, von Mueller kennenzulernen, und natuerlich ueber die Aufmerksamkeit seitens der neuen Regierung. "Tatsaechlich ist es so", fuhr der andere fort, "es ist ein Fonds eingerichtet worden, aus dem Wissenschaftler, die ohne Geld und Arbeit dastehen, versorgt werden koennen. Sie haben ja bisher ein Stipendium bezogen, und es ist beschlossen worden, Ihnen den entsprechenden Betrag in der neuen Waehrung weiter auszuzahlen. Die letzten Monate, in denen Sie nichts erhalten haben, werden selbstverstaendlich nachentrichtet. Ausserdem moechte ich Sie von der Ehre in Kenntnis setzen, dass Ihnen die Mitgliedschaft als korrespondierendes Mitglied der Pariser Academie des Sciences angetragen wird, und moechte Sie bitten, diese Urkunde zu unterschreiben." Gauss konnte sich kaum vorstellen, dass er die Wahl hatte abzulehnen. Das haette ihn wohl um jedes Wohlwollen der Besatzer und auch um einen schoenen Batzen Geld gebracht. So unterschrieb er, und dankte seinem Gespraechspartner, aber ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. Im Abwenden des Kopfes fiel sein Blick auf das Portait des Korsen, das er vorhin noch feindselig studiert hatte. Daneben war eine weisse Stelle an der Wand, und Gauss ueberfiel schlagartig die Erkenntnis, dass dort ein Bild des Herzogs gehangen haben musste. Da liess von Mueller, dessen schlaue Augen ihn aufmerksam musterten, die Bombe platzen: "Wir moechten in dem neuen Koenigreich, zu dem auch die ehemaligen Fuerstentuemer Hannover und Braunschweig gehoeren, die Universitaeten neu organisieren und besonders faehige Leute motivieren, sich dabei zu engagieren. Der bisherige Direktor der Goettinger Sternwarte, ein Englaender, hat sich aus dem Staub gemacht, und wir moechten Sie bitten, den vakanten Posten einzunehmen." Jener Englaender war fuer Gauss waehrend des Studiums der Inbegriff des unfaehigen Professors gewesen und die leibhaftige Erklaerung, warum alle wichtigen Entdeckungen der Astronomie in den vergangenen Jahrzehnten von Amateuren wie Zach-Olbers gemacht worden waren. Als er sich mit Hanna ueber das franzoesische Angebot beriet, sah er also wenig Anlass, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er zusagte. Die Offerte aus St. Petersburg war damit obsolet geworden, und er war froh darueber. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nichts Schrecklicheres ausmalen, als auf lange Zeit in jenem kalten fernen Land gefangen zu sein, wo er sich an eine voellig fremde Kultur haette gewoehnen muessen und ihm womoeglich die Ideen abhanden gekommen waeren. Um sich wohl zu fuehlen, bedurfte Gauss dessen, was manche abschaetzig die 'deutsche Pantoffelgemuetlichkeit' nennen; er glaubte allen Ernstes, die Qualitaet seiner Arbeit haenge davon ab, und konnte sich nicht vorstellen, obwohl das eigentlich naheliegend ist, dass solche Idyllen auch in Russland gedeihen. An jenem Abend liebte sich das Paar, und diesmal wieder mit dem altvertrauten Gefuehl, Gauss als der Bewunderte und Ueberlegene, der beileibe nicht mehr getroestet und aufgefangen werden musste, und Hanna voll Lust an der Hingabe und im Empfangen der maennlichen Gunst. Wollen Sie wissen, was das Geheimnis hinter jenem Angebot der Franzosen war?" unterbrach sich der Erzaehler. Er fuhr aber sogleich fort, ohne erst meine Reaktion abzuwarten: "Eine Gruppe von Pariser Mathematikern, die Kontakt mit Napoleon hatten, unter ihnen die beruehmte Sophie Germain, hatte sich mit Gauss' 'Disquisitiones Arithmeticae' beschaeftigt und dabei die Bedeutung des Werkes erkannt. Waehrend die Mehrheit der Wissenschaftler ihn noch wegen seiner astronomischen Resultate feierte, gehoerten diese Franzosen zu der kleinen Minderheit, die auch seine zahlentheoretischen Meisterleistungen zu wuerdigen wussten. - Eines Tages begegnete Hanna beim Einkaufen in der Braunschweiger Innenstadt Jens Haeussler, den sie lange nicht gesehen hatte. Die beiden erkannten sich schon von weitem, doch keiner wusste, wie er auf den anderen reagieren sollte. Als sie sich nun naeherte, erschien sie ihm um so begehrenswerter, da er wusste, dass sie Gauss gehoerte. Gern haette er die Augen demonstrativ in eine andere Richtung gelenkt und so getan, als kenne er sie nicht, doch waehrend sie langsam auf ihn zuschritt, konnte er den Blick nicht von ihr wenden, wohl wissend, was fuer eine Macht sie ueber ihn besass (und fuer immer besitzen wuerde). Er war unfaehig, sich auch nur einigermassen normal zu benehmen, selbst ein Gruss wollte nicht von seinen Lippen kommen. Schliesslich, im allerletzten Moment, als sie schon fast aneinander vorbei waren, beschloss sie, seine Flegelhaftigkeit zu uebergehen und ihn anzusprechen. "Hallo, Herr Haeussler", rief sie ihm zu und blieb stehen. "Man hat Sie in Braunschweig lange nicht gesehen." Er sah, wie sie sich zu ihm hin drehte und ihre ueppigen Haare dabei wie eine Stola ueber die Schultern wallten, und schluckte und das Herz wurde ihm eng. "Ich bin auf Studienfahrt gewesen", sagte er angestrengt. Das wisse sie doch. "Sie hatten mir von Ihren Plaenen erzaehlt. Aber richtig verabschiedet hatten Sie sich nicht. Sind damals einfach so verschwunden." "Verschwunden? Ich habe Ihnen einen langen Brief geschrieben, und ... aeh ... mit vielen Details, und warum es fuer mich wichtig ist, meine Ausbildung im Ausland abzuschliessen." "Ein Brief? Ich weiss von keinem Brief. Ich weiss nur, dass Sie sich nicht mehr gemeldet haben." Er war bestuerzt und fassungslos. In dem Brief hatte er ihr in ziemlicher unverbluemter Weise seine Liebe gestanden. Er hatte lange auf eine Antwort gewartet, doch nie eine erhalten, und schliesslich durch Dritte von ihrer Verlobung erfahren. Er war dann nach Ende des Londoner Semesters spontan nach Paris gereist. Was sich im uebrigen als nicht ganz ungefaehrlich erwiesen hatte, weil er war fuer einen preussischen Spion gehalten und wochenlang eingesperrt worden war. Seltsamerweise hatte er im Kerker seinen Seelenfrieden wiedergefunden und war danach in Lage, den Aufenthalt in der Fremde zu geniessen, ohne dass dauernd innere Bilder von Hanna oder der Aerger ueber die Unbestaendigkeit und Pflichtvergessenheit mancher Frauen seine Gedanken truebten, oder der Neid auf den vom Schicksal so sagenhaft beguenstigten Gauss. Paris war nicht mehr die Stadt seiner Traeume. Was er von Robespierres Terrorregime erfahren hatte, von den Geschaeftemachern, die ihn beseitigten und an seine Stelle rueckten, und schliesslich vom machtversessenen Napoleon, hatte ihn ueberzeugt, mit der franzoesischen Revolution sei kein 'Staat' zu machen, jedenfalls keiner im Hegelschen Sinne, der die Fackel des Fortschritts voran trug. "Wie kann das moeglich sein", sagte er. "Ich habe dich in dem Brief ueber verschiedene Absichten unterrichtet ... ein paar wichtige Dinge standen darin. Aber da kann man wohl nichts machen. Was geschehen ist, ist geschehen", und fuegte so ruhig wie moeglich hinzu: "Meine Reise hat uebrigens wesentlich laenger gedauert als beabsichtigt. Ich bin noch in Frankreich und Spanien gewesen." "Da hast du sicher eine Menge erlebt ...", sagte sie ratlos. "Ja, in Frankreich ist immer noch viel in Bewegung, wenn auch nicht von der Art, wie man gutheissen koennte, aber jetzt, wo ich wieder zu Hause bin, merke ich, nichts ist mehr, wie es einmal war. Die meisten meiner Freunde sind verheiratet und haben damit ... " Bei diesen Worten wurde sie rot und er verhaspelte sich, fing sich dann wieder und sagte: "Ich habe vor, fuer immer aus Braunschweig weg zu gehen." Man hatte ihm eine Stellung in der optischen Abteilung der Goettinger Universitaet angeboten, und er war - in Unkenntnis des Gauss'schen Vorhabens - begierig gewesen, das Angebot anzunehmen; denn er fuehlte sich in seiner Heimatstadt, als dem Ort bitterer Niederlagen, nicht mehr wohl. Hanna wusste auf diese Mitteilung nicht viel zu sagen, so dass das Gespraech versandete, und schliesslich verabschiedeten sie sich scheinbar emotionslos wie zwei oberflaechlich Bekannte. - Im August 1807 siedelte das Paar nach Goettingen ueber. Dabei wurde Gauss' Mutter, nachdem der Vater ueberraschend gestorben war, in den gemeinsamen Haushalt integriert. Seine Rueckkehr in die Stadt an der Leine glich einem Triumphzug - jedenfalls in den Kreisen, die sich in einer Universitaetsstadt fuer massgeblich halten. Die Entdeckung der kleinen Planeten war eine ueberaus populaere Erfolgsgeschichte (wiewohl auf laengere Sicht fuer den Fortschritt der Astronomie bedeutungslos) und wurde von vielen hauptsaechlich als sein Verdienst angesehen. Die Eheleute wurden zu allen moeglichen oeffentlichen und halb-oeffentlichen Veranstaltungen wie Lesungen, Vortraegen, Ausstellungen und Matineen eingeladen und auf privaten Feiern herumgereicht. Damit er es sich mit niemandem verdarb, musste Gauss lange Abende mit muessiger Konversation vertun. Wie hasste er die oberflaechliche Athmosphaere solcher Gesellschaften, in denen man in Grueppchen mit mehr oder minder Fremden herumstand und versuchte, mit geistreichen oder witzigen aber entbehrlichen Bemerkungen Verlegenheiten zu vertreiben und die Leute auf Laune zu bringen, ohne ihnen eigentlich etwas zu sagen zu haben. Zu gern haette er sich diesen Verpflichtungen entzogen, um von frueh bis spaet die astronomischen Projekte voran zu treiben, die ihm vorschwebten. Denn man hatte ihm Gelder fuer neue Instrumente und Ausruestung zur Verfuegung gestellt, damit die Goettinger Sternwarte endlich mit anderen Observatorien konkurrieren konnte, und er verbrachte viel Zeit mit der Organisation der Bestellungen, und reiste sogar quer durch Deutschland, nach Muenchen und Jena, um dort Linsen und optische Geraete einzukaufen. Von Muenchen aus machte er einen kurzen Abstecher in die Alpen, und dort erlebte er gekruemmte Flaechen, die alles in den Schatten stellten, was er jemals gesehen hatte, und ihn mahnten, sich wieder mehr mit der Geometrie zu beschaeftigen. Doch die Zeit war noch nicht reif dafuer; er wuerde nicht nur die Reorganisation der Sternwarte, sondern auch die groesste Tragoedie seines Lebens hinter sich bringen, bevor er zu den geodaetischen Entwuerfen und Messungen zurueckkehrte. An jenem Morgen, als er aus Muenchen heimkam, trat ein lange schwelender Konflikt zwischen Hanna und ihrer Schwiegermutter offen zutage. "Kannst du ihr nicht klar und deutlich erklaeren, dass dies nicht ihr Haushalt ist", fluesterte ihm seine Frau in der Kueche zu. "Staendig mischt sie sich in alle Angelegenheiten, weiss alles besser, und gibt Ratschlaege, wie ich zu kochen habe. Ich stehe kurz davor zu platzen. Ich verbringe meine Tage hauptsaechlich im Park und mit Einkaufen, weil ich es zu Hause nicht mehr aushalte. Dauernd versucht sie, mich zu provozieren. Zuerst passt ihr dies nicht, und dann jenes. Immer ist sie grantig und schlechter Laune und zieht auch meine Stimmung mit hinab. Ich fuehle mich ganz ungluecklich, weil sie mich absolut nicht leiden kann. Auch wenn du es bestreitest; aber es ist so: sie ist grundsaetzlich gegen mich eingestellt. Ich bin nicht gut genug fuer ihren einzigen Sohn, das Genie." Ihm steckte noch die Reise in den Knochen, und er fuehlte sich weder in der Lage noch war er willens zu schlichten. "Es ist nun einmal so, sie ist meine Mutter", sagte er, "und du wirst dich mit ihr arrangieren muessen. Als einziger Sohn habe ich die Verpflichtung, sie bei mir unterzubringen, nachdem mein Vater tot ist." "Ja, das hast du damals nach der Beerdigung alles so fuer dich entschieden, und mir keinerlei Mitspracherecht eingeraeumt." "Ich sage es noch einmal: es gab keine andere Moeglichkeit. Ich weiss, die Situation ist nicht angenehm fuer dich. Aber es ist auch nicht so schlimm wie du es darstellst; also verschone mich mit deinen Klagen und mit hypothetischen Erwaegungen, wie schoen alles waere, wenn wir meine Mutter nicht bei uns haetten." "Ich halte es nicht aus", schrie Hanna, "wie du mich behandelst. Wie ein Stueck Dreck, das sich alles gefallen lassen muss. Ich weiss, dass es durchaus andere Moeglichkeiten gibt. Denk an deinen Kollegen. Wo wir letzte Woche eingeladen waren. Du willst nur nicht darueber nachdenken, weil du die Kosten scheust. Aber du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn ich durchdrehe und mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus muss." "Die Kosten waeren mir voellig egal. Nichts liegt mir ferner, als dir das Leben schwer zu machen. Ich liebe dich ..." "Pah, Liebe! Dann beweise es doch endlich! Wie gluecklich waren wir in Braunschweig, als uns niemand in unseren kleinen Haushalt hereinredete! Ich weiss nicht, wie ich zu meiner alten Lebensfreude zurueckfinden soll, wenn ich staendig so einen miesepetrigen alten Besen um mich habe." Er sehe keinen Sinn, sagte er, auf dieser Ebene mit ihr zu diskutieren und fluechtete in die Sternwarte. Dort lief ihm Harding ueber den Weg. "Guten Morgen, Herr Harding." - "Guten Morgen, Herr Gauss." Die beiden hatten sich noch nicht daran gewoehnt, dass dem neuen Direktor der erste Gruss zustand. Eigentlich mochte keiner eine Unterhaltung beginnen; ein unkluger Impuls hielt sie dennoch davon ab, einfach aneinander vorbei zu gehen. So standen sie sich sekundenlang zoegernd und abschaetzend, schweigend und abwartend, ja lauernd, gegenueber. In diesem Augenblick verdoppelte sich Gauss' Aerger (ueber Frau und Mutter und seine eigene Unzulaenglichkeit hinsichtlich der Bewaeltigung von Konflikten) und richtete sich unerklaerlicherweise gegen Harding. Er erkannte, dass ihr frueher fast freundschaftliches Verhaeltnis durch seine neue Stellung einen Sprung bekommen hatte. Auch Harding war missmutig. Gewiss haette er, mit seinen Erfahrungen, die Position des Direktors viel besser ausgefuellt als dieser junge Spund, der sich neuerdings so aufreizend gebaerdete. "Wie war denn die Reise?" fragte er. "Haben Sie alles erfolgreich zum Abschluss gebracht?" Gauss war nicht in der Stimmung, ausfuehrlich Bericht zu geben, bequemte sich dann aber doch zu einer Erklaerung. "Sehr gut. Erfolgreicher als ich gehofft hatte. Ich habe fuer alle neuen Teleskope vollstaendige Linsensaetze bestellt, obwohl die Fraunhoferschen Glaeser eigentlich viel zu teuer sind." "Hoffentlich haben Sie unser Budget nicht ueberschritten", entfuhr es Harding. "Wahrscheinlich schon. Aber es war keine andere Entscheidung moeglich, wenn ich meine Plaene realisieren will." Genauso habe ich mir das vorgestellt, dachte Harding. Oh, wenn die Stelle des Sternwartendirektors doch vakant geblieben waere! Er haette dann weiter nach Belieben schalten und walten koennen. So war er in allem an Gauss' Vorgaben gebunden. Der mochte zwar ein grosser Rechenkuenstler sein; aber das machte noch lange keinen guten Astronomen aus ihm. 3(!) Teleskope hatte sich der neue Direktor fertigen lassen! Nach Hardings Meinung alle mit der falschen Technik ausgestattet! Die Richtung, in die Gauss die Sternwarte trieb, wollte ihm nicht gefallen. Er fand, der Andere fuehre sich wie ein Anfaenger auf. Die neueste und teuerste Technik, ohne jeden Blick fuer ein vernuenftiges Preis-Leistungs-Verhaeltnis! Was die Franzosen wohl von diesem Finanzgebaren halten wuerden? Gauss hatte sicher nicht nur eigene, sondern auch Mittel aus dem gemeinsamen Jahresetat verbraucht. Da konnte es fuer ihn, Harding, eng werden. Nur gut, dass er letzte Woche die Filterbestellung noch unter Dach und Fach gebracht hatte! Diese Gedanken sprach er natuerlich nicht offen aus, sondern sagte nur vieldeutig: "Ja, wer so eine weite Reise macht, muss ordentlich was heimbringen." Gauss spuerte die Kritik in diesen Worten, so artig und hoeflich sie auch vorgebracht wurden. Da er ohnehin kein Vergnuegen an dem unergiebigen Gespraech hatte, drehte er sich abrupt um und liess Harding einfach stehen, was den zu der Erkenntnis brachte, der neue Direktor sei ein Mann von schlechten Manieren. "Als Student und solange er etwas von mir wollte, hat er sich zurueckgehalten. Jetzt zeigt er sein wahres Gesicht. Das wird noch ganz schoen schwierig werden." Spaeter hatte Gauss einen Termin bei seinem Verwaltungsleiter. Auf dem Weg dorthin wurde er in der Halle von einem Studenten mit ziemlich lauter und unangenehmer Stimme angerufen. "Herr Direktor... eine Frage bitte, in Zusammenhang mit der Aufgabe, die Sie mir vor Ihrer Abreise gestellt haben." "Im Moment geht es leider nicht. Ich bin verabredet. Kommen Sie ein andermal vorbei." Er war heute nicht darauf erpicht, Zeit mit Studenten zu vertun. Hanna und Harding hatten ihn schon genug aufgeregt. "Aber ich kann sonst nicht mit meiner Arbeit fortfahren", klagte der junge Mensch so erregt, als waere Gauss verpflichtet, ihm sofort zu helfen. Den kuemmerte das wenig. "Sehen Sie zu, dass Sie allein fertig werden. Sie haben doch selbst einen Kopf." "Gut, in Ordnung. Wenn es partout nicht moeglich ist. Aber wie ist es mit morgen? Haben Sie morgen Zeit?" "Kann ich im Moment noch nicht absehen. Schauen Sie einfach, ob ich da bin." "Gut, in Ordnung", wiederholte sich der Student. "Aber koennten Sie mir vielleicht eine Uhrzeit angeben?" Er liess nicht locker und begann ganz entschieden, seinem Professor auf die Nerven zu gehen. "Nein, das kann ich nicht", blaffte Gauss ihn ploetzlich an. "Ich weiss ueberhaupt nicht, ob ich morgen Zeit fuer Sie habe, oder uebermorgen. Ich bin im Moment staendig mit der Ausruestung der Sternwarte beschaeftigt; Sie muessen eben warten, ob und wann ich ein paar Minuten fuer Sie eruebrigen kann." Wie Sie sehen", sagte der Alte, "war Gauss ziemlich launisch. Und dies bereits in jungen Jahren. Er konnte zwar, was eher selten vorkam, mit seinen Schuelern auch sehr liebenswuerdig umgehen. In solchen Faellen vereinbarte er mit ihnen einen Termin, an dem er sich fuer alle Fragen viel Zeit nahm. Wenn sie dann hereinkamen, wuerde er sich zuerst entspannt auf seinem Arbeitssessel niederlassen, die Augen nach unten gerichtet, die Haende ueber der Brust gefaltet, und ihren Ausfuehrungen lauschen. Dann wuerde er antworten; in freier, klarer, offener und einfacher Sprache. Und wenn er einen wichtigen Gesichtspunkt hervorheben wollte, wuerde er den Kopf heben, sich direkt an einen der Zuhoerer wenden, und ihn waehrend einer kurzen emphatischen Rede mit seinen blauen Augen eindringlich mustern. Wenn er von allgemeinen Prinzipien zur Entwicklung spezieller Formeln ueberging, wuerde er sich erheben und in gerader Haltung und mit seiner sauberen Handschrift auf die kleine schwarze Tafel schreiben, die an der Wand dem Fenster gegenueber angebracht war. Immer gelang es ihm, durch oekonomische Anordnung mit dem geringen Platz auszukommen, und auf die Durchfuehrung numerischer Beispiele legte er mindestens ebenso viel Wert wie auf das Verstaendnis von Prinzipien. Heute jedoch liess er den studentischen Bittsteller abblitzen; es gab mehr als genug Gruende, schlecht gelaunt zu sein. Wenn er ehrlich in sich hinein horchte, so langweilten ihn die Muehen der astronomischen Beschaffungen. Trotz seiner Stellung fuehlte er sich nicht wirklich als Sternenforscher, sondern als Mathematiker; und die heimliche Irritation, die daraus resultierte, verdarb ihm nachhaltig den Seelenfrieden. Er begab sich schnurstracks ins Buero seines Verwaltungsleiters, dem er eine Liste mit den verausgabten Geldbetraegen uebergeben wollte, zusammen mit einigen Vorabrechnungen, die zu begleichen waren. Der Mann legte schnell einige Papiere zur Seite, an denen er gearbeitet hatte, ehe Gauss eintrat, und machte zwei Buecklinge. Dann beugte er sich geschwind ueber die Zahlen und Figuren, er verhielt sich wie das ganze Gegenteil von Harding, und das war in diesem Moment genau das Richtige, um Gauss zu besaenftigen. Es ist eben ein Unterschied, ob einer des Morgens Bleistifte gespitzt und waehrend einer ausgiebigen Fruehstueckspause die 'Goettinger Neuesten Nachrichten' studiert hat, mit einem Bericht ueber die Hochzeit des Prinzen Soundso, oder ob er die ganze Nacht am Fernrohr gesessen und vergeblich gehofft hat, der Himmel moege ihm einen klareren Blick auf die Sterne goennen. Gauss blieb geduldig stehen, waehrend der Beamte die Summen pruefte und schliesslich eine Akte hervorholte, in der jene Geldbetraege verzeichnet waren, die die Sternwarte im laufenden Geschaeftsjahr investieren durfte. Schliesslich blickte er auf, und in seinem Laecheln lag eine seltsame Befriedigung. "Herr Direktor, wenn mich nicht alles taeuscht, sind Sie genau innerhalb des vorgegebenen Grenzwertes geblieben, genau auf Linie sozusagen. Wenn man die heuern Mittel der Sternwarte mit dem Fonds, der Ihnen persoenlich zur Verfuegung steht, zusammenrechnet, sind alle Ausgaben gedeckt." Er enthielt sich der Bemerkung, dass die uebrigen Astronomen somit im laufenden Jahr jedweder Moeglichkeit fuer weitere Einkaeufe beraubt waren. Vielleicht fiel es ihm in seiner Unterwuerfigkeit noch nicht einmal auf ... aber doch, an Harding und seine unorthodoxen Beschaffungsmethoden musste der Mann mit Sicherheit denken. Sie wuerden alle gezwungen sein, mit ihren alten Ausruestungen weiterzumachen, oder, was Gauss natuerlich zupass kaeme, ohne weitere Diskussion zu seinen Instrumenten ueber zu wechseln und sich an den von ihm geplanten Beobachtungen zu beteiligen. Mit den Juengeren hatte er ohnehin schon gesprochen, die liessen sich nicht lange bitten. Nur Harding und sein engster Mitarbeiter wuerden wohl an ihrem eigenen Forschungs-programm festhalten. Vor allem war Gauss erleichtert, dass er nicht bereits bei seinen ersten Transaktionen als Direktor Schwierigkeiten mit der Universitaets- oder gar der Besatzungsverwaltung bekommen wuerde. Er hatte sich schon vorgeworfen, nicht genauer nachgerechnet zu haben. Er wollte sich eben von seinem Beamten verabschieden, da hoerte er: "...ach uebrigens, Herr Direktor, es wird doch moeglicherweise eine Schwierigkeit geben. Und zwar Professor Harding ... er hat fuer sein Teleskop einige ziemlich teure Filter bestellt ... und ich bin mir nicht sicher, ob die Order unter dem Vorbehalt Ihrer Unterschrift oder schon endgueltig erfolgt ist. Herr Harding hat immer noch die Angewohnheit, solche Vertraege als Direktor zu unterzeichnen. Sie sollten auf jeden Fall mit ihm sprechen." Das hoerte sich nach Schwierigkeiten an, fand Gauss und marschierte spornstreichs in Hardings Buero, um diesen zu vernehmen. "Herr Harding", fragte er, "haben Sie einen Moment Zeit fuer mich?" Der Angesprochene drehte sich verwundert auf seinem Stuhl und zog die Augenbrauen hoch. "Ich habe soeben vernommen, dass Sie neue Filter fuer Ihr Teleskop bestellt haben", setzte er an, und das Ungeduldige und Barsche seiner Stimme vibrierte foermlich in der Luft. "Ja und?" fragte Harding, aeusserlich provozierend kalt, aber innerlich alarmiert. "Ich habe darueber mit der Verwaltung gesprochen und muss Sie bitten, die Bestellung rueckgaengig zu machen. Die Institutsmittel geben das im Moment nicht her. Sie muessen die Beschaffung auf naechstes Jahr verschieben." "Das wird nicht moeglich sein", erwiderte Harding. "Ich habe den Vertrag bereits rechtsgueltig unterschrieben; ein Ruecktritt ist ganz ausgeschlossen. Ausserdem, offen gesagt, selbst wenn es moeglich waere, ich wuerde es nicht tun. Die neuen Filter sind unbedingt erforderlich, wenn ich meine Messungen sinnvoll fortsetzen will. Die alten verzerren das Bild in einer Weise, dass sie jeden Fortschritt in unseren Beobachtungen verhindern. Daher mussten wir in diesem besonderen Fall das modernste Produkt einkaufen - so sehr wir uns auch sonst bemuehen, mit bescheideneren Mitteln und veralteter Technik auszukommen. Anders als gewisse Leute, die selbst fuer Rohre und Stative nur die teuersten Legierungen bestellen." Durch den letzten Satz fuehlte sich Gauss direkt angegriffen. "Falls Sie mich damit meinen, moechte ich darauf hinweisen, dass man mir persoenlich entsprechende Mittel zur Verfuegung gestellt hat ..." "Dann verstehe ich nicht, wo die Schwierigkeit liegt", unterbrach ihn Harding ironisch. "Ja", ereiferte sich Gauss, "das Problem liegt darin, dass Sie eigenmaechtig Bestellungen aufgeben und als Institutsleiter unterzeichnen! Sie haetten sich auf jeden Fall vorher mit mir absprechen muessen." "Diese Ausgaben waren schon lange geplant. Es war in der ganzen Sternwarte bekannt, dass wir die Filter unbedingt benoetogen. Sogar beim Mittagessen in der Kantine ist darueber gesprochen worden." "Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, Herr Harding. Es ist mir ganz gleich, was Sie in der Kantine besprechen oder besprochen haben. Sie werden morgen Ihre Order im Namen der Sternwarte rueckgaengig machen, und ich hoffe in Ihrem Interesse, dass die Herstellerfirma so kulant ist, dem zuzustimmen. Ausserdem verbiete ich Ihnen in Zukunft, solche Auftraege ohne meine Erlaubnis zu vergeben." "Gar nichts werde ich tun. Schliesslich werden die Filter dringend gebraucht." "Dann mache ich selber die Bestellung rueckgaengig. Ich habe keine Schwierigkeiten, Sie zu blamieren. Das werden Sie schon sehen. Ich werde das durchziehen, und wenn ich dazu die Hilfe der Franzosen in Anspruch nehmen muss!" "Tun Sie, was Sie nicht lassen koennen", sagte Harding, und damit war das Gespraech fuer ihn beendet. Gauss war, als sei sein Bewusstsein in zwei Teile gespalten. Mit der einen Haelfte stand er neben sich selbst und beobachtete, wie die andere mutwillig ein gewachsenes Vertrauensverhaeltnis zerstoerte. Er haette gern alles zurueckgenommen oder sich wenigstens dafuer entschuldigt, befand sich jedoch in einer derart gereizten Stimmung, dass sich die andere Haelfte seines Ich immer weiter in einen unmaessigen Zorn hinein steigerte und ihn an jeder versoehnlichen Geste hinderte. Sie lechzte foermlich danach, dass der Streit eskaliere. Harding widerum war nicht der Mann, so mit sich reden zu lassen, mehr noch, solche Saetze jemals zu vergessen, und haette selbst eine umgehende Entschuldigung nicht angenommen. Er konnte nicht mehr an sich halten und vergass alles, wozu er sich vor einer Stunde noch ermahnt hatte; denn er hielt fuer gezielte Provokation, was bei Gauss nur ein Anfall von schlechter Laune war, und haette um keinen Preis auch nur einen Zentimeter nachgegeben. Waehrend der folgenden Tage gingen sich die beiden Streithammel so weit wie moeglich aus dem Weg, und sprachen kein einziges Wort miteinander. Gauss setzte sich tatsaechlich mit der Universitaetsverwaltung in Verbindung, deren Juristen mit dem Filterhersteller einen Vergleich schlossen. Dies erboste Harding dermassen, er fuehlte sich durch den Juengeren oeffentlich herabgesetzt, ja entmuendigt, dass er ihn von da an nie mehr gruesste, wenn sie sich zufaellig auf dem Flur begegneten. Dass Gauss juristisch im Recht war und ihm in Zukunft noch reichlich schaden konnte, war ihm ganz gleichgueltig. Im Grunde war er ein ausgeglichener, auf Ausgleich bedachter und keineswegs ein zaenkischer oder allergischer Charakter. Hier jedoch meinte er, sei eine Grenze ueberschritten; durch die Vorgaenge war ein harter Kern in seinem konsilianten Wesen freigelegt worden. Das Zerwuerfnis erreichte seinen Hoehepunkt, als Gauss einige Wochen spaeter ohne Ruecksprache anordnete, Hardings Teleskop muesse aus der grossen Kuppel entfernt werden und in eine kleinere, wesentlich weniger komfortable mit stark eingeschraenktem Sichtwinkel umziehen, um Platz fuer seine eigenen Instrumente zu schaffen. Es kam zu einem Wortgefecht zwischen den Kontrahenten, das beinahe in ein Handgemenge ausartete. Ich will ueber diesen unerquicklichen, doch fuer den weiteren Fortgang der Chronik bedeutungslosen Dialog hinweggehen und stattdessen den Blick in Gauss' Privathaushalt zuruecklenken. - Dort war es an jenem Vormittag, als er sich zum ersten Mal mit Harding stritt, zu einem heftigen Streit unter den Frauen gekommen, der damit begann, dass die Mutter in die Kueche stolzierte, um der Dienstmagd und einer von Gauss unzufrieden und veraergert zurueckgelassenen Hanna beim Kochen auf die Finger zu schauen - so jedenfalls empfand es die junge Frau, sobald ihre Schwiegermutter eintrat; nichts als Abwehr und, nachdem sich die Alte ueber den Zustand des Gemueses ausgelassen hatte, helle Empoerung. Der Zustand des Gemueses sei ausgezeichnet, erwiderte sie, und ueberhaupt, das muesse einmal deutlich gesagt werden, ginge er die Schwiegermutter einen feuchten Kehricht an. Das konnte diese nicht auf sich sitzen lassen. Sie reagierte ebenso feindselig und voellig unbeeindruckt, dass Hanna die Hausherrin hervor kehren wollte. Ein Wort gab das andere und schon war man mitten drin im schoensten Jahrhundertstreit ... Im allgemeinen verlaufen solche Gefechte zwischen Muettern und Schwiegertoechtern ausgeglichen. Mal gewinnt die eine ein Scharmuetzel hier, mal die andere eines dort. Ein jedes verteidigt sein Terrain und wartet darauf, dass der Hausherr den Streit bei seiner Heimkunft schlichtet. Doch heute fuehlte Hanna sich muede und angeschlagen und krank und verlor ploetzlich die Lust, sich weiter mit der kiebigen Alten herumzuaergern. Was sollte das auch bringen. Es wuerde ihr nur den Rest des Tages vergaellen. Wortlos legte sie ihre Schuerze ab und verliess die Kueche. Die Andern wuerden schon ohne sie zurechtkommen. Sie streifte im Flur den Mantel ueber und machte sich auf den Weg in die Stadt. Nichts haette der alten Frau Gauss besser schmecken koennen, als im Hause das Zepter zu schwingen. Sie fuehlte sich auf der ganzen Linie als Siegerin, sie frohlockte, und erst Stunden spaeter, als sie sich auf der Chaiselongue im Wohnzimmer entspannen wollte, meldete sich in einem Winkel ihres Hinterkopfes das schlechte Gewissen. Hanna aber spazierte gedankenverloren durch die Innenstadt, so dass sich schon einige Ladenbesitzer zu wundern begannen, und als sie sich einigermassen beruhigt hatte, lief ihr Haeussler ueber den Weg; da er allein lebte und nur ueber ein mittleres Gehalt verfuegte, musste er seine Einkaeufe selbst erledigen. Die beiden sahen sich haeufiger, als ihnen lieb war. Gewoehnlich versuchte Hanna, ihm auszuweichen, aber heute war es ihr ganz recht, sie wollte ausprobieren, wie er darauf reagierte, wenn sie ihm einen ermunternden, auffordernden Blick zuwarf. Ob seine gewohnt finstere Miene sich aufhellen wuerde? Schliesslich, warum sollte sie das nicht tun. Sie hatte ihn immer gern gemocht und fuehlte sich noch heute zu ihm hin gezogen. Das Finstere stand ihm nicht schlecht. Mit Gauss lebte sie schon fuenf Jahre zusammen, gluecklich und zufrieden, wie es so schoen heisst, kannte sein Wesen in- und auswendig ... wenn sie ehrlich war, sie haette nichts dagegen gehabt, von Haeussler angesprochen zu werden. So sind die Frauen. Jahrelang zeigen sie einem Mann die kalte Schulter und ploetzlich, wenn es ihnen einfaellt, meinen sie, er muesse auf dem Sprung sein, wenn sie pfeifen. Haeussler jedenfalls blickte starr geradeaus, als er ihr ansichtig wurde, und tat, als wuerde er sie nicht erkennen. Oh, da hasste sie ihn, wie er so teilnahmslos und abweisend an ihr vorbei eilte. Haette nicht wenigstens er heute ein gutes Wort fuer sie haben koennen? Jetzt in diesem Augenblick konnte sie es gebrauchen, und vielleicht noch etwas mehr; aus seinem Blick und seiner Stimme, aus dem Zittern seiner Lippen und der unruhigen Bewegung der Brauen haette sie Zeichen von Verwirrung oder gar Leidenschaft herauslesen moegen, die er ihr immer noch entgegenbrachte. Nichts dergleichen! Er hatte es wohl vermerkt, dass sie ihm immer ausgewichen war. Das war ihm auch ganz recht gewesen; sonst haette er es noch weniger ausgehalten, sie gluecklich mit Gauss verheiratet zu wissen, alle Intimitaeten mit dem Nebenbuhler teilend, die man sich denken kann. Er wuerde es nie in Betracht gezogen haben, nur einen einzigen Zoll auf sie zuzugehen. - Die Zeit verging ... Napoleon wurde vertrieben, Gauss versoehnte sich mit seiner Frau, und Hanna arrangierte sich notduerftig mit ihrer Schwiegermutter. Eines Tages erhielt er von den Bruedern Humboldt einen liebenswuerdigen Brief. Wie er wisse, seien sie dabei, in Berlin eine neue Universitaet zu gruenden und diesbezueglich in der Lage, ihm ein sehr grosszuegiges Angebot des preussischen Innenministeriums und der Berliner Akademie der Wissenschaften zu unterbreiten. Es handele sich um eine ganz besondere Position, vollkommen frei von Lehr- und anderen Verpflichtungen (die Gauss, wie jedermann wusste, als sinnlose Opfer ansah) und nur der Forschung verpflichtet, so dass er ungestoert von Nebengeschaeften sich seinen Neigungen hingeben koenne. Er muesse nicht sofort entscheiden, duerfe sich ein halbes Jahr bedenken, bis zu der wissenschaftlichen Konferenz im naechsten Fruehjahr, ueber die er im beiligenden Faltblatt mehr erfahre und zu der man ihn hiermit herzlich einlade. Gauss las seiner Frau den Brief laut vor. Zu jener Zeit hielt sich die Zahl seiner akademischen Ehrungen noch in Grenzen und er liebte es, die Anerkennung, die er erfuhr, mit ihr zu teilen. Sie bemerkte, wie seine Augen leuchteten und sagte etwas beklommen: "Das hoert sich ja sehr gut an. Man scheint dort viel von dir zu halten. Wirst du das Angebot annehmen?" "Eigentlich muesste ich", erwiderte er leichthin. "Nachdem Preussen in Deutschland mehr und mehr die Oberhand gewinnt, wird sich Berlin in den naechsten Jahren sicherlich zum Zentrum der Naturforschung entwickeln. Wie du siehst ... sie sind jetzt schon dabei, die bekanntesten Leute zusammenbringen. Und doch - jetzt habe ich mich in Goettingen gerade eingewoehnt, die Sternwarte neu organisiert, das Buero eingerichtet, meine Stellung in der Fakultaet gefestigt. Es kann also richtig mit der Arbeit losgehen. In Berlin muesste ich ganz von vorn anfangen. Ausserdem, zuallererst sollte ich dich fragen, was du von der Sache haeltst. Wuerdest du gern dahin ziehen?" "Mir geht es genau wie dir", antwortete sie erleichtert. "Ich beginne gerade, mich hier heimisch zu fuehlen, habe mich mit den Nachbarinnen angefreundet und so weiter. In Berlin muesste ich mich voellig neu orientieren. Natuerlich werde ich mitkommen, falls du den Ruf annimmst. Bedenke aber auch, dass unser Kind noch ganz klein sein wird. Ich glaube, so ein Umzug ist ziemlich anstrengend und nervenaufreibend." Seit ihre Schwangerschaft feststand, reagierte sie vorsichtig und empfindlich auf aeussere Einfluesse. Sie lehnte laengere Wandertouren im Weserbergland, im Bramwald und im Reinhardswald, die noch vor Wochen jeden zweiten Sonntag auf dem Programm der Eheleute gestanden hatten, neuerdings rundweg ab, mit der Begruendung, starke Belastungen oder gar ein Sturz koennten sich nachteilig auf das Ungeborene auswirken. Gauss hatte sich damit abzufinden, dass sonntags nach dem Kirchgang nurmehr kurze Spaziergaenge durch die Stadt oder die nahegelegenen Felder unternommen wurden. Wenigstens lernte er dadurch Goettingen besser kennen, jenen Ort, der ihm inzwischen zur zweiten Heimat geworden war. Die Bande zum einst innig geliebten Braunschweig begannen zu verblassen. Goettingen war und ist auch heute noch ein kleines Nest, das nur durch die Universitaet eine gewisse Bekanntheit erreicht hat. Wer gut laufen kann, braucht keine zwei Stunden fuer eine Runde entlang des Stadtwalles. Durch das Zentrum gibt es zwei breite Verbindungswege von Ost nach West, die Groner Strasse (nach einem nahegelegenen Staedtchen benannt) und jene, welche heute die Goethe-Allee heisst. Von Nord nach Sued bricht ein alter Handelsweg durch den Ort, welcher das Niedersaechsische mit den hessischen Grossstaedten verbindet. Zwischen all dem eingebettet sind Markt, Johanniskirche, Rathaus und die diversen Einrichtungen der Universitaet. Sie wandelten in den kurzen Seitengassen, trafen hie und da einen Bekannten, und schliesslich zogen sie sich in ihr Heim bei der Albanikirche nahe des oestlichen Schutzwalles zurueck. Er konnte sich genau vorstellen, wie sie als Mutter sein wuerde, uebervorsichtig, und ihre Kinder wuerden an allererster Stelle stehen, noch vor dem Ehemann. Sie wuerde sie zu sehr behueten, dachte er, hatte aber nichts dagegen; bei ihm zu Hause war es nicht anders gewesen. Er ueberlegte lange, wie er auf das preussische Angebot reagieren sollte. Schliesslich entschied er endgueltig, den Ruf abzulehnen. Er wollte den Humboldts dies jedoch nicht schriftlich, sondern in einem persoenlichen Gespraech mitteilen. Daher sagte er seine Teilnahme an der Tagung zu. Am 20.5.1810 brach er in die preussische Hauptstadt auf. Dort angekommen, fand er alles viel imposanter und spektakulaerer als in der Provinz. Wo in Goettingen enge Gassen und windschiefes Fachwerk das Strassenbild bestimmten - sogar das Rathaus und die Gebaeude der Universitaet, die Aula, die Bibliothek und die Mensa sind erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, lange nach Gauss' Tod, durch modernere Bauten ersetzt oder ergaenzt worden - spiegelte sich in der Berliner Architektur - durch die kurze Phase der franzoesischen Fremdherrschaft nicht wirklich unterbrochen - die Entwicklung zu einer europaeischen Hauptstadt. Die urspruengliche, spaetmittelalterliche Bebauung war weitgehend nieder gerissen worden, auch an der Spree und ihren Kanaelen, wo sie bis ans Ufer gereicht hatte, und nun reihten sich riesige steinerne Quader mit einer einheitlichen Traufhoehe von ueber 50 Metern an breiten Boulevards. Die Stadt sah in ihrem Skelett bereits so monumental aus, wie ein Tourist sie heutigentags in Erinnerung behaelt. Gauss war beeindruckt. Um so mehr, als er mit grossem Tamtam und Brimborium empfangen wurde. Er war in ein nobles Hotel unmittelbar bei der Akademie einquartiert, inklusive vorzueglicher Verpflegung nach freier Auswahl. Ausserdem hatte man ihm einen der Hauptvortraege zugewiesen, denjenigen ueber die Fortschritte der Mathematik. Da brauchte er sich uebrigens nicht anzustrengen, die zeitgenoessische deutsche Mathematik, das waren hauptsaechlich seine eigenen Forschungsergebnisse; und trotzdem machte ihm dieser Termin zu schaffen, denn er war kein grosser Redner und zog die Debatte der Vorlesung vor. Noch mehr zu schaffen machte ihm die bevorstehende Unterredung mit Wilhelm von Humboldt, der ihn, so glaubte Gauss, bereits fest in Berlin sah. Doch brachte er beide Huerden gluecklich hinter sich. Die Besprechung mit dem preussischen Bildungsminister war einfacher als befuerchtet. Als ein Mann von grosser Umsicht hatte er durch verschiedene Kanaele erfahren, dass er sich eine Absage einhandeln wuerde, und dachte, man sollte es sich mit Gauss nicht verderben, vielleicht, dass er in einigen Jahren seine Meinung aenderte. Alexander von Humboldt, der umtriebige Weltreisende, ist beruehmter geworden, und doch ist sein Bruder in mancher Hinsicht genialer gewesen, ein Kuenstler im Umgang und der Fuehrung von Menschen ... ... jetzt sind sie beide tot" entfuhr es jaehlings heftig meinem Erzaehler, ganz so, als wuerde er eine Befriedigung aus dieser Tatsache ziehen, und es entstand ein beklemmendes Schweigen. Dann setzte der Redestrom wieder ein: "Nach seinem Vortrag und jener Unterredung fuehlte sich Gauss wie befreit und offen fuer wissenschaftliche Diskussionen mit den fast 100 Konferenzteilnehmern aus den verschiedensten Disziplinen, die ihn nun alle kannten und sich ihrerseits freuten, mit ihm ins Gespraech zu kommen. Zwischen den Sitzungen stand er mal mit Astronomen, mal mit Physikern zusammen und liess sich neue Entwicklungen schildern. Am wenigsten mochte er von den Mathematikern hoeren. Er hatte selber noch grosse Plaene, und was ihm ueber die Franzosen berichtet wurde, die eine grosse produktive Gruppe in Paris bildeten, machte ihn eifersuechtig. Die Gespraeche fanden in den Wandelhallen der Akademie statt. Dort waere uebrigens Gauss, als er sie zuerst betrat, fast in seiner Entscheidung schwankend geworden, denn wo in Goettingen Enge herrschte und leere Kassen, bestimmte hier weite lichte Fuelle und eine Ahnung von unbegrenzten Ressourcen den Blick des reisenden Wissenschaftlers. "Herr Professor Gauss", wurde er ploetzlich angerufen, als er zufaellig einmal allein dastand. Ein junger Mann ruderte auf ihn zu und stuerzte sich mutig in den folgenden Monolog: "Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche. Mein Name ist Wilhelm Weber. Ich bin Physikstudent aus Leipzig und habe gerade meine Doktorarbeit ueber Optik abgeschlossen. Ich wuerde mich gern ueber Ihre astronomischen Resultate mit Ihnen unterhalten, die ja leider nicht Thema Ihres Vortrages waren. Denn ich beabsichtige, mich nach dem Studium als Konstrukteur fuer optische Geraete selbststaendig zu machen, und es waere sehr freundlich, wenn Sie mir einen Ueberblick geben koennten, welche Instrumentierungen nach Ihrer Meinung in diesem Bereich eine Zukunft haben und wie Ihre Beschaffungsplaene fuer die Sternwarte aussehen." Weber hatte ueber eine halbe Stunde lang (und auch schon am Tag zuvor) auf einen guenstigen Moment gewartet und staendig von weitem zu Gauss hinueber geschielt, waehrend er in einer Ecke der Halle gelangweilt bei saechsischen Landsleuten herumlungerte und sein Gewicht unruhig vom rechten Fuss auf den linken und zurueck verlagerte, und sich im selben Moment von der Gruppe geloest, als Gauss' Gespraechspartner sich entfernte. Er hatte ein Mondgesicht und schon mit Anfang 20 ausgesprochen duennes Kopfhaar (nur hinten hielt sich ein Kranz duenner Locken), und wulstige Lippen, die er beim Sprechen vorzustuelpen pflegte. Er war von gedrungener Gestalt und hielt seinen Kopf meist leicht vorgebeugt, und mit dieser Haltung und seinem ganzen Blick und Gehabe signalisierte er dem Gegenueber Verbindlichkeit, ja Beflissenheit. Dabei war er im Innern impulsiv und voller Unruhe. Jetzt zum Beispiel befragte und vergewisserte er sich jede Sekunde, wie er mit seinem Verhalten bei Gauss ankaeme, und dass er auch ja nichts falsch mache. Bei seiner Arbeit war er ein unsteter Geist, der sich selten lange auf ein Problem konzentrieren konnte. Nur wenn er eine Sache fuer wirklich wichtig erkannt hatte, steigerte er sich in sie hinein und blieb dann bei ihr stehen. So war es mit seiner Anhaenglichkeit und Zuneigung fuer Gauss - und uebrigens auch mit dem Gedanken der wissenschaftlichen Freiheit, der ihn spaeter mit den Behoerden in Konflikt gebracht hat. Bitte entschuldigen Sie", unterbrach der Erzaehler hier seinen Vortrag, "wenn ich eine Beschreibung abgebe, die auf einen ziemlich haesslichen und unangenehmen Menschen schliessen laesst. Aber meine Meinung ist durch ein persoenliches Vorurteil gepraegt; und ich will daher nichts mehr ueber ihn sagen, nur dass er die aeusseren Nachteile durch ein offenes und zuvorkommendes Temperament wett machte, ein Naturell, das einen schwerbluetigen Charakter wie Gauss unweigerlich anziehen musste. Er naeherte sich dem Aelteren mit dem groessten Respekt, wobei ihm die Bewunderung aus allen Poren stroemte, zugleich aber auf eine dem Anschein nach unbefangene und natuerliche, fast burschikose Weise, die gegen das kuenstliche Getue vieler Wissenschaftlerkollegen wohltuend abstach, und Gauss gleich bewog, zu ihm Vertrauen zu fassen. Dass Weber in der Oeffentlichkeit gelegentlich ins Fettnaepfchen trat, darueber sah er hinweg; und so bahnte sich hier eine Bekanntschaft an, von der beide noch profitieren wuerden. Er wartete nun auf Gauss' Reaktion. Er wusste aus Erfahrung, dass bei Annaeherungsversuchen an bekannte Persoenlichkeiten immer mit einer Abfuhr zu rechnen war, besonders wenn die Arbeitsgebiete sich nicht eigentlich deckten. In diesem Fall aber traf er auf offene Ohren, nicht nur der allgemein guenstigen Stimmung wegen, sondern auch, weil den Goettinger die Kenntnisse interessierten, die ihm der Andere in der Optik und dem Magnetismus voraus hatte. "Ich fuehle mich nicht nur als Mathematiker und Astronom", sagte Gauss nicht wenig selbstverliebt im Laufe ihres Gespraeches, "sondern auch als Physiker. Urspruenglich habe ich eine Karriere als Landvermesser angestrebt, und alles, was auf jenem Gebiet geschieht, interessiert mich nach wie vor brennend. Mit den Franzosen hatte ich bereits Kontakte, um in Deutschland eine umfassende Landvermessung durchzufuehren, und hoffe nun, dass sich die Preussen zu einem aehnlichen Projekt ueberzeugen lassen." Weber machte grosse Augen, dass ein Grundlagenforscher sich fuer ein so profanes Handwerk interessierte, schwieg aber fuer den Moment. Er sah die Fuehlungnahme bereits dadurch als Erfolg, dass er den grossen Mathematiker dazu gebracht hatte, ueber sein Steckenpferd zu plaudern. "Dabei interessieren mich die Grundlagen der Geodaesie am meisten", setzte der seine Rede fort, "zum Beispiel der Erdmagnetismus, auf den man sich bei der Vermessung grosser Flaechen viel mehr stuetzen sollte, aber vor allem auch grundlegende Fragen, zum Beispiel, ob die vermessenen Dreiecke tatsaechlich gewoehnliche ebene Dreiecke sind, oder womoeglich leicht gekruemmt, aufgrund bisher unbekannter Phaenomene, die das Licht von seinem geraden Wege ablenken. In der taeglichen Praxis des Geometers sind solche Effekte ohne Belang; aber auf lange Sicht, wenn man, wie Humboldt, ganze Laender oder Kontinente praezise vermessen will, koennten sie wichtig werden. Ich fuerchte nur, mit den heutigen Theodolithen werden sich derart genaue Untersuchungen nicht durchfuehren lassen. Ausserdem ist man durch die endlichen Sichtverhaeltnisse eingeschraenkt. Ich habe schon ueberlegt, ob man die Lichtstrahlen der Sonne, gespiegelt und ueber weite Entfernungen sichtbar, noch besonders bearbeiten koennte, um die Praezision der Messungen zu erhoehen." "Das ist vielleicht eine Moeglichkeit", raeumte Weber ein, und gab dann zu bedenken: "Die Messgenauigkeit wird auch durch den Linsenschliff und die Feinmechanik der Montierung eingeschraenkt." Und nachdenklich: "Man muesste einen echten Qualitaetssprung bei den Theodolithen erreichen." Und dann: "Vielleicht koennte ich Ihnen dabei helfen. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich mit dem Thema beschaeftigen, und zu einem spaeteren Zeitpunkt darueber Bericht erstatten." "Ueberhaupt nicht. Im Gegenteil", sagte Gauss. "Man sollte tatsaechlich einmal ausloten, was sich in dieser Hinsicht erreichen laesst. Die Geraete, die heutzutage von Landvermessern verwendet werden, sind mit Sicherheit nicht das nonplusultra, was sich technisch erreichen laesst." - In jenen Tagen stand in Goettingen die Berufung eines Professors fuer Optik an, und Gauss wusste im Voraus, dass sich hier ein neuer Kriegsschauplatz zwischen Harding und ihm entwickeln wuerde. Den Astronomen war bei der Besetzung der neu eingerichteten Stelle ein Mitspracherecht eingeraeumt worden, da der Lehrstuhlinhaber sich auf die Konstruktion astronomischer Linsen und Geraete konzentrieren sollte, damit Goettingen nicht vollends den Anschluss an die Fraunhoferschen Werkstaetten in Muenchen und an Schott und Zeiss in Jena verloere, und sowohl er wie Harding waren Mitglieder in dem neunkoepfigen Berufungsausschuss. Die beiden Astronomen machten sich, getrennt voneinander, an einem kalten Dezembertag, vom Beobachtungsposten der Sternwarte auf ins Stadtzentrum. Der Kommission stand in der alten Aula ein eigener Besprechungsraum zur Verfuegung. An den Laengswaenden wechselten schwere Leuchter mit Bildnissen verblichener Professoren und Fuersten ab, und an der Querwand hingen zwei ueberdimensionale Protraits, Georg August von Hannover samt seines Geheimrates Muenchhausen, die die Hochschule vor fast hundert Jahren in der tiefsten niedersaechsischen Provinz sozusagen aus dem Boden gestampft hatten, mit dem Hintergedanken, hier liessen sich Gelehrte nicht so leicht von ihrer Arbeit ablenken wie in der Landeshauptstadt. Waehrend der franzoesischen Besatzung hatte die Universitaet durchgesetzt, gegen einigen Widerstand wohlgemerkt, dass Georg August dort haengenbleiben durfte. Er war zu einer Zeit englischer Koenig gewesen, so hatte man argumentiert, als die beiden Staaten noch Verbuendete und Freunde waren. Gauss traf als erster ein, waehrend der Dekan noch dabei war, Notizbloecke und Getraenke fuer die Teilnehmer zurecht zu legen, eine Aufgabe, die er sich anscheinend zur Ehre anrechnete. Sofort unterbrach er seine Taetigkeit. Er wusste, dass der junge Mensch, der da ehrfuerchtig vor ihm stand, in allen Disziplinen, die er vertrat, die Gilde der Forscher anfuehrte, waehrend seine eigene Bluetezeit schon lange hinter ihm lag. Dekan Minnigerode's Spezialgebiet war die Elektrizitaet, ein Thema, mit dem sich Gauss noch nicht beschaeftigt hatte. Um so neidloser konnte er die Gauss'schen Arbeiten anerkennen und bewundern. Er hatte allerdings vor, das Steuer der Fakultaet noch ein paar Jahre in der Hand zu behalten, und es sich nicht ohne weiteres aus der Hand nehmen zu lassen, auch nicht vom sogenannten Koenig der Mathematiker. Der gab ihm keinen Anlass, zu vermuten, er habe es auf dieses Amt, das gewiss dem Faehigsten zustand, abgesehen. Im Gegenteil, wiederholt hatte er zu verstehen gegeben, wie sehr ihn Verwaltungsaufgaben langweilten und von seinen eigentlichen Interessen ablenkten. Fuer die Naturforscher an der philosophischen Fakultaet war es ein Glueck, dass der Dekan einer der ihren war, und es war keineswegs ausgemacht, dass dies immer so bleiben wuerde. Damals bildeten die Wissenschaftler, also ausser Mathematikern, Astronomen und Physikern auch Chemiker, Germanisten, Altphilologen usw, zusammen mit den Philosophen eine einzige grosse Fakultaet, und die anderen Fachbereiche wuerden ebenfalls Anspruch auf die Position erheben, wenn Minnigerode abtrat. "Guten Morgen, Herr Gauss, haben Sie endlich einmal wieder von ihrem Kloster" - er meinte die Sternwarte - "zu uns herueber gefunden?" "Ja. Leider komme ich viel zu selten in die Stadt." "So geht es den meisten Kollegen. Sie sind so stark in ihrem Spezialgebiet engagiert, dass sie keine Zeit haben, sich mit den anderen Disziplinen auszutauschen. Unter diesen Umstaenden sind Berufungen noch die bequemste Gelegenheit, sich zu treffen." "Ich fuer mein Teil freue mich immer, mit echten Physikern und Chemikern zu konferieren", sagte Gauss. "Immerhin stellen sie mir die Instrumente fuer meine Arbeit zur Verfuegung. Von daher bin ich an einem regen Gedankenaustausch interessiert. Kuerzlich war ich auf einem Kongress in Berlin ..." "Habe davon gehoert. Ich waere selbst gern hingefahren, hatte aber wichtige Verpflichtungen, mehrere Doktor-Pruefungen ...", sagte der Dekan, der nicht gern reiste. "Von Humboldt perfekt organisiert. Es waren uebrigens mehr Physiker als Mathematiker oder Astronomen dort. Die Physik, und namentlich die Elektrodynamik, ist eben eine wichtige, weit verzweigte Wissenschaft, die ihre Arme ueberall ausstreckt." Das war ein gezieltes Kompliment, um Minnigerode gewogen zu stimmen. Eigentlich hatte Gauss in seiner jetzigen Stellung solche Schmeicheleien nicht mehr noetig; um so unverfrorener und kaltbluetiger setzte er sie ein, wenn ihm, wie in diesem Fall, besonders daran gelegen war. Da er die Gelegenheit zu einem diskreten Gespraech nicht verstreichen lassen wollte, kam er gleich auf sein Anliegen: "Ich habe dort einen sehr guten jungen Physiker kennengelernt. Wilhelm Weber, ein Optiker aus Leipzig. Er hat mir eine Reihe von wirklich interessanten Neuigkeiten ueber sein Fachgebiet beigebracht." "Der Name kommt mir bekannt vor", meinte der Dekan, obwohl er nie von Weber gehoert hatte. "Ja - er hat auf seinem Spezialgebiet bereits einen ausgezeichneten Ruf. Humboldt erwaegt, ihn zur Mitgliedschaft in der preussischen Akademie vorzuschlagen." Bei dieser Luege hielt Gauss die Luft an. Sie stimmte den Dekan, dem diese Ehrung nie angetragen worden war, allerdings nicht gewogen. Gauss spuerte das auch sogleich, setzte seinen Angriff aber neuerlich fort, indem er sagte: "Bei den Diskussionen habe ich sozusagen am eigenen Leib erfahren, dass dieser Mensch ausgezeichnete paedagogische Faehigkeiten besitzt. Ueberdies ist er ausgeglichen und kontaktfreudig, und hat ein lebhaftes Interesse an der Astronomie. Ich habe mit ihm ein Projekt verabredet, das sich trotz grosser Entfernung nach Leipzig gut anlaesst." Der Dekan war nicht dumm. "Mit einem Wort, Sie schlagen ihn als Kandidaten fuer unseren Lehrstuhl vor", sagte er laechelnd. "Nun ... wenn er geeignete Referenzen besitzt; an mir soll es nicht scheitern. Bei der Besetzung der Stelle ist es das Hauptanliegen von uns Physikern, die Kontakte mit den optischen Anwendern, das heisst hauptsaechlich mit den Astronomen, zu intensivieren, damit sie genau die Instrumente bekommen, die bisher teuer im Ausland eingekauft werden. Die Astronomie in Goettingen wird aber vornehmlich von Ihnen verkoerpert!" Damit gab er das Kompliment zurueck, und Gauss bewies mit einer angedeuteten Verbeugung, dass er verstanden hatte. Hier machten zwei einflussreiche Herren deutlich, wie wenig sie untergebene Wissenschaftler und deren Arbeit achteten. Als es von der Kirche zehn Mal herueberschlug, hatten sich alle Teilnehmer zu der Sitzung versammelt, die vom Dekan alsbald eroeffnet wurde ... "Wir haben", sagte er, "heute zuvoerderst eine Liste anzufertigen mit jenen Bewerbern, die wir zur Vorstellung einladen wollen." Jedes Kommissionsmitglied durfte einen (oder auch zwei) geeignete Kandidaten vorschlagen. Als einer der ersten wurde Haeussler genannt, sowohl von einem der Physiker als auch von Harding. Haeussler war der einzige ausgewiesene lokale Experte auf dem Gebiet der Optik und die beiden blickten erwartungsvoll auf den Dekan, ob er sie unterstuetzen wuerde. Der hielt sich wohlweislich bedeckt und bat stattdessen Gauss, seinen Vorschlag zu machen, der daraufhin ein Loblied auf Weber anstimmte. Harding widersprach sogleich, wobei er angestrengt versuchte, ruhig zu bleiben und nicht die Kontrolle zu verlieren. Er habe von Weber und dessen Projekten noch nie etwas gehoert. Gauss ging darauf im Moment nicht ein, sondern wiederholte, wie sehr er Weber schaetze. Er bestehe darauf, ihn auf die Liste zu setzen. Haeussler selbst sass derweil in seiner Werkstatt und polierte Linsen. Er hoffte natuerlich und meinte, den Posten nach Jahren harter Arbeit auch verdient zu haben. Mit Gauss als Direktor der Sternwarte war allerdings vorherzusehen, dass es Schwierigkeiten geben wuerde, und ein ungutes Vorgefuehl ueber seine Zukunft breitete sich in ihm aus. Obwohl seine Qualifikation ausser Zweifel stand und eine Hausberufung damals keine Probleme aufwarf, wuerde ihm Gauss garantiert in den Arm fallen. Auch wenn die Zeit voran schritt, das Verhaeltnis der frueheren Schulkameraden hatte sich nicht verbessert. Haeusslers blosse Anwesenheit fuehrte bei Gauss zu Missvergnuegen (und umgekehrt), und jeder war froh, den anderen moeglichst weit von sich entfernt zu wissen. Ausser den beiden Astronomen bestand die Kommission aus drei Physikern und zwei Mathematikern. Letztere sollten darauf achten, dass der neue Lehrkoerper auch in der Lage waere, die Huygensschen und die neuen Fresnelschen Formeln (die sich aus der Wellennatur des Lichtes ergeben) zu verstehen, und dass nicht etwa ein einfaeltiger Handwerker oder gar ein Anhaenger der Goethe'schen Farbenlehre eingestellt wurde. Da Gauss bei den Mathematikern - zu Recht - fuer einen der ihren galt, hatte er diese von vornherein auf ihrer Seite. Als die Liste komplett war, legte man fuer jeden Kandidaten einen Termin fest und besprach, wo Empfehlungsbriefe und Zeugnisse angefordert werden konnten. Dann vertagte man sich. - Wenn der Dekan gehofft hatte, der Konflikt zwischen Gauss und Harding werde durch die Gutachten beigelegt oder wenigstens abgemildert, so wurde er bei der naechsten Kommissionssitzung eines besseren belehrt. "Ich fuer mein Teil werde auf jeden Fall fuer Haeussler votieren", gab Harding ungefragt zu Protokoll und wandte sich dann, zum seltenen Male, direkt an Gauss. "Wer ist denn eigentlich dieser Wilhelm Weber? Ich hatte von ihm noch nie etwas gehoert, bis Sie ihn uns hier aufgetischt haben. Was hat er geleistet? Was hat er vorzuweisen?" Bei dieser unverfrorenen Rede eines Untergebenen an seinen Vorgesetzten hielten die uebrigen Kommsissionsmitglieder die Luft an. Der Dekan wunderte sich im Stillen. Wenn er sich recht erinnerte, war Harding der Erste gewesen, der vor Jahren den franzoesischen Besatzern die Berufung von Gauss empfohlen hatte. "Er hat einige interessante Untersuchungen ueber Linsen durchgefuehrt", erklaerte Gauss ruhig. "Und wie Sie sehen, besitzt er mehrere exzellente Referenzen von Fachleuten aus Sachsen, Thueringen und Bayern, aus jenen Gegenden also, wo das optische Know-how bekanntlich konzentriert ist. Ausserdem konnte ich mir bei Vortraegen und Diskussionen in Berlin persoenlich einen Eindruck von seinen Faehigkeiten verschaffen. Und ich muss sagen, nicht nur ich, alle dort waren von seinem Vortrag hoch beeindruckt. Wir sollten uns die Moeglichkeit nicht entgehen lassen, einen solchen Mann anzuwerben, der frisches Blut in unsere Werkstaetten bringen wuerde. Wenn wir Haeussler waehlen, fehlt uns dieses Element." Er vermied es, Worte wie 'festfahren' oder 'steckenbleiben' zu benutzen, das konnte man einerseits von Haeusslers Forschungen nicht ernsthaft behaupten, andererseits waeren die Anwesenden vielleicht verschnupft gewesen, wenn man Goettinger Forschungsergebnisse so abqualifiziert haette. Nachdem er hier studiert und eine so hohe Position erlangt hatte, war Gauss unzweifelhaft einer der ihren, durch unbedachte Aeusserungen wollte er sich diesen Status nicht verscherzen. Er wusste aber auch, er durfte kein Blatt vor den Mund nehmen, um jedem klarzumachen, dass eine vernuenftige Zusammenarbeit zwischen Hauessler und ihm, dem Direktor der Sternwarte, niemals moeglich sein wuerde. So fuegte er hinzu: "Von Haeussler halte ich nicht sehr viel, um es einmal frank und frei auszusprechen. Ich habe in den letzten Monaten wiederholt mit ihm zu tun gehabt. Jedesmal hat er mich kaum zu Wort kommen lassen. Er hat zu allem eigene Vorstellungen, und ist anscheinend nicht in der Lage, Wuensche zu beruecksichtigen, die von den Anwendern an ihn herangetragen werden." "Es ist mir ein Raetsel, wie Sie zu dieser Einschaetzung kommen", widersprach Harding. "Ich habe mit Dr. Haeussler ganz andere, genau entgegengesetzte Erfahrungen gemacht. Er ist ein unglaublich kompetenter Ansprechpartner, nicht nur in der Optik, sondern bei allen Problemen, die die Instrumentierung der Astronomie betreffen, und sogar bei theoretischen Fragen. Ich glaube, seine Kollegen von der Physik werden bestaetigen, wie umgaenglich und freundlich er ist, und dass er fuer alle wissenschaftlichen Fragen ein offenes Ohr hat. Ich bin der festen Ueberzeugung, um seiner bisherigen Verdienste willen muessen wir Haeussler berufen." Dagegen liess sich schwerlich viel anderes sagen, als dass man in der Beurteilung dieses Mannes offenkundig nicht uebereinstimmte, und als dieser Gegensatz sich auch in den folgenden Sitzungen und nach der Vorstellung der Kandidaten und monatelangem Grangel nicht abmilderte, kam es in einer nachmittaeglichen Entscheidungssitzung nochmals zu einem offenen Schlagabtausch zwischen den Kontrahenten, mit beleidigenden Untertoenen, so dass der Dekan schliesslich ein Machtwort sprechen musste. "Herr Harding", verwarnte er den Astronomen, "ich bin sehr irritiert ueber die Heftigkeit dieser Auseinandersetzung. Herr Gauss ist nun einmal der Leiter des Observatoriums, und Sie werden sich damit abfinden muessen, dass wir uns bei der Neubesetzung hauptsaechlich nach seinen Wuenschen richten." Als Haeussler die Mitteilung von seiner Niederlage erhielt, fuehlte er sich aufs Tiefste getroffen und in seinem Forscherstolz verletzt. Er meinte, sein Kopf muesse zerspringen; Fluchtimpulse mischten sich mit Hassgefuehlen und Rachegedanken, und nicht viel spaeter erfasste ihn ein derartiger Widerwille gegen die Wissenschaften, dass er glaubte, jegliches Interesse daran sei ihm fuer immer vergaellt. Gewiss, bei rationaler Abwaegung der Situation hatte er mit dieser Entscheidung rechnen muessen und Gauss die menschliches Groesse, die Qualitaet seiner Arbeit anzuerkennen, nicht zugetraut. Und doch hatte er waehrend aller Phasen des Berufungsverfahrens die Hoffnung nicht aufgegeben, dass seine Physikerkollegen ihn nicht ihm Stich lassen wuerden. Doch nur Harding hatte am Ende zu ihm gehalten, die Abstimmung war 6:1 fuer Weber ausgegangen. Muehsam hatte er sich vor Jahr und Tag mit Hanna's Anwesenheit in Goettingen arrangiert. Seine an sich interessante Taetigkeit hatte ihn von allzu traurigen Gedanken abgelenkt; und er war gewissermassen zufrieden gewesen - bis die Stellenauschreibung sein kleines Universum durcheinander wirbelte. Haeussler also war schwer gekraenkt. Ausserdem konnte er sich nicht vorstellen, mit dem wesentlich juengeren Weber friedlich zusammen zu arbeiten. Gauss, so meinte er, werde seine Machtstellung im Laufe der Jahre immer weiter ausbauen, wichtige Positionen mit Leuten seiner Wahl besetzen, die ihm, Haeussler, das Leben schwer machen wuerden ... mit einem Wort, man werde ihn immer weiter an die Wand draengen, dieweil der andere mit Hanna ein glueckliches Leben fuehrte - kurz gesagt, die Situation schien ihm unertraeglich. In Wirklichkeit war Gauss keineswegs durch und durch der Machtmensch, der nach einflussreichen Aemtern giert, um dort ein Netz von Verbindungen zu spinnen. Im Gegenteil, er wollte nur moeglichst viel Zeit fuer seine Arbeit haben; alles andere interessierte ihn wenig. In seinem Feldzug gegen Haeussler war es ihm hauptsaechlich darum zu tun, einem Menschen, den er nicht mochte und dessen blosse Anwesenheit ihm Unbehagen bereitete, aus seinem Wirkungskreis fernzuhalten. Auch war er viel weniger zufrieden, als es nach aussen den Anschein hatte. Wahre Forscher sind selten mit dem zufrieden, was sie bewiesen oder erfunden haben; sie werden, trotz Anerkennung, trotz gut dotierter Position, staendig von Zweifeln geplagt, ob sie Fehler gemacht haben, ob sie ueberhaupt das richtige Feld bestellen oder ob sich, bei groesserem Geschick, aus ihren Ideen nicht viel mehr herausholen liesse. Und gluecklich? Als gluecklich haette sich Gauss wohl kaum bezeichnet. Natuerlich, er besass Hanna, die eine grosse Liebe seines Lebens. Doch hatte sie eine Fehlgeburt erlitten und war darueber untroestlich. Auch ihm ging der Verlust an die Nieren. Er versuchte aber, ihn durch rastlose Arbeit weitgehend zu verdraengen. - Die Zeit verging. Hanna wurde wieder schwanger und Weber trat die Stelle in Goettingen an. Die Beziehung zu ihm entwickelte sich fuer Gauss erfreulicher, als er zu hoffen gewagt hatte. Insgeheim war ihm durchaus bewusst gewesen, welches Risiko man mit der Verpflichtung eines unerfahrenen Fremden fuer den Lehrstuhl einging. Wenn man eine so wichtige Position falsch besetzte, hatte die ganze Physik und Astronomie auf viele Jahre darunter zu leiden. Bereits nach kurzer Zeit entstand eine regelrechte Freundschaft zwischen den beiden Maennern (fast so wie damals zu Bolyai) und, angefacht von Webers Bestreben, seinen Goenner nicht zu enttaeuschen, ein produktives Arbeitsverhaeltnis, in dem Gauss jederzeit die Oberhand behielt. Ueber weite Teile des Jahres verbrachte der Optiker mehr Zeit in Gauss' grossem Buero an der Sternwarte als in seinen Werkstaetten oder am physikalischen Institut. Ein Fruehaufsteher, der noch vor dem Pfoertner dort eintreffen wuerde, um mit den Experimenten fortzufahren, an denen sie gerade arbeiteten. Endlich, obwohl er sich hatte wecken lassen, wuerde auch Gauss erscheinen, ebenso ungeduldig, voran zu schreiten, und den ganzen Tag ueber wuerden sie hantieren, justieren und aufgeregt diskutieren, um die richtigen Einstellungen an ihren Geraeten zu finden ... Hier uebrigens, ob Sie es glauben oder nicht", und dabei liess der Erzaehler seine krummen arthritischen Arme kreisen, "war sein Arbeitszimmer. Wie Ihnen bekannt sein duerfte, sind die Gebaeude der alten Sternwarte vor Jahren der Bibliothek einverleibt worden. Man hat hier die naturwissenschaftliche und die mathematische Abteilung untergebracht, und dieser Nebenraum ist tatsaechlich sein Buero gewesen. Wir befinden uns an einem Ort, wo grosse Entdeckungen gemacht wurden! Sie wundern sich? Ein geraeumiges Kontor, gewiss. So etwas steht einem Minister oder Kanzler an - und einem Gauss. In diesem Raum hat er all seine Schaetze gehuetet, Auswertungen und Aufzeichungen sowohl wie die neu entwickelten Instrumente. Uebrigens hat er bald nach Webers Verbannung und nach jenen unseligen Tagen des Jahres 1813, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde, kaum noch jemanden hereingelassen. Erst nach seinem Tod ist eine Inventur vorgenommen worden. Doch seltsam: die kostbarsten seiner Ergebnisse fehlten und sind nie wieder aufgetaucht. Weber und er optimierten damals nicht nur die Teleskope, sondern betaetigten sich auch in anderen Fachgebieten. Unter anderem entwickelten sie den ersten funktionsfaehigen Telegrafen, der zwischen der Sternwarte und dem physikalischen Institut zum Echt-Einsatz kam, und sodann jenes Instrument, Helioskop genannt, welches Gauss die schier unglaublichen Resultate bescherte, von denen noch zu reden sein wird. "Wir haben jetzt alle Fernrohre mit unserem neuen System ausgestattet", stellte er eines Tages fest, "und, im Vertrauen, die Arbeit beginnt mich zu langweilen. In der Himmelskunde sind keine echten Herausforderungen in Sicht. Meine praktischen Astronomen koennen jegliche Beobachtung, die sie fuer notwendig erachten, gut ohne mich ausfuehren, und ich finde, wir beide sollten uns ein anderes Betaetigungsfeld suchen. Bringe doch endlich einmal die Apparatur hierher, die du dir in Leipzig ausgedacht hast. Ich habe mich zwar schon lange nicht mehr mit meinem Vermessungsprojekt beschaeftigt, aber gestern abend bin ich zufaellig ueber die alten Plaene gestolpert ..." "Du meinst, den Theodolithen. Der liegt gut verpackt bei mir zu Hause." "Wenn ich dich damals richtig verstanden habe, ist das mehr als ein gewoehnlicher Theodolith. Du hast mir doch aus Leipzig eine ausfuehrliche Ankuendigung geschickt; und wir hatten auch schon in Berlin besprochen, welche Anforderungen das Geraet erfuellen muss." "Ja, gewiss. Ich werde Ihn nachher gleich holen. Aber bitte, verspreche dir nicht zuviel davon; ich habe vielleicht etwas uebertrieben in dem, was das Ding zu leisten vermag", gab Weber selbstkritisch zu. "Das macht nichts. Du wolltest den Bericht deiner Bewerbung beilegen, und es ist ganz klar, dass du ihn dafuer aufpolieren musstest." Er nickte dem Freund aufmunternd zu. "Ich weiss jetzt schon, es wird viel Spass machen, das Geraet mit dir zusammen weiter zu entwickeln. Uns wird bestimmt etwas einfallen." Voller Vorfreude rieb er sich die Haende. "Ich bin sicher, dass sich bei entsprechender Anstrengung die Genauigkeit handels-ueblicher Instrumente weit uebertreffen laesst." Er werde gleich losgehen und die Kiste holen, sagte Weber. Er konnte sich zwar nicht recht vorstellen, was Gauss mit einem derart genauen Instrument fuer die Landvermessung eigentlich bezweckte, die frueheren Andeutungen hatten ihn nicht schlau gemacht; aber so war eben die Arbeitsteilung zwischen den beiden organisiert, auch bei den Linsen hatte er keine tiefer gehenden Fragen gestellt. Gauss holte unterdessen ein paar Landkarten hervor und fuhr mit den Finger darauf herum. "Mmh", seufzte Gauss bedenklich, als Weber eine halbe Stunde spaeter zurueck kam und das wacklige Trumm auspackte. Er sah auf den ersten Blick, dass hier nicht viel mehr getan worden war, als einen gewoehnlichen Sextanten mit einem Spiegel fuer das Sonnenlicht auszuruesten. Das sei immerhin ein Anfang, sagte er dann jedoch aufmunternd. "Ich habe es dir gesagt. Wir werden ganz schoen Schmalz investieren muessen." "Macht nichts. Immerhin koennen wir auf deine grossartigen Linsen zurueckgreifen und die Montierungen, die wir fuer die Telekope entworfen haben. Ich moechte mit dir jetzt sofort einen Plan entwerfen fuer ein wesentlich groesseres Instrument als dieses hier, ausgestattet mit den genauesten Glaesern und Spiegeln, die wir haben, um das Sonnenlicht auf einen extrem kleinen Punkt zu konzentrieren. Schau her. Dann koennen wir die Skala um mehrere Zehnerpotenzen verfeinern." - Anfang Oktober 1813 stand Hannas Niederkunft kurz bevor. Eines Abends kam Gauss muede von der Arbeit nach Hause. Seine Mutter oeffnete ihm mit finsterer Miene. "Ihr ist schlecht geworden", sagte sie. "Ich musste den Arzt holen. Er ist noch bei ihr. Am besten, du sprichst hinterher gleich mit ihm." "Das ist wohl normal in ihrem Zustand", dachte er, setzte sich ruhig ins Wohnzimmer und wartete, bis der Gynaekologe herunter kam, ein hochgewachsener Mensch mit durchdringendem Blick und von ziemlich direkter Wesensart. "Ich muss Ihnen leider mitteilen", hoerte ihn Gauss nach den Begruessungsfloskeln sagen, "der Zustand Ihrer Frau ist ziemlich besorgniserregend. Sie verliert staendig Blut, ohne dass ein Grund dafuer zu erkennen ist. Ich halte es fuer besser, wenn wir weitere Experten zu Rate ziehen und sie in die neue Geburtsklinik einweisen." "Warum auch nicht", meinte Gauss nach kurzer Ueberlegung. Schliesslich wuerde sie dort unter der Aufsicht erfahrener Aerzte stehen. Wenn er gewusst haette, dass er damit ihr Todesurteil unterschrieb! Das Krankenkaus war der Wirkungskreis unfaehiger Chirurgen und eine Brutstaette des Kindbettfiebers. Ganz gleich, welche Komplikationen bei einer Hausgeburt aufgetreten waeren, sie waren nichts im Vergleich zu jenem Drama, welches sich nun anbahnte. Innerhalb weniger Tage wuerde Gauss den wichtigsten Stuetzpfeiler seines Daseins verlieren und sein Leben fuer immer auf eine abschuessige Bahn geraten. Ein Vorgefuehl, eine Ahnung davon, erfasste ihn, als er den Krankensaal der Klinik zum ersten Mal betrat. In dem duesteren Raum roch es nach menschlichen Ausscheidungen, nach Schweiss und Erbrochenem, und feuchtem Faulig-Verdorbenem. Nach Vergaenglichkeit. Schwer wie Blei lag die Luft, und Saeuglingsgeschrei mischte sich mit dem Gestoehn und Gewimmer kranker oder gebaerender Frauen. Wackelige Trennwaende teilten die Bettstellen ab; dazwischen waren Leinen gespannt, auf denen grosse graue Tuecher zum Trocknen hingen. Bleich und sterbenselend lag Hanna in ihren Kissen. Kaum, dass sie zur Begruessung den Kopf heben konnte. Stunden vorher war es den Aerzten endlich gelungen, das tote Kind aus ihrem Unterleib zu schaben. Auf einem Beitisch lagen noch die medizinischen Bestecke herum, in Eiter und Blut. Troestend legte Gauss seine Hand auf ihr verschwitztes Haar. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was man mit ihr angestellt hatte. "Hoffentlich kommt sie schnell ueber Berg", dachte er, und tatsaechlich sass sie am naechsten Tag, als er sie besuchte, aufrecht im Bett, ein seltsames Laecheln auf den Lippen. Am naechsten Abend aber ging es ihr wieder schlechter, und am uebernaechsten hatte sie hohes Fieber. Sie war zu schwach, ihm auch nur die Hand zu geben. Das schreckliche Unglueck, von dem sie bedroht wurde, liess sich mit Haenden greifen. Danach wurde ihr Zustand kritisch. Gauss machte sich Vorwuerfe, sie waehrend der Schwangerschaft zu oft allein gelassen zu haben, wenn Aengste vor der Niederkunft sie plagten oder die Schwiegermutter ihr zusetzte. Wie oft hatte er bis spaet in die Nacht gearbeitet und war heim gekommen mit dem einzigen Wunsch, ins Bett zu fallen, schnell einzuschlafen und gleich am naechsten Morgen seine Experimente fortzusetzen. Was, wenn er sie verloere? Viel zu wenig Lebenszeit hatte er mit ihr verbracht! Solche und aehnlich verzweifelte Gedanken suchten ihn heim, waehrend er an ihrem Bett sass und nichts fuer sie tun konnte. Jetzt, wo es zu spaet war, sagte er alle beruflichen Termine ab. Ein paar Tage ging es hin und her. Wenn er morgens zu ihr kam, den mitleidigen Blick einer Schwester im Ruecken, schien sie ihm ein klein wenig munterer, doch er wusste es schon, solche Fieber haben die Eigenschaft, vormittags abzuklingen, bevor sie abends mit um so groesserer Heftigkeit zurueck kehren. "Oh Hanna", sagte er. "Ich liebe dich so unbeschreiblich! Bitte verlass mich nicht. Ich koennte ohne dich nicht weiterleben." Ihre Stimme kam fluesternd; lautes Sprechen strengte sie an. "Ich weiss nicht, wie es weitergehen wird mit mir. Doch wenn das Schlimmste geschieht, graeme dich nicht zu sehr. Ich kann im Himmel nur gluecklich sein, wenn ich dich hier unten zufrieden weiss." Sie atmete schwer und schloss vor Anstrengung die Augen. Dann oeffnete sie sie wieder und er meinte darin einen Hauch ihrer frueheren Lebendigkeit zu erkennen. "Ich glaube wirklich, bald bin ich nicht mehr da", sagte sie. "Bin nicht mehr da, um bei dir zu sein, um dich zu troesten, wenn dir irgendetwas Arges widerfaehrt, oder um deinen Zorn zu zerstreuen, wenn dich Harding geaergert hat." Dabei laechelte sie, und in diesem Moment schienen seine beruflichen Streitigkeiten und Sorgen, sein ganzes wissenschaftliches Vorwaertskommen vollkommen nebensaechlich und bedeutungslos. Das war am Dienstag gewesen, und am Donnerstag war sie tot. Gauss erlebte den Vorgang wie einen Albtraum, an dem sein Bewusstsein nicht teilhaben wollte. Er floh aus der Klinik nach Hause, und schloss sich dort in sein Zimmer ein; von der Mutter wollte er sich nicht troesten lassen. Natuerlich fand er dort keine Ruhe. In seinem Kopf raste ein Tornado der Trauer, der alle Gedanken wie duennes Papier in Schnipsel zerfetzte. Er heulte und weinte und ploetzlich floss es auch aus allen anderen Koerperoeffnungen, Magen und Darm stiessen die Mahlzeiten ab, als liesse sich dadurch die Vorstellung ihres Nicht-Mehr-Seins aus seinem Koerper vertreiben. Als er sich schliesslich ganz und gar entleert hatte, beruhigte sich sein Metabolismus, und da griff Gauss, der sonst wenig trank und Alkohol schlecht vertrug, bedenkenlos zu dem Weinbrand, der lange Zeit unberuehrt im Schrank gestanden hatte, und soff, bis sein Verstand voellig betaeubt war. Einer alten Sitte folgend lag die tote Frau am naechsten Morgen im Erdgeschoss des Hauses aufgebahrt; jedermann sollte von ihr Abschied nehmen koennen. Die Anwesenheit des Leichnams, die er 24 Stunden lang zu ertragen hatte, machte ihn halb wahnsinnig. Er ueberliess es seiner Mutter, die Kondolenzbesuche abzufertigen. Die Ablenkung, sich auf das Geschwaetz Anderer zu konzentrieren, wuerde seinen Schmerz nicht lindern. Im Gegenteil, der Kopf wuerde ihm dabei zerspringen. Er blieb im Bett und waelzte sich in den Kissen, wobei er abwechselnd leise weinte und stoehnte und schrie oder erschoepft an die Decke starrte. Er wusste, dass alle Freuden des Lebens fuer immer verloren waren. Und die ganze Zeit lauerte es hinten in seinem Bewusstsein auf den Moment des Begraebnisses, und als der naechste Morgen daemmerte und unten das Gepolter der Dienstleute zu hoeren war, die den Sarg zur Leichenhalle befoerdern sollten, erhob er sich hektisch; er musste ja aufstehen und sich fertigmachen. Da drehte sich alles um ihn her, das war wohl der Kreislauf, und unter seinen verklebten Lidern sah er Schatten durchs Zimmer jagen, Taeuschungen eines von Alkohol und Muedigkeit benebelten Verstandes. Tranig kleidete er sich an (seine Mutter hatte den schwarzen Anzug zurechtgelegt) und begab sich nach unten, wo man bereits auf ihn wartete. Da standen Hannas Verwandte, ihr Vater und zwei Geschwister, die eben aus Braunschweig eingetroffen waren und ihm seine Verschlossenheit nicht uebel nahmen. Sie umarmten ihn wortlos, wie man Menschen umarmt, deren Elend man teilt. Zuletzt blickte er nach der Mutter. Er war nicht mit ihr im Unreinen (Wohin haetten auch Vorwuerfe fuehren sollen?), er umklammerte ihre Schultern und schloss die Augen, er schluckte und gab sie dann wieder frei. Anschliessend machten sich alle schweigend auf den Weg zum Friedhof. Gauss versuchte, sich gerade zu halten, und spuerte doch ein unwiederstehliches Verlangen, sich im Strassengraben oder im naechsten Hausflur zu verbergen, so gern waere er mit seinem Kummer allein gewesen und so sehr fuerchtete er die Naehe jenes toten Fleisches, das einmal seine Frau gewesen. Sie betraten die Friedhofskapelle, sie schleppten sich vorwaerts, an Dutzenden Menschen vorbei, die sich auf den Hinterbaenken versammelt hatten - Hanna's Hinterlassenschaft an Goettinger Bekannten, Nachbarn und Freunden, die nun ihre Koepfe gesenkt hielten, kein Laut war zu hoeren. Die meisten konnte Gauss von hinten nicht identifizieren, fremd und seltsam wie Ausserirdische schienen sie ihm. Die Familie befand sich jetzt keine drei Meter vom offenen Sarg entfernt und setzte sich auf die freigehaltenen Plaetze in der vordersten Reihe, Gauss in der Mitte. Waehrend dieses ganzen Vorganges des Hinbewegens und Platznehmens hatte er die Augen gesenkt gehalten, um die Leiche nicht ansehen zu muessen. Nur einmal war sein Blick nach ihr ausgeglitten, da hatte er schlucken muessen und schnell wieder weg geschaut. Der Sarg war auf einer Empore abgestellt und konnte im Sitzen zum Glueck nicht richtig eingesehen werden. Drumherum waren Blumen arrangiert. Gauss wusste nicht, sollten sie an das bluehende Leben erinnern, das Hanna einmal gewesen war? Da nun die Trauergemeinde versammelt war, und nach weiteren Minuten der Andacht, trat der Pfarrer vor, und mit langsamen Bewegungen zuendete er einige grosse Kerzen an. Dann breitete er die Arme aus, er senkte sie wieder und predigte. Gauss hielt die Augen halb geschlossen. Er wusste, dass man die Toten wusch und zurechtmachte, bevor man sie in den Sarg legte. Hanna's Gesicht sah wahrscheinlich nicht ganz so verzerrt aus wie es sich ihm von ihren letzten Stunden eingepraegt hatte, und doch ... das Unheimliche, dass sie nun wie eine waechserne Puppe da lag, aus der alles Menschlich-Vertraute wie aus einem lecken Ballon herausgestroemt war, mochte er sich nicht vorstellen und schon gar nicht besichtigen. Er suchte sich dadurch von der grausigen Gegenwart des Leichnams abzulenken, indem er seine Gedanken auf die Hoffnung konzentrierte, im Himmel moege es ihr besser gehen. Doch das brachte ihn nur zurueck zu der Verzweiflung ueber den Verlust, den er auf der Erde erlitten hatte. Zuletzt versuchte er den Worten des Pfarrers zu folgen. Die aber wollten ihm nicht ins Bewusstsein gelangen. Wie eine undurchdringliche Mauer war seine Depression. Irgendwie brachte er den Gottesdienst hinter sich, ohne auf dem Stuhl zusammen zu brechen. Die groesste Pruefung aber stand ihm noch bevor. Denn nun schlossen die Traeger den Deckel. Sie trieben Naegel hinein und ihr Haemmern toente graesslich durch die Halle und machte jedem Anwesenden das Endgueltige dieses Tuns bewusst. Dann nahmen sie Aufstellung, um den Sarg zu schultern und zu seinem Bestimmungsort zu transportieren, und alles geschah bedaechtig und gemessen und so, als wolle man den an sich praktischen Handlungen dadurch eine besondere, sakrale Bedeutung verleihen. Als naechstes stellten sich die Trauergaeste auf, und danach begann der langsame und, wie Gauss schien, schwankende Umzug ueber die Friedhofswege zum offenen Grab. Mit einer Geste, die ihm aus der Kindheit vertraut war, nahm ihn die Mutter am Arm. Dass er direkt hinter dem Sarg gehen sollte, machte ihm besonders zu schaffen. Er versuchte sich nur auf Aeusserlichkeiten zu konzentrieren, die schweren Schritte der Maenner, Blumen, Straeucher und manches Geschirr bei den Graebern, an denen sie vorbeikamen; auch der Ruf eines einsamen Vogels war ihm willkommene Ablenkung. Ploetzlich brachen von hinten die Posaunen los. Sie spielten so laut und kreischend, dass sie selbst ihn, in der Tiefe seines Elends, erschreckten; und waehrend des ganzen furchtbaren Weges zur Grabstaette wurde die Prozession von ihrem Gebruell begleitet. Einige Schnaepse hatten die Musiker munter gemacht; vielleicht meinten sie auch, boese Daemonen mit ihrem Donnerhall zu vertreiben. Dabei machten sie Gauss diesen Gang nur schwerer. Endlich erreichte man eine Biegung, hinter der die frisch ausgehobene Grube in Sicht kam. Gauss stockte der Schritt, so dass seine Mutter ihn ihn vorwaerts ziehen musste. Der Sarg wurde abgesetzt und an Seilen vorsichtig herabgelassen. Die Trauergaeste verteilten sich in der Runde. Gauss nahm dies alles nur rein aeusserlich wahr, waehrend sein Geist danach duerstete, der boesen Wirklichkeit zu entfliehen. Er wusste, nun sollte er vortreten und mit dem bereit stehenden Spaten Erde auf seine Frau werfen. Tatsaechlich, da stand er, blickte betaeubt in die Grube und zoegerte einen Moment, in dem er sich vorstellte, wie ihr starrer Koerper dort unten lag und bald verwesen wuerde. Da kniete er nieder, von Verzweiflung ueberwaeltigt. Er hatte alles verloren, was ihm lieb und teuer war. Nur tote Formeln waren ihm geblieben. Die wollte er nun auch nicht mehr. Und ploetzlich ueberkam ihn ein solches Entsetzen, wie eine schnell wirkende Droge breitete es sich in seinem Koerper aus, dass er aufsprang und, statt nach dem Spaten zu greifen, sich flugs umdrehte, den erstaunten Blicken der Anwesenden entweichend und den grauenvollen Ort mit schnellen Schritten floh. Wahrscheinlich sind Sie schon einmal auf einem Begraebnis gewesen", wandte sich der Alte unmittelbar an mich, "und wundern sich, warum ich dies alles in so schwarzen Farben male. Fuer Aussenstehende ist der Tod eines Menschen etwas ganz und gar gewoehnliches. Er steht uns allen bevor, und wir haben uns mit seiner Existenz abzufinden. Fuer enge Angehoerige aber ist er die schlimmste Katastrophe, etwas, was sich nicht wieder gut machen oder ausgleichen laesst; und in dem letzten Geleit, das sie dem lieben Menschen geben, empfinden sie dieses am heftigsten. Manchen gelingt es, sich zu einer aufrechten Haltung zu zwingen, in der Meinung, damit den Toten zu ehren. Gauss jedoch konnte den Augenblick des Abschieds nicht ertragen, so zerschmettert war er, so ausser sich und so am Rande eines Nervenzusammenbruches, dass er nicht die Kraft dazu fand. Mit fliegender Hast lief er aus dem Friedhof hinaus, durch die Gassen der Stadt und das oestliche Stadttor. Er lief und er rannte und hielt erst bei den Kuhweiden an, wo er sich keuchend ins feuchte Gras hockte. Bald schon hatte ihn der furchtbare Jammer wieder eingeholt, doch hier erschreckten ihn wenigstens nicht die Insignien des Todes, hier war friedvolle Lebendigkeit; ein Baum, ein Strauch, das Gras war lange nicht geschnitten, und hinten lag ein Feld, auf dem der Bauer gestern noch mit Pferd und Pflug einher geschritten war. Zwei Tage spaeter reiste er zu Zach-Olbers, von dem er abends daheim folgende Mitteilung vorgefunden hatte: "Verehrter Gauss, mein herzlichstes Beileid. Ich kann verstehen, wie Sie sich fuehlen - wenn Sie wuessten, wie gut ich Sie verstehen kann! - da ich selbst einmal Aehnliches durchgemacht habe. Wie leidenschaftlich haben Sie Ihre Frau geliebt! Wie unermesslich muss Ihr Schmerz sein! Auch wenn wir Lebenden allenthalben Zeugen von Geborenwerden und Sterben sind, so gibt es doch Faelle, die uns besonders niederwerfen und staerker bedruecken, als wenn es uns selber getroffen haette. Ich empfehle Ihnen, den Ort des Schreckens zu verlassen und mich in Bremen zu besuchen. Hier koennen Sie sich von der Naehe des Meeres und vom flachen weiten Land, der Marsch und der Geest, troesten lassen - und von den Sternen, die wir gemeinsam beobachten. Wahrscheinlich wird selbst die Groesse und Erhabenheit des Kosmos (die Zeugnis von der Groesse Gottes gibt) Sie nicht ganz von Ihrem persoenlichen Leid ablenken, und da es der Kosmos nicht vermag, wird auch nichts anderes dazu in der Lage sein. Doch will ich Sie lehren, mit der Trauer zu leben, die Sie noch lange begleiten wird, so wie ich es selber gelernt habe, und Ihnen beweisen, dass der einzige Wert, der uns zuletzt bleibt, derjenige unserer wissenschaftlichen Arbeit ist." Gauss machte sich keine Illusionen. Nachdem er aber zwei Naechte in den eigenen vier Waenden nicht geschlafen hatte und vor Verzweiflung fast verrueckt geworden waere, eilte er nach Norden, ohne sich von jemand anders als seiner Mutter zu verabschieden. Er schlich sich regelrecht von Goettingen fort, und laenger als ein halbes Jahr verbrachte er bei Freund Zach-Olbers, in der Hoffnung, die klaffende Wunde der Trauer moege bis zum naechsten Fruehling und Sommer vernarben. - An duesteren Winterabenden sah man oft einen noch ziemlich jungen, doch wie von einer schweren Last oder Enttaeuschung gebeugten Unbekannten mit gesenktem Haupt an dem frischen Grab in Goettingen stehen, der sich scheu zurueckzog, wenn Stimmen oder Schritte heran kamen. Er wollte die tote Frau Gauss nicht durch Gerede in Misskredit bringen und besuchte sie meist bei starkem Regen oder strengem Frost, wenn sich keine andere Menschenseele auf den Friedhof verirrte. Er stand einfach so da, kraftlos, mit gesenktem Kopf und nur gelegentlich hob er den Blick auf die wettergebeutelte Natur, die allmaehlich hinter dem Schleier der Dunkelheit verschwand. Irgendwann wankte er heim und verkroch sich mit frierenden Gliedern im Bett. Er fragte sich, wie das Leben wohl verlaufen waere, wenn sie seinen Brief damals erhalten haette, und gab sich melancholischen Phantasien hin. Vor seinen Augen entstanden imaginaere Bilder eines gluecklichen Zusammenlebens, und das beruhigte ihn seltsamerweise, und er schlief so gut wie selten seit der Zeit, da er die Hoffnung auf einen Professorenposten aufgegeben hatte. Sie koennen sich denken, um wen es sich handelte. Jahrzehnte spaeter wuerde er in einem Brief an seine Jugendfreundin Lisa Koeppe schreiben: "Es sind nun 25 Jahre her, seit ich Goettingen den Ruecken gekehrt und mich dauerhaft in Frankfurt niedergelassen habe. Waehrend dieser Zeit haben viele Ereignisse stattgefunden, so dass der Umfang des Briefes nicht ausreichen wuerde, Ihnen alles angemessen mitzuteilen. Keines dieser Ereignisse jedoch, auch nicht alle zusammengenommen, waren in der Lage, aus meinem Gedaechtnis die Erinnerung an jene gluecklichen Augenblicke auszuloeschen, die ich in Hanna's Gegenwart genossen habe und die - heute kann ich es offen gestehen - die gluecklichsten meines Lebens waren. Immer wenn ich an meine Jugend denke, was ich oft tue, quaelt mich die Vorstellung, welches Glueck mir entgangen ist." Der Alte schien diesen Brief vollkommen auswendig zu kennen; denn er zitierte ihn fluessig und mit solcher Inbrunst und Intonation, als habe er ihn selbst soeben verfasst. Dann sagte er: "Da hatte Gauss schon laengst sein furchtbares Schicksal ereilt ... Gauss, der uebrigens das Grab seiner Frau weiterhin gemieden hat, auch als er schon lange aus Bremen zurueck war. Dass die Ueberreste jenes lebendigen jungen Maedchen, das ihm so viel bedeutet hatte, dort unten in der Erde verfaulten, diese Vorstellung konnte er einfach nicht ertragen. Stattdessen setzte er eine Gewohnheit fort, die er in der Hansestadt angenommen hatte, seine Tage draussen in den Waeldern und Feldern vor der Stadt zu verbringen und bis zur Erschoepfung im Weserbergland zu wandern. Soweit als moeglich entledigte er sich aller Verpflichtungen an der Sternwarte; er liess es ohne Widerstand geschehen, ja, foerderte es sogar, dass Harding die meisten Funktionen an sich zog. Manchmal, wenn er nach Hause kam, schrieb er seine Gefuehle auf. "Oh Hanna, warum hast du mich verlassen? Mit dir habe ich alles verloren, was mir im Leben kostbar war. Es ist wahr, du warst so einzigartig und uneigennuetzig, eigentlich hatte ich dich gar nicht verdient. Wirst du wenigstens im Geiste bei mir bleiben? Ich fuehle mich so einsam unter all den froehlichen Menschen auf dieser Welt, dass ich hart gegen sie werden koennte. Ich weiss, das ist ungerecht, ich weiss aber auch, dass ich meinen Schmerz niemals vergessen kann. Warum hast du mich verlassen? Kannst du nicht sehen, dass du geboren warst, an meiner Seite zu bleiben? Bevor ich dich kennenlernte, war ich wie ein Ertrinkender im dunklen Ozean, ein Fisch in der Sandwueste, ein Blinder unter Sehenden. Erst durch deine Liebe habe ich alles bekommen, was ich mir wuenschte. Die Bedeutung des Wortes Glueck habe ich erst in deinen Augen gefunden. Du warst meine Haelfte, die mir gewaltsam aus dem Leib gerissen wurde. Ich habe dich mehr als alles andere auf der Welt geliebt ... Jetzt haettest du schon lange das Kindbett verlassen, wandeltest neben mir, mit unserem Saeugling im Arm, und freutest dich deiner Genesung ... Oh, ich koennte irre werden an diesen Gedanken." Natuerlich machten ihn diese Notizen nicht gluecklicher, und er beschloss, dass es besser sei, das Wandern bis zur Erschoepfung fortzusetzen als am Schreibtisch vor sich hin zu gruebeln. Die koerperlichen Anstrengungen wuerden seinen Geist schon in ruhigere Bahnen lenken. Allein, an manchen Tagen, und besonders wenn die helle Sommersonne von einem blauen Himmel schien, wurde er auch waehrend seiner einsamen Fussmaersche immer tiefer in den Strudel der Trauer hinein gezogen, und mehr als einmal erwog er ernsthaft, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er war nicht der Mensch, solche Ideen spontan in die Tat umzusetzen, sondern nahm sich Zeit, diese Option mit den Resten seines Verstandes von allen Seiten zu beleuchten. Trotz seines Ungluecks hatte er den Bezug zum analytischen Denken nicht vollends verloren. Und so bewertete er die Vorteile des Freitodes: Waere er mit der Geliebten nicht wieder vereint und der Trauerlast ledig? Hatte er nicht genug erreicht im Leben, genug gegeben, und war ihm die Wissenschaft nicht fremd geworden seit Hanna's Tod? War er nicht wie eine leere Huelle, antriebslos und verzweifelt, von der niemand, und am allerwenigsten er selbst, noch viel erwarten konnte? Laengst hatte er die Hoffnung aufgegeben, seine wahnsinnigen Qualen wuerden mit der Zeit einer ruhig ertraeglichen Depression weichen. Jeden Morgen aufs neue brandeten riesige Wogen unertraeglichen Leides an die geschundenen Ufer seiner zermuerbten, schmerzenden Seele. Wie eine staehlerne Faust fassten sie ihn, liessen ihn den ganzen Tag nicht los und stahlen ihm auch die naechste Nachtruhe. 'Die Zeit heilt alle Wunden' lautet ein alter Sinnspruch, der wie Hohn in seinen Ohren schallte; so oft hatte er ihn von wohlmeinenden Bekannten gehoert, die sich nicht vorstellen konnten, dass jemand Tag fuer Tag, Monat fuer Monat und ohne Unterlass von Trauer verfolgt wird. In seinem Bett mochte er nicht mehr schlafen. Wenn es im Schlafzimmer dunkel wurde, erschienen die Schatten der Vergangenheit und zwangen ihn, sich daran zu erinnern, wie gluecklich er hier gewesen war. Wenn er es ueberhaupt dort aushielt, wuerde er sich stundenlang herumwaelzen, ohne auch nur eine Minute Ruhe zu finden. Erst in der zweiten oder dritten Nacht war er dann gewoehnlich so muede, dass er drei oder vier Stunden lang in einen erschoepften traumlosen Schlaf fiel, aus dem er, lange vor Tagesanbruch, ploetzlich hochschreckte. Er war dann sofort hellwach, setzte sich aufrecht ins Bett und starrte ins Leere; und um den allerfinstersten Einfaellen zu entgehen, zuendete er schnell eine Kerze an. Tagsueber machte ihm sein Herz zu schaffen. Es pochte heftig und arbeitete unregelmaessig. Nur die Wanderungen und Schlaf in der sommerlichen Natur verhinderten, dass er chronisch krank wurde. Denn oft kampierte er im Freien, und die Anstrengungen, die naechtliche Kuehle und der Schmutz, in dem er erstarrte, sogar der wilde Bart, der ihm wuchs, befriedigten ihn auf unerklaerliche Weise. Neben dem einzigartigen Feingefuehl fuer Theoreme und Relationen der Mathematik besass Gauss offenkundig auch eine besondere Veranlagung, Leid zu empfinden. Wenn uns gewoehnliche Sterbliche ein Schicksals-schlag getroffen hat, und die Wochen und Monate sind ueber unseren Kummer hinweg gezogen, stumpfen wir gegen ihn ab, und, lange bevor wir zugrundegehen, kommt der Tag und die Stunde, wo wir uns wieder aufrichten und ins gewoehnliche Leben zurueckkehren. Gauss' Trauer hielt unvermindert an. Er wusste jeden Morgen, sobald sein Geist sich aus dem Nachtlager des Vergessens schaelte, der neue Tag wuerde genau wie der vorige sein, und der morgige wie der heutige, Hanna's Tod ihm die Seele zerreissen. Und genau wie an jedem anderen Tag wuerde er sich an alle Einzelheiten ihres gemeinsamen viel zu kurzen Gluecks schmerzvoll erinnern. Wozu also weiterleben? fragte er sich. Was sprach gegen den erloesenden Tod? Vor allem dies: er war nicht der Mann, Hand an sich zu legen. Ja, er war ein Feigling, und die reale Vorstellung davon, wie dies geschehen sollte, vergroesserte nur seinen Schrecken und seine Verunsicherung. Also wandte er schliesslich den Blick wieder nach aussen, versuchte sich auf nichts anderes zu konzentrieren als auf die unmittelbaren Sinneseindruecke und setzte die Wanderung fort. Wenn er abends nicht nach Hause kam, machte sich seine Mutter natuerlich Sorgen, ob ihm etwas zugestossen war, wagte aber nicht, ihn zur Rede zu stellen und schon gar nicht, mit gewissen Vorschlaegen zu kommen, die Bekannte ihr gegenueber manchmal aeusserten. Er sei doch im besten Alter und solle sich endlich nach einer neuen Frau umsehen; das bringe ihn am ehesten auf andere Gedanken. Sie wusste, ein derartiger Vorschlag waere von ihm uebel aufgenommen worden. Es war schwierig genug, sich mit ihm ueber normale, alltaegliche Probleme auseinander zu setzen, ohne dass er ploetzlich schreiend oder weinend aufstand und sich schleunigst davonmachte. Daher achtete sie nur darauf, seine Kleidung und das Haus in Ordnung zu halten. Ohne sie waere Gauss damals komplett verkommen. Im praktischen Leben also stand sie ihm bei; nur von der Verzweiflung, die wie eine autistische Starre sich ueber seinen Geist gelegt hatte, konnte sie ihn nicht befreien. Er wollte auch gar nicht befreit werden. In Bremen hatte er sich verpflichtet gefuehlt, ein halbwegs normales Verhalten gegen seinen Gastgeber an den Tag zu legen, der alle Grillen zu recht auf den Trauerfall schob. In Goettingen verschlechterte sich sein Zustand insofern, als er alle Hemmungen gegenueber der Umgebung fallen liess und ganz seinen Leidensgefuehlen nachgab. Wozu freundlich tun, wenn man verzweifelt ist? Die Anderen lebten in Freude und Wonne, er aber war des Wichtigsten, des Einzigen beraubt, der Liebe seines Lebens. Und dazu hatte er sie noch monatelang vernachlaessigt! So haderte er mit dem Schicksal, voll ohnmaechtiger Wut gegen sich und die Welt, und nur das Wandern vertrieb zuweilen die Depressionen. Einmal kam er an einem hohen Aussichtsturm vorbei und fuehlte eine vage Erinnerung in sich aufsteigen. Unwillkuerlich machte er sich daran, die wackelige Treppe hinaufzusteigen. Oben konnte man wenig sehen, so hoch waren die Baeume gewachsen. Nur in einer Richtung erhaschte man einen Blick in die Weite. Und da erinnerte er sich seiner Plaene, das Land zu vermessen. Jetzt war er frei und unabhaengig, und genug unterwegs, um es in Angriff zu nehmen. Allein, ihm fehlte der Schwung. Es brauchte den ganzen Sommer, bis er sich in die Sternwarte begab und die von Weber liebevoll eingemotteten Helioskope hervorholte. Weber naemlich, aber das ist eine andere Geschichte, die ich nicht mehr erzaehlen kann, der Morgen wuerde uns einholen, hatte die Stadt in der Zwischenzeit verlassen. Er gehoerte zu den 'Goettinger Sieben', die mit der Regierungsmacht in Schwierigkeiten gerieten, als der neue Koenig von Hannover versuchte, die Universitaet staerker an die Kandarre zu nehmen. Ich habe ja schon angedeutet, wie impulsiv Weber war, und da ihm die Wissenschaftsfreiheit so unmittelbar einleuchtete, unterschrieb er ohne Bedenken einen Aufruf gegen Drangsalierung und politische Gaengelei. Wahrscheinlich haette er nicht unterschrieben, wenn ihm die Konsequenzen bewusst gewesen waeren; denn eigentlich war er ein Gemuetsmensch, der viel Wert auf ein bequemes Leben legte ... Jedenfalls wurden er und die anderen sechs, darunter Wilhelm und Jakob Grimm, des Landes verwiesen, und mussten sich anderswo, dahin der Arm des Koenigs nicht reichte, eine neue Stellung suchen. Wenn Gauss noch wissenschaftlich gearbeitet haette, waere die erzwungene Trennung von seinem wichtigsten Mitarbeiter ein herber Verlust gewesen. So aber empfand er es fast als Genugtuung, dass ihm auch dieser Vertraute genommen wurde. Solange er sich noch in Goettingen aufhalten durfte, hatte Weber mehrfach versucht, in die unglueckliche Kreatur, die einmal sein Freund gewesen war, einzudringen, um ihm begreiflich zu machen, dass das Leben weitergehe und man sich auch durch schwere Schicksalsschlaege nicht unterkriegen lassen duerfe. Er hatte sich, wenn Gauss nicht unterwegs war, mitunter stundenlang zu ihm gesetzt, ohne eine andere Reaktion zu erfahren als: "Lass mich zufrieden. Du siehst doch, dass ich den Verlust meiner Frau nicht verschmerzen kann. Ich fuehle mich am wohlsten, wenn man mich allein laesst" und gelegentliches bitteres Gelaechter. Jetzt war er fort, und mit ihm die letzte professionelle Verbindung, die Gauss zur Aussenwelt hatte. Den uebrigen Kollegen begegnete der Schwermuetige launisch und schroff, ruede sogar, er verhielt sich abweisend wie frueher nur gegen aufdringliche Studenten. Natuerlich machte er sich damit keine Freunde. Das oeffentliche Goettingen mied ihn und hatte Muehe zu uebersehen, dass er seinen beruflichen Verpflichtungen kaum noch nachkam. Denn er fand sich nur noch selten zu Vorlesungen ein, die er meist kurzfristig und mit fadenscheinigen Begruendungen absagte. In seinem Buero in der Sternwarte tauchte er nur unregelmaessig auf. Wenn er aber einmal anwesend war, blieb er meist die ganze Nacht, und des Morgens sah man ihn schlafverquollen mit wirrem Haar und Finstermiene durch die Flure schlurfen. Mitgefuehl hin oder her - einen anderen als den beruehmten Gauss haette man seiner Aemter enthoben. - Die Reaktionen der Umwelt beruehrten ihn wenig. Wenn ueberhaupt, so lebte er nur bei seinen einsamen Wanderungen auf, und entwickelte dort, ueber dem Unterholz seiner Trauer, seine geodaetischen Ideen weiter. Dies schlug sich endlich in Briefen an Humboldt und mehrere Koenigshaeuser nieder, worin er um Unterstuetzung bei der Vermessung von Dreiecken im deutschen Mittelgebirge bat. Der Berliner, weitgehend in Unkenntnis des Gauss'schen Zustandes, und ohne die Plaene und Begruendungen im einzelnen zu beurteilen oder auch nur zu studieren, setzte sich massiv fuer den bewunderten Kollegen ein. Ihm gefiel, was er in der Zusammenfassung des Vorhabens las, und die praeziseste Ausmessung des groessten Dreiecks versprach, die man sich in der damaligen Zeit ueberhaupt vorstellen konnte. Als Erfolg dieser Bemuehungen wurden mehrere Soldaten abkommandiert, die an den von Gauss bezeichneten Stellen Stationen errichten und unterhalten sollten. Er teilte sie in zwei Gruppen und gab ihnen auf, Baumaterial sowie die mit Weber konstruierten empfindlichen Instrumente vorsichtig zum Brocken und zur Wasserkuppe zu ueberfuehren. Auf beiden Bergen bestanden ideale Bedingungen, nicht nur wegen ihrer ausgezeichneten Hoehenlage, sondern weil dort bereits Aussichtstuerme existierten, deren Benutzung ihm von den oertlichen Verwaltungen gestattet wurde. Zur Ueberbrueckung der grossen Entfernungen schaffte er sich ein Reitpferd an. Die Instruktion der Soldaten half ihm ein weiteres Stueck ueber Lethargie und Depressionen hinweg. Er befand sich nun hoffentlich in jener Phase der Konsolidierung, die Zach-Olbers in seiner Beileidsadresse beschrieben hatte, und machte sich auf die Suche nach einem dritten markanten Eckpunkt. Wenn das Dreieck einigermassen gleichseitig und der Groesse nach seinen Vorstellungen entsprechen sollte, kam dazu offensichtlich nur das rheinische Bergland in Frage. Gauss verbrachte Wochen in der Wildnis dieser duenn besiedelten Gegend, ohne einen geeigneten Gipfel zu finden, der alle Voraussetzungen erfuellte. Das wichtigste war, keine andere Erhebung durfte die freie Sicht zum Brocken und zur Wasserkuppe versperren. Ausserdem musste das Gelaende zugaenglich sein, damit man schwere Instrumente, Verpflegung und so weiter hinaufschaffen konnte. Die Suche dauerte laenger als einen Monat und griff zuletzt seine Gesundheit an; denn die langen Ritte bergauf und bergab, das haeufige Absitzen und die Fussmaersche bei schlechten Wegverhaeltnissen erschoepften ihn. Nicht selten war er gezwungen, bei Regen im Freien zu uebernachten. Schliesslich entschied er sich fuer das Rothaargebirge, zehn Meilen von der Kreisstadt Siegen entfernt. Auf der hoechsten Spitze, dem Grosskopf, gab es keinerlei Infrastruktur. Die Soldaten wuerden dort Wege anlegen und eigenhaendig einen stabilen Turm errichten muessen. Um nicht allzu viel Zeit zu verlieren, zog er die Maenner bis auf eine kleine Bewachung von Brocken und Wasserkuppe ab, und sammelte sie in Goettingen. Von dort machten sie sich mit mehreren grossen Planwagen auf den Weg, der teils auf breiten Strassen, teils durch dunkle Waelder und vom Verkehr noch ziemlich unberuehrte Gegenden fuehrte. Am Grosskopf dann wurden die hoechsten Baeume gefaellt, um freie Sicht nach Osten und Holz fuer den Turmbau zu haben. Er hatte sich anfangs wenig Vorstellung von den Beschwerlichkeiten und Faehrnissen seines Unternehmens gemacht; doch ich glaube, er waere auch dann bei seinen Plaenen geblieben, wenn er im voraus davon gewusst haette. Denn die Anstrengungen zwangen seinen Geist in die Wirklichkeit und lenkten ihn von der Trauer ab. Was ihn frueher gestoert und woran er sich gerieben haette, tagelang sich nicht waschen, und nur des Nachts und in erschoepftem Zustand Rechnungen zu pruefen und Auswertungen vorzunehmen, war ihm nun hochwillkommen. Alles, was er tat, geschah zwar auf einem Hintergrund von Truebsal und Jammer, und wenn er sich auch manchmal wie ein Bewohner zweier Welten vorkam, der in der einen voller Tatendrang seine Ziele verwirklichen muss, waehrend er in der anderen bis zum Hals im Treibsand seiner Trauer steckt, so war diese Stimmung doch wesentlich der Vorangegangenen vorzuziehen; ihn deuchte, der Muehlstein um seinen Hals sei leichter geworden. Als alle Vorarbeiten erledigt waren, freute er sich sogar auf die eigentlichen Messungen. Wenn die Sonne guenstig stand, wuerde man vom Brocken aus, wo er Hauptquartier beziehen wollte, zwei kleine Lichtpunkte im Sueden und Westen ausmachen koennen. Sorgfaeltig darauf justiert, wuerde das Helioskop sodann den Winkel liefern. Dieselbe Messung musste zeitgleich auf Wasserkuppe und Grosskopf durchgefuehrt werden, und Gauss reiste mehrfach zwischen den Eckpunkten seines Dreiecks hin und her, um den Zustand der Messstationen zu kontrollieren, damit ihm auch ja kein Fehler unterlaufe. - Ich werde jetzt einige Briefe holen, die ich in Buechern aus seinem Nachlass gefunden habe", sagte der Alte. "Gauss hat eine beachtliche Privatbibliothek besessen. Diese Schriften sind uns von seinen Erben vermacht, doch ueber die ganze lange Zeit bis heute beschaemenderweise nicht vollstaendig ausgewertet oder auch nur katalogisiert worden. Vieles hat man einfach in das normale und jedermann zugaengliche Bibliotheksinventar integriert. Wenn man darauf achtet, kann man auf manchem Buchdeckel seinen Namen lesen." Bei diesen Worten erhob er sich von dem bequemen Sitz, den er mir gegenueber eingenommen hatte und schlich davon, mich in dem daemmergrauen Raum allein zuruecklassend. Die Minuten verstrichen. Untaetig sass ich in meinem Stuhl und hoffte, er werde bald wiederkommen. Ganz wohl fuehlte ich mich nicht, so einsam an diesem Ort seltsamer, unerklaerlicher Geschehnisse. Am liebsten haette ich mich irgendwo hinter den Regalen verkrochen. Stattdessen verhielt ich mich leise; ich wollte die Geister des grossen Mannes nicht provozieren. "Bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie habe warten lassen", hoerte ich endlich die ruhige Stimme meines Erzaehlers ihm voraus durch das duestere Kabinett hallen, "aber ich habe die Briefe an einer geheimen Stelle deponiert, damit sie nicht verlorengehen. Sie sind der erste, dem ich sie zeige." Er war jetzt bei mir angelangt und oeffnete einen vergilbten Umschlag. Das Papier war an der Seite mehrfach eingerissen und derart bruechig, dass kleine Fetzchen als grober Staub zu Boden rieselten. "Dieser hier ist von Gauss an Bolyai gerichtet, und muss unter Umstaenden, die mir nicht bekannt sind, zu ihm zurueck gelangt sein." Der Alte hatte mir gegenueber tatsaechlich ein ungewoehnliches Mitteilungsbeduerfnis. Warum er gerade mich fuer besonders vertrauenswuerdig hielt, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht, weil ich Physiker bin. Vielleicht auch fuerchtete er sein Ende kommen und wollte - auf die Gefahr, dass ich seine Unterschlagung bei der Bibliotheksverwaltung anzeigte - die Geheimnisse nicht mit ins Grab nehmen. "Wenn Sie sich erinnern", fuhr er fort, "ich erzaehlte, wie die beiden Studenten in Goettingen feierlich voneinander Abschied nahmen. Dabei hatten sie verabredet, am letzten Freitag jedes Monats zwischen 20 und 21 Uhr sich in ihre Arbeitszimmer zurueckzuziehen und bei Kerzenlicht, Pfeifenrauch und einem Glas Wein des Andern zu gedenken. Die Jahre vergingen, und je laenger ihre Trennung waehrte, um so schwerer war es Gauss gefallen, ueber seinen Forschungen und sozialen und familiaeren Verpflichtungen diesem Versprechen nachzukommen. Eine Weile hatten sie noch gefuehlvolle Briefe ausgetauscht, sich ihrer Freundschaft und Wertschaetzung versichernd, doch dann kam auch dieser Gedanken-austausch fast ganz zum Erliegen. Es war schon viel, wenn sie ein- oder zweimal im Jahr voneinander hoerten. Erst nach Hannas Tod war die Zeit gekommen, die alte Freundschaft zu reaktivieren, als mentale Stuetze gegen die Stuerme des Schicksals, die das laedierte Boot seiner Seele erschuetterten ..." Dann begann er laut aus Gauss' Brief vorzulesen: Lieber Farkas, es ist mehr als ein Jahr vergangen, seit ich dir zum letzten Mal geschrieben und von dem qualvollen Verlust berichtet habe, der mich getroffen hat, und ich moechte dir noch einmal fuer die Zeichen des Mitgefuehls danken, die ich inzwischen von dir erfahren habe. Du bist einer der wenigen, die sich in mich hinein versetzen und sich wirklich vorstellen koennen, welche abgrundtiefe Verzweiflung mir zusetzt. Um nicht vollends vernichtet zu werden, habe ich in den letzten Monaten begonnen, einen alten Jugendtraum zu verwirklichen, ein grosses Dreieck zwischen dem Harz, der Rhoen und dem Sauerland zu vermessen. Der Koenig von Preussen hat mir Mittel und Helfer an die Hand gegeben, um diesen Plan in die Tat umzusetzen. Das Dreieck wird von Lichtstrahlen berandet, die durch spezielle Spiegel zwischen den Spitzen der Berge hin und her reflektiert werden. Die Aufbauten sind so raffiniert, dass wir eine unglaubliche Genauigkeit bei der Bestimmung der Winkel zwischen den Schenkeln erreicht haben. Unser Ziel war nachzupruefen, ob dieses Dreieck in einer Ebene liegt, beziehungsweise, was wohl dasselbe ist, ob die Summe der Winkel, nennen wir sie alpha, beta und gamma, zu 180 Grad herauskommt. Ich arbeite bis zum Umfallen. Morgens stehe ich gegen halb drei auf; denn ich schlafe schlecht und liege gewoehnlich schon ab zwei Uhr wach. Und wenn ich dann an Hanna denken muss, und sich mir alles im Kopf herumdreht, erhebe ich mich lieber gleich von meinem Lager. Tagsueber sitze ich viel zu Pferde, und reite zwischen den Ausruestungslagern und Messpunkten hin und her. Ueberall habe ich treue Techniker und Soldaten platziert, und ihnen genau aufgegeben, was sie zu tun haben. Fuer meine Reisen brauche ich meist mehrere Tage, ich uebernachte in verwahrlosten Absteigen oder in Scheunen, die gerade am Wegesrand liegen. Die Anstrengung des Reisens betaeubt mich, und befreit mich auch in gewisser Weise von meinem Schmerz. Da ich alle Unterlagen immer bei trage, kann ich abends die Auswertungen vorantreiben. Ich komme immer wieder zu demselben sonderbaren Ergebnis. Die Winkelsumme weicht naemlich von 180 Grad ab, und zwar um einen Betrag, der sehr klein, aber messbar ist, in etwa um den 10 hoch 10ten Bruchteil des Vollkreises. Ich selbst habe frueher bewiesen, wie sich nur bei einem gekruemmten Dreieck ein Defekt von jener Regel ergeben kann, und gezeigt, dass sich dieser Defekt als Integral des Kruemmungsskalars, den Dirichlet mittlerweile die Gauss'sche Kruemmung nennt, ueber die Dreiecksflaeche berechnen laesst. Wenn man dieses Integral auf einem sphaerischen Dreieck ausfuehrt, so ergibt sich als Winkeldefekt (alpha+beta+gamma-pi) die Dreiecksflaeche/r**2, wo r der Radius der Sphaere ist. Man sieht ganz deutlich: wenn r gegen unendlich strebt, also die Sphaere zur Ebene entartet, wird der Winkeldefekt 0. In meinen Augen kann man aus alldem nur einen Schluss ziehen: die Lichtstrahlen muessen auf gekruemmten Bahnen laufen. Wie gross die Kruemmung ist, kann ich aus meinen Messungen ablesen: ich habe, wie gesagt, den Winkeldefekt ungefaehr gleich 10 hoch -10, und die Dreiecksflaeche ist etwa 10000 Quadratkilometer, also r ganz grob gleich 10 hoch 7 Kilometer, beinahe so gross wie der Abstand zwischen Sonne und Erde. Ob unser Tagesgestirn etwas damit zu tun hat? Nein, ich kann es mir nicht denken. Dieser Radius ist ja nur eine kuenstliche Konstruktion, die Auskunft ueber die Groesse des sonderbaren Effektes gibt. Ich hoere schon deinen Einwand, dass die Ablenkung von Lichtstrahlen bekanntlich auch durch die Gase der Erdathmosphare verursacht wird, die das Licht der Abendsonne brechen und in seiner Bahn beeinflussen, so dass man den roten Feuerball selbst dann noch sieht, wenn er eigentlich schon hinter dem Horizont verschwunden ist. Aber bitte glaube mir, ich habe diesen Effekt berechnet und bei meinen Auswertungen gebuehrend beruecksichtigt! Im Prinzip ist auch denkbar, dass lokale Luftdruckschwankungen und Temperaturunterschiede die Resultate verfaelschen. Ich habe aber meine Messungen unter verschiedensten Bedingungen wiederholt, um auf diese Weise derartiges heraus zu mitteln; und jedesmal erhalte ich das gleiche frappierende Ergebnis. Ich moechte jetzt einige Ideen vorbringen, wie man es deuten koennte. Da der gemessene Winkeldefekt positiv ist, muss auch der daraus sich ergebende Kruemmungsskalar positiv sein. Daher kann man in erster Naeherung zurecht annehmen, dass mein Lichtstrahlendreieck auf einer riesigen Sphaere liegt. (Waere er negativ, so muesste man stattdessen mit Sattelflaechen arbeiten. Denn die Gauss'sche Kruemmung kann nur auf einer Sattelflaeche kleiner als 0 sein.) Die Lichtstrahlen bewegen sich also wie auf einer riesengrossen Seifenblase, die 10 Millionen mal groesser als unsere Erdkugel ist. Was aber kann ihre Kruemmung verursachen? Nach meiner Ueberzeugung reicht nur das Gravitationsfeld der Erde weit genug, in dieser Form zu wirken. Andererseits ist bis heute keine Wechselwirkung des Lichtes mit der Newtonschen Kraft bekannt. Das Helle, welches in unsere Augen faellt, ist eine rein elektromagnetische Erscheinung, und die einzige Folgerung, die ich daraus ziehen kann, lautet: nicht die Lichtstrahlen werden beeinflusst, sondern der Raum selbst ist gekruemmt (aber vielleicht ist dies dasselbe, denn wir nehmen den Raum durch den Schein des Lichtes wahr, das sich in ihm bewegt), und seine Kruemmung muss durch die Staerke der Gravitation bestimmt sein. Kurz gesagt, das Kraftfeld der Erde, das jeden massiven Koerper zu Boden zwingt, lenkt auch die Lichtsignale ab. Ein utopischer Gedanke, gewiss, den wohl noch niemand ausgesprochen hat. Wie kann das leichte, fluechtige Element des Lichtes durch jene Kraft beeinflusst werden, die sonst nur auf grosse, traege Massen wirkt. Es waere interessant herauszufinden, ob sich an meinen Ergebnissen etwas aendert, wenn man die Signale modifiziert. Man koennte zum Beispiel an der Polarisation des Lichtes drehen, indem man entsprechende Spiegel verwendet, oder seine Geschwindigkeit variieren, indem man die Spiegel auf einer schnell beweglichen Plattform anbringt. Ich werde mit meinen Leuten besprechen, ob sich so etwas realisieren laesst. Nach meiner Meinung erstreckt sich die Kruemmung nicht nur auf Lichtstrahlen und Dreiecke, sondern auf den gesamten dreidimensionalen Anschauungsraum. Ich habe vor, meine Theorie der gekruemmten Flaechen auf dreidimensionale gekruemmte Raeume zu verallgemeinern, damit uns auch dort ein quantitativ fassbarer Kruemmungsbegriff zur Verfuegung steht. Dieser wird wieder eine zweite Ableitung sein, also eine Art Beschleunigung, die das Licht von seiner geraden Bahn ablenkt, und hoechstwahrscheinlich laesst sich diese Beschleunigung vermittels eines neuen Naturgesetzes der Form 'Kruemmung ist gleich Gravitationskraft' berechnen. Ich habe mich seit Hanna's Tod fast ganz von der Universitaet zurueckgezogen und dort nur noch die noetigsten Pflichten erfuellt, dabei trotz allerhand schlechten Gewissens meinen Lohn weiter eingestrichen. Die privaten Verbindungen zu den uebrigen Professoren sind mehr oder minder erkaltet, wie ich ueberhaupt die meisten Kontakte eingestellt habe, ausser zu den hilfreichen Haenden in meiner Vermessungstruppe. Harding versucht, aus diesen Umstaenden und auch aus den phantastischen Befunden, die ich muendlich zu verbreiten mich nicht zurueckhalten konnte - sie haben dann schnell die Runde gemacht und sind von den meisten mit Unglauben zur Kenntnis genommen worden - Kapital zu schlagen, wenn auch mit maessigem Erfolg; zu gross ist noch immer mein Ansehen in der Fakultaet. Aber es ist doch aergerlich zu spueren, wie jedermann, der eine offen, der andere nur in Gedanken, meine Messungen und die erreichte Genauigkeit anzweifelt. Ich erlebe zum ersten Mal, dass mir bei einem Forschungsergebnis von allen Seiten Skepsis entgegen schlaegt, und dies ist eigentlich kein angenehmes Gefuehl, kann ich dir sagen. Jedenfalls laesst er keine Gelegenheit aus, meinem Ansehen zu schaden. Wenn ich bedenke, dass wir ihn einmal fuer unseren besten Lehrer hielten! Lehre und Forschung machen eben noch keinen besseren Menschen, eher im Gegenteil; sie sind Naehrboeden der Zwietracht und schluepfrige Spiegel der Selbstsucht. Es ist wahr, frueher haette ich nicht so geredet. Inzwischen denke ich oft, du, mein Freund, hast gut daran getan, dich von den Haendeln der sogenannten freien Wissenschaft fernzuhalten und im Kreis deiner Familie ein beschauliches und sorgenfreies Leben zu geniessen. Ich wuenschte, das waere mir auch vergoennt gewesen. dein Freund Gauss Und hier nun" deutete der Alte, ohne mein wachsendes Staunen zu beachten - denn dies war wirklich eine spektakulaere Enthuellung, eine Sensation, von solchen Entdeckungen hatte ich nie etwas gehoert - auf einen zweiten Brief, von anderem Format und mit einer ganz anderen Schrift verfasst "ist die Antwort von Bolyai: Lieber Freund, vielen Dank fuer deine erstaunlichen Mitteilungen. Was du schreibst, klingt abenteuerlich, doch keineswegs unglaubwuerdig, und da ich deine sorgfaeltige Arbeitsweise kenne, und mich ausserdem als dein bester Kamerad fuehle, habe ich dreifachen Grund, dir zu glauben. Lasse dich von den Philistern nicht irre machen. Ich fand schon immer, dass du zuviel Wert auf die Meinung der Mehrheit gelegt hast, und viel mutiger haettest sein sollen, auch unwahrscheinliche oder nur unvollstaendig bewiesene Ideen zu publizieren. Gewiss, es hat deiner Karriere gut getan, dass du solche Ruecksichten genommen hast, in der Rueckblende aber wirst du vielleicht auch meiner Einstellung etwas abgewinnen koennen, dass sich unsere Nachkommen um die Konventionen und Vorurteile der heutigen Zeit keinen Deut scheren werden und du Ihnen daher deine Kostbarkeiten nicht vorenthalten solltest. Aus diesem Grunde ermuntere ich dich, deine Ergebnisse auf keinen Fall fuer dich zu behalten. Ich fordere dich auf, sie schnellstmoeglich unter die Leute zu bringen; selbst wenn dich die Woelfe zerreissen ... Ach was, so weit wird es schon nicht kommen! Wie froh bin ich, dass dein alter reger Geist sich zurueck gemeldet hat. Leider kann ich nicht allen Details und den theoretischen Schluessen folgen, die du gezogen hast, da ich mich von der aktuellen Forschung zu weit entfernt habe. Ich kann dir nur als Philosoph antworten und moechte im Geiste Platons ein imaginaeres Gespraech mit dir fuehren. Stelle dir vor, du wuerdest mir auf einem deiner einsamen Ritte durchs Gebirge zufaellig begegnen. Wir wuerden uns wiedererkennen und uns freudig in die Arme sinken. Gemeinsam wuerden wir einen Abhang hinauf reiten, um die Aussicht zu geniessen. Dann wuerden wir droben am Waldesrand stehen und ein weites Tal ueberblicken. Ich wuerde auf deinen Brief zu sprechen kommen und erklaeren: "Mir scheinen deine Ideen so fremd, so gewaltig, dass sie mir niemals von selber gekommen waeren. Licht, das sich auf gekruemmten Bahnen bewegt! Das hiesse, der Gipfel dort weit hinten in der Ferne liegt gar nicht geradeaus vor uns. Ich bin wahrlich kein phantasieloser Mensch, doch dieser Einfall liegt jenseits meiner Vorstellungskraft. Meine Phantasien gehen in eine ganz andere Richtung ..." "Vielleicht hast du recht", wuerdest du nachdenklich erwidern, die Augen auf denselben Punkt gerichtet, und ich stelle mir vor, dass du dich dabei ein wenig entspannen wuerdest, in dem Bewusstsein, den zweitliebsten Menschen an deiner Seite zu haben. "Was Kruemmung ist, definiert eigentlich der Beobachter, und wenn man den Punkt dort hinten subjektiv als gerade vor sich liegend ansieht, ist die Bewegung des Lichtes gerade. Das und nichts anderes steckt hinter meiner Auffassung, dass nicht der Lichtstrahl, sondern der Raum selbst gekruemmt ist. Man kann es auch anders formulieren: wer, wenn nicht der Lichtstrahl, legt fest, was die gerade und kuerzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist? Und doch", wuerdest du hinzufuegen, "scheint es eine Art objektiven Standard zu geben. Wie koennte man sonst Abweichungen der Winkelsumme von 180 Grad feststellen? Und ich glaube, der Schluessel dazu ist die Gravitationskraft. Nur laesst sich das Ganze nicht im Rahmen der Newtonschen Theorie erklaeren. Eine Erweiterung muss her, die eine Kruemmung vorhersagt, sobald man eine Masse in den Raum stellt", und dabei wuerdest du die Stirn in vertikale Falten ziehen und die Augen zusammenkneifen, wie du es frueher immer getan hast, wenn wir auf eine scheinbare Paradoxie stiessen. Ich wuerde dich aber nicht deinen Theorien ueberlassen, sondern, um dich zu provozieren und den Unterschied in unserem Denken zu betonen, verkuenden: "Mir ist es gleich, ob das Licht auf einer gekruemmten Bahn daher kommt. Ich interessiere mich letztlich auch nicht fuer einzelne Punkte dort hinten, sondern fuer das gesamte Ensemble von Objekten, das die Welt mir darbietet. Die Philosophen lehren, dass es ueber den einzelnen Dingen ein Mehr gibt, eine universelle Verbindung ... Ich stimme mit ihnen ueberein, und das ist der tiefere Grund, warum der Gedanke von gekruemmten Lichtstrahlen mir so fremd ist. Er loest, wie manch andere physikalische Idee, das Ganze in unnatuerlich kleine Teile auf und wird der Wirklichkeit unserer Welt nicht gerecht." Damit waeren die Differenzen deutlich benannt, und nachgiebig wuerde ich hinzufuegen: "Dem Geometer mag das reichen. Dreh- und Angelpunkt seines Daseins ist nicht die berauschende Fuelle und Schoenheit der Natur, sondern die einzelne Messzahl, die er in seine Tabellen eintraegt. Er ist um so zufriedener, je genauer diese Zahl ist, und selbst die funkelnden Strahlen der Sonne dienen ihm nur als Vehikel, sein Ziel zu erreichen." Schliesslich wuerden wir unsere Pferde losbinden und gemeinsam weiter reiten, durch dein Vaterland, das ich fast genauso liebe wie du, mit seinen dichten Waeldern und fruchtbaren Taelern. Hoch oben ueber Fulda und Weser wuerden uns mittelalterliche Burgen von weitem gruessen, und auf sonnigen Marktplaetzen in verschlafenen Staedtchen machten wir Rast, bevor wir aus den Stadtoren wieder hinausritten, durch schattige Alleen zurueck in die Waelder ... Und endlich, endlich wuerdest Du wieder tief und frei atmen, wie seit Jahren nicht mehr, und wenn wir schliesslich bei deiner Messstation ankaemen, waerest Du ledig deiner ganzen finsteren Trauer. - Oh bitte, vergib mir, ich weiss, wie sehr du sie geliebt hast. Doch lass dir wenigstens raten, bei den Dichtern den Trost zu suchen, den du in der Wissenschaft nicht findest. Dein Farkas - Lieber Farkas, vielen Dank fuer die mehreren Briefe, die du mir zum Trost in immer kuerzeren Abstaenden sendest. Besonders dein letzter hat mir sehr gefallen! Der Wunsch, dich wiederzusehen, ist uebermaechtig in mir entflammt, und ich habe mir fest vorgenommen, dich naechstes Jahr in Ungarn zu besuchen. Es ist jetzt schon so lange her, dass wir uns das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht gegenueberstanden! Da lag das hoechste Glueck meines Lebens noch vor mir (ohne dass ich freilich etwas davon ahnte), heute liegt es hinter mir, und wenn ich an dich denke, kommt mir unsere jugendliche Unbeschwertheit (und ueberhaupt meine ganze Jugend) wie die Wirklichkeit von einem anderen Stern vor. In jenen Tagen sprudelten wir vor Ideen ueber. Viele davon liessen wir leichten Herzens aus der Hand gleiten und von anderen ueberwuchern. Heute fliessen sie spaerlicher, trocken sind die Aecker der Phantasie und ohne Frucht, und das wenige, was wir ernten, drehen wir liebevoll hin- und her, wir bearbeiten es sorgfaeltig und zoegern lange, bevor wir es zur Schau stellen. So ist es auch mit den seltsamen Messergebnissen und Interpretationen, von denen ich dir letzthin berichtet habe. Ich danke dir fuer die moralische Unterstuetzung, die du mir in deinen Briefen gewaehrst, und fuer die Ermunterung, meine Resultate unbedingt zu publizieren. Wie du ganz richtig feststellst: Ich habe immer gezoegert, unwahrscheinliche Ergebnisse zu veroeffentlichen. Denke nur an unsere Diskussionen ueber das Parallelenaxiom. Wir sind und waren ueberzeugt, dass nichteuklidische ('hyperbolische') Ebenen existieren, d.h. Ebenen, in denen es zu jeder Gerade und jedem Punkt mehrere Geraden durch den Punkt gibt, die parallel zur Ausgangsgeraden verlaufen. Doch solange niemand ein explizites Beispiel dafuer konstruiert hatte, wollte ich keine abstrakten Saetze darueber veroeffentlichen. Die allerneueste Entwicklung ist, ich habe etwas gemessen, was unsere vormaligen Diskussionen beruehrt. Ich hatte mir naemlich ueberlegt, dass es nicht schaden koennte, wenn man sich die Strahlen des Sonnenlichtes, die meinen Winkelmessungen als Basis dienen, einmal genauer vornimmt. Ich habe sie mit einem Prisma zerlegt und alle moeglichen Analysen durchgefuehrt, und schliesslich ist mir der Gedanke gekommen, die Spiegel, die das Licht reflektieren, auf einer beweglichen Schiene zu montieren und schnell hin und her zu bewegen. Auf den anderen Stationen habe ich rotierende Zahnraeder installiert, mit denen sich die Geschwindigkeit c der ankommenden Lichtimpulse bestimmen laesst. Nach meinen Messungen, die viel praeziser sind als alles, was du in der Literatur finden wirst, ist c=299792555 Meter pro Sekunde mit einer geschaetzten Unsicherheit von 120 Metern pro Sekunde. Und nun hoere: Ich habe festgestellt, dass c voellig unabhaengig von der Geschwindigkeit ist, mit der die Spiegel bewegt werden (sic!). Das Ergebnis steht im Widerspruch zu allem, was man landlaeufig von realen bewegten Objekten erwartet, naemlich dass sich ihre Geschwindigkeiten addieren. Denke dir ein Ross, welches mit einem Tempo von 10 Kilometern pro Stunde auf einem Feld galoppiert, darauf ein Falkner mitsamt seinem Falken. Wenn der Falke nun in Vorwaertsrichtung mit einer Schnelligkeit von ebenfalls 10 Kilometern pro Stunde relativ zum Ross losfliegt, so erwartet man, dass er eine Geschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde relativ zur Erde hat. So aehnlich sollte es sich auch mit dem Licht verhalten, die Geschwindigkeit der Lichtquelle sollte sich zu c addieren. Das Gegenteil ist der Fall! Der Wert von c bleibt derselbe, von wie immer schnell bewegten Fahrgestellen das Licht auch abgestrahlt wird. Dieses Ergebnis ist mehr als erstaunlich. Nun wird mir erst recht niemand mehr glauben! Seit Wochen drehe und wende ich meine Zahlen und pruefe ihre Genauigkeit, um immer wieder zu derselben abstrusen Schlussfolgerung zu kommen. Ich hatte reichlich Musse, ueber die Folgerungen nachzudenken, und bin schliesslich zu folgender Einsicht gelangt: um die Bewegung des Lichtes zu beschreiben, ist unser dreidimensionaler Anschauungsraum kein gutes Konzept. Vielmehr sollte man eine vierdimensionale Struktur waehlen, die sich aus den drei Raumdimensionen x,y,z und der Zeitkoordinate t zusammensetzt. In diesem Raum naemlich befindet sich Licht, das vom Punkte Null in alle Richtungen ausgesendet wird, meinen Messungen zufolge immerfort auf hyperbolischen Kugelflaechen der Form (ct)**2-x**2-y**2-z**2=const. Und nun hoere: die Ebenen x=y=0 in dem kuenstlich konstruierten Raum mit den vier Achsen x, y, z und t verletzen das Parallelenaxiom! Es gibt zu einer Gerade und einem Punkt mehr als eine Parallele, die durch den Punkt geht - vorausgesetzt man definiert den Abstand d eines Punktes (x,y,z,t) vom Nullpunkt des Koordinatensystems nach der Formel d**2=(ct)**2-x**2-y**2-z**2. Ich habe schon immer vermutet, dass eine Ebene mit hyperbolischen Eigenschaften noetig ist, um das 5. Axiom des Euklid zu verletzen, bisher jedoch kein geeignetes Beispiel gefunden. Dabei muss in der Definition des Abstandes nur ein negatives Vorzeichen eingefuehrt werden, um das Gewuenschte zu erreichen. Als Mathematiker gefaellt mir diese Interpretation natuerlich. Man muss aber vorsichtig sein, nicht von dem eigentlichen Befund abzulenken, dass naemlich das Licht und der Raum sich physikalisch ganz anders verhalten als der gesunde Menschenverstand antizipiert. Den tieferen Grund dafuer werden kuenftige Generationen aufspueren; die beschraenkten Mittel meines Geistes und der gegenwaertigen Technik reichen dazu nicht hin. Ich bin mir noch immer nicht schluessig, ob ich diese Resultate veroeffentlichen soll. Einerseits fuerchte ich, dass man mir keinen Glauben schenken und sie fuer die Ausgeburt einer ueberreizten depressiven Phantasie halten wird. Schon jetzt spuere ich allenthalben Skepsis und Widerstand um mich herum. Andererseits bin ich laengst so weit, dass mir die Meinung der Anderen gleichgueltig ist. Hauptsache, ich kann meine Arbeit fortsetzen. Es gruesst dich dein Gauss" Der Alte verstummte. Er faltete die Briefe behutsam zusammen und verstaute sie in seiner Wolljoppe. Dann setzte er seine Erzaehlung fort. "In den folgenden Monaten trieb Gauss seine Messungen in den Bergen voran. Mehrfach nahm er die langen beschwerlichen Reisen zwischen den Messstationen auf sich, und kampierte tagelang in den Zelten und Huetten, die nahe bei den Aussichtsplattformen errichtet waren - er tat alles, um eine weitere Verbesserung seiner Zahlenkolonnen zu erreichen. Sein Ziel war, die Genauigkeit soweit zu steigern, dass auch der letzte Zweifel an seinen Hypothesen ausgeraeumt werden konnte. Diese Anstrengungen standen eigentlich im Widerspruch zu der in dem Brief geaeusserten Behauptung, das Urteil seiner Zeitgenossen interessiere ihn nicht mehr; und vielleicht waren seine tieferen Motive tatsaechlich von ganz anderer Natur. Er machte sich jedenfalls kaum noch Gedanken darueber, wie und wann er der Oeffentlichkeit die Ergebnisse praesentieren wuerde; er arbeitete einfach wie ein Besessener, und erkannte in seltenen Momenten der Besinnung, dass er in Wahrheit - trotz aller Betriebsamkeit - um kein Deut gluecklicher geworden war. Gewiss, als Forscher hatte er Grosses zustande gebracht, und sein Verstand funktionierte besser als jede Rechenmaschine, doch zuunterst hielt tumbe Verzweiflung weiterhin seine Seele gefangen. Und wieder entdeckte er, wie sehr er die Lebenden hasste, und ihr vermeintliches Glueck. In solchen Augenblicken waere es ihm am liebsten gewesen, wenn die ganze Welt mit einem Schlag zermalmt wuerde, und jedes Zeugnis der eigenen und aller menschlichen Existenz vernichtet. So trieb es ihn durch die Lande. Auch frostige Temperaturen hielten den Mann nicht von seinen Expeditionen ab. Es war im Januar des Jahres 1817, und Gauss auf dem Weg zur Wasserkuppe. Nach einem eiskalten Dezember hatten heftige Sturmtiefs begonnen, ueber Hessen hinweg zu rollen, dazwischen Tage der Ruhe, an denen linde Vorfruehlingslueftchen um Hausecken spielten. Mild war es auch heute gewesen. Sogar die Sonne hatte sich zwischen den Wolken gezeigt. Doch mit der Daemmerung frischte der Wind auf und immer dunkleres Wetter zog ueber den Himmel. Eben war er in einen dichten Wald eingebogen. Er kam dort nur langsam voran und verirrte sich bald im Unterholz. Hohe Fichtenkronen verdeckten die freie Sicht nach oben und den Sturm hoerte man nur wie in weiter Ferne toben. Beruhigend taetschelte er den Hals seiner Stute und duckte den Kopf in den Pferdenacken, damit niedrig haengende Aeste ihm nicht das Gesicht zerkratzten. Das Tier wieherte unsicher, es konnte kaum erkennen, wohin es trat. Eine Zeitlang war nur das Knacken von Aesten zu hoeren, waehrend sie sich vorsichtig fortbewegten, und das Gurren von Tauben, oder der Ruf eines Uhus, der aus dem Schlaf erwachte. Einmal, als sie ein groesseres Tier aufscheuchten, schnaubte der Schimmel unwillig und schuettelte die Maehne. Jetzt tropfte Regen aus allen Aesten und Wipfeln, und endlich spuerte er einen Luftzug. Bald wuerden sie das Dickicht hinter sich haben. Irgendwo vorn musste die Fulda fliessen, vielleicht schon am Fusse dieses Gefaelles, vielleicht aber erst durch das naechste Tal. Er kannte sich zu wenig aus in der Gegend. Das einzige Gasthaus war noch meilenweit entfernt, jenseits des Flusses. Endlich hatten sie die Senke erreicht, der Wald lichtete sich, und ja, glueckauf, im dunklen Daemmer der Niederung stroemte gurgelndes Wasser. Normalerweise war die Fulda in dieser Gegend nicht breiter als zehn oder zwoelf Pferdelaengen, durch die Regenfaelle der vergangenen Tage jedoch zu einem reissenden Strom angewachsen. Wenigstens bestand hier im Gras keine Gefahr, dass das Pferd sich die Laeufe brach. Dafuer bekam man den Sturm zu spueren. Was Sturm? Ein Orkan hatte die Leinen losgemacht, und mit ihm klatschten Regen und Hagelkoerner in immer neuen Schueben vom Himmel. Tatsaechlich war es das schwerste Unwetter, von dem das hessische Bergland jemals heimgesucht worden ist, darin waren sich Einheimische noch lange rueckblickend einig. Waehrend des ganzen Weges durch den Wald hatte sich Gauss auf nichts anderes konzentriert als auf den naechsten Schritt seines Pferdes. Nur einmal streifte ihn die Erinnerung an Hanna's Antglitz, irgendein kleinster Eindruck der Sinne stimulierte sein Gedaechtnis, und da wusste er gleich, was ihn unten erwartete. Nun naemlich, am dunklen Wasser, worin finstere Wolken sich spiegelten, ueberfiel ihn ein wuchtiger Schmerz, wie wenn Loewen ein krankes Tier anfallen. Er brachte sein Pferd zum Stehen. Er sass ab und stierte zum Fluss herunter, und dann bruellte er in den Sturm. Traenen rollten ihm ueber die Wangen, vermischten sich mit dem Regen. Manchmal, an sozusagen guten Tagen, gelang es ihm ja, durch die Erinnerung an die schoenen gemeinsamen Jahre, sich aus dem Morast der Depression zu befreien. Doch dann wieder, wie jetzt in diesem schwaerzesten Unwetter, spuerte er zum hundertsten Mal, er wuerde den Tod seiner Frau niemals verwinden. Bluten wuerde die Wunde und nicht eher nachgeben, bis er neben ihr im Grabe lag. Er blickte zum Himmel. Dicht an dicht zogen quellende Gewitterwolken vorueber, muskelbepackte Kolosse mit riesigen Eimern, die sie ueber dem Landstrich entleerten. Da ertoente von Westen, wo der Lauf des Flusses tosend im Dunkel verschwand, ein sonderbarer Klang, ein bedrohliches Pfeifen, wie aus tausend Lungen und wie Gauss es im Leben noch nicht gehoert hatte. Es war der Orkan, der jetzt seinen Gipfel erreichte. Einem Zyklon auf offener See gleich fuhr er durchs enge Tal, die Pappeln am Ufer verbeugten sich tief, widerwillige Sklaven, zum Gehorsam gezwungen. Gauss zog den Kopf ein und drehte sich zum Wald, um dort Schutz zu suchen. Zu spaet! Die Wut der Elemente holte ihn ein. Der Tornado schlug ihm mit solcher Kraft entgegen, dass er Muehe hatte, seinen Standpunkt zu verteidigen und nicht in den Fluss gestossen zu werden. Nahebei hatte ein Bauer Bretter aufgeschichtet, die hier oder anderswo zum Bauen verwendet werden sollten. Gauss hatte die schweren Hoelzer in der Dunkelheit gar nicht bemerkt. Jetzt ploetzlich erhoben sie sich zum Leben. Wie von Geisterhand gefuehrte riesige Marionetten tanzten sie eilig auf ihn zu und gewannen dabei noch an Geschwindigkeit und Energie. Er sah die Schemen auf sich zurasen und dachte nur noch: "So sind sie also, die letzten Sekunden des Lebens". Da waren sie bei ihm. Wie ferngesteuert pruegelten sie auf ihn ein, draengten ihn nach hinten zum Ufer, und eines traf ihn am Kopf, so dass Funken vor seinen Augen spruehten und ihm ein taghelles Bild von Hanna erschienen sein muss, im selben Moment, da er das Bewusstsein verlor, denn verzweifelt rief er noch ihren Namen. Dann taumelte er ruecklings in die Fluten, die hungrig ueber dem Ohnmaechtigen zusammen schlugen. Das also war das Ende des grossen Mathematikers", schloss mein Erzaehler seinen Bericht. "Zugegeben, die letzten Tage und Wochen lassen sich nur schwer rekonstruieren. Fuer vieles habe ich nur vage Anhaltspunkte, und manches ist bloss zusammengereimt und mag sich auch anders zugetragen haben. - So viel ist sicher: Gauss ward nie wieder gesehen, und auch seine Leiche hat man nie gefunden, derweise ihm ein ordentliches Grab nicht gerichtet werden konnte. Sie ist nirgendwo angetrieben worden und muss wohl ueber die Weser, in die die Fulda muendet, ins offene Meer gelangt und dort fuer immer versunken sein. Bei allen Schwierigkeiten, die er seinen Mitmenschen zuletzt gemacht hat, haben sie ihm doch ein ehrendes Andenken bewahrt, da er viele Zweige der Mathematik erst eigentlich begruendet und sein Jahrhundert damit um ein betraechtliches Mass an Aufklaerung bereichert hat. Fuer die Nachwelt bleibt er als der grosse Wissenschaftler in Erinnerung, der er war. Seine letzten Forschungen aber, die der Gravitation eine komplexere Struktur beigeben als die Newtonschen Fallgesetze implizieren, hat man einfach ausgeklammert und als Selbsttaeuschung und Seemannsgarn abgetan. In den 60 Jahren, die seit seinem gewaltsamen Tod vergangen sind, ist auf dem Gebiet der Gravitationsphysik nicht viel geschehen. Heutige Wissenschaftler wuerden seinen Behauptungen genauso skeptisch begegnen wie die damaligen Kollegen. Doch die Zeiten aendern sich, und kuenftige Generationen und genauere Instrumente als das Helioskop werden entscheiden, ob seine Theorien richtig sind. Von ihm ist ja alles verlorengegangen. Keines der Messprotokolle ist je wieder aufgetaucht. Man weiss bis heute nicht, wer sie an sich genommen hat. Auch Weber, der Jahre spaeter nach Goettingen zurueckkehren durfte, konnte nichts zur Aufklaerung beitragen. Die wichtigsten Instrumente sind unter mysterioesen Umstaenden aus den Messtuermen gestohlen worden. Nur belangloses Werkzeug sowie der Telegraph sind uebrig geblieben."