Das Verbrechen, das man mir nachsagt Wenn ich heute, da mir verschiedene Wege versperrt sind - fast alle, sollte ich sagen - auf mein bisheriges, mehr als bescheidenes Leben zurueck blicke, so scheint mir, als haette ich von Anfang an, mit den ersten Entscheidungen, die ich getroffen habe oder die fuer mich getroffen wurden (angefangen bei den Eltern, die man sich ja leider nicht aussuchen kann, und bei den Geschwistern, die auch nicht das wahre gewesen sind, ueber die Freunde, die ich mir zwar aussuchen konnte, die aber doch meist die in sie gesetzten Erwartungen enttaeuscht haben (und der eine hat mich sogar richtig reingeritten), bis zu den Arbeitsstellen, die ich mal hier mal da, je nach Gelegenheit ergriffen habe), mich auf einer schmalen, abschuessigen Einbahnstrasse befunden, die mich unaufhaltsam in eben diese schwierige Lage gebracht hat, in welcher es weder ein vor noch ein zurueck gibt, die also, mit anderen Worten, nicht nur eine Einbahnstrasse, sondern eine Sackgasse gewesen ist; dead-end-street, wie die Englaender sagen. Wohingegen andere, gluecklichere Zeitgenossen in jeder Phase ihrer Existenz, selbst wenn sie sich einmal voellig vergallopiert haben und gar in die falsche Richtung geritten sind und sie, weil schon die Dunkelheit herein bricht, so dass sie nichts mehr sehen koennen, eigentlich auf verlorenem Posten stehen, also in jeder nur denkbaren Notlage umstandslos vom Schicksal bei der Hand genommen und, ruckzuck, auf einen hellen Seitenpfad entfuehrt werden, der sich ueberraschend neben ihnen auftut, zurueck in den Sonnenschein. Ich moechte jedoch keinesfalls den Eindruck erwecken, ich wuerde ihnen ihr Glueck missgoennen. Das Gegenteil ist der Fall! Ich haette nur selbst gern etwas davon ab. Das wuensche ich mir schon seit Jahren und habe es mir, wie ich betonen moechte, bereits lange vor den fatalen Ereignissen des letzten Sommers gewuenscht. Stattdessen bin ich immer staerker in die Bedrouille geraten und bin nun sozusagen am Tiefpunkt angelangt - wobei ich nicht, wie manche Leute, die, wenn sie von Tiefpunkten reden, gleich darauf optimistsch verkuenden, nun koenne es nurmehr bergauf gehen, sondern fuer mich ist, wie auch der Staatsanwalt festgestellt hat, Tiefpunkt gleich Endpunkt. Lass ihn reden, habe ich anfangs gedacht, und dass ein Staatsanwalt, von seiner Funktion her, zu Uebertreibungen neigt. Habe mich an meinem Verteidiger orientiert, der mich mit seiner optimistischen Grundhaltung und seiner Unschuldsvermutung angesteckt hat, so dass ich die an sich trostlose Untersuchungshaft bis dato frohen Mutes vertragen habe. Sind mir doch auf meinem schweren Schicksalsweg ganz andere Aussenstaende begegnet. In meiner Zelle, die nach hinten hinaus geht und zwei, wiewohl gesicherte, wiewohl in ziemlicher Hoehe befindliche Fenster hat (so dass ich mich auf den Stuhl und auf meine Zehenspitzen stellen muss, um mehr als nur den Himmel zu sehen), in der ein weiches trockenes Bett steht und eine Art Schreibtisch (wahrscheinlich, weil sie hoffen, aus dem, was ich schreibe, etwas ueber die Vorgaenge zu erfahren, die mich hierher gefuehrt haben (eine schoene, wenn auch nicht ganz zutreffende Formulierung)), fuehle ich mich im ganzen recht wohl. Meine Zelle ist eine vielfaeltig gesicherte Trutzburg, aus der mich selbst die Vernehmungsbeamten, zwei sich aehnelnde schnurrbebarrtete Kriminalkommissare mittleren Alters mit dichtem kurzem Haar, die in den Pausen ueber Fussball und, seltener, ueber ihre Familien sich austauschen, nur tagsueber und unter strikter Einhaltung der Haftanstaltsformalitaeten heraus holen lassen duerfen, fuer die ich den Vaetern des Grundgesetzes sowie dem Innenminister, der sich diesbezueglich den Hardlinern in seiner Partei tapfer entgegenstellt, dankbar bin, geschweige denn die sensationsluesterne Oeffentlichkeit. Die Oeffentlichkeit kommt mir nicht in die Zelle. Ich gebe, auf Anraten meines Anwalts, der in solchen Dingen sich gut auskennt, keine Interviews und verkaufe meine deprimierende Lebensgeschichte nicht. Auch mein Anwalt haelt sich mit Interviews zurueck. Obwohl er nur mein Pflichtverteidiger ist, nimmt er seine Aufgabe sehr ernst; nicht nur, weil er, der im Gegensatz zu den Vernehmungsbeamten sein schuetteres Haar lang traegt und von heiterem, jeden Richter fuer sich einnehmenden Charakter ist, mit dem Staat nach der Gebuehrenordnung abrechnen kann oder weil er mit diesem Verfahren, das die Oeffentlichkeit seit Monaten ueber Gebuehr beschaeftigt, das an allen Stammtischen lautstarke Auseinandersetzungen provoziert hat, das in allen regionalen Medien so breit getreten worden ist, dass die meisten nichts mehr davon hoeren wollen, bei entsprechend behutsamem Vorgehen auf einen Schlag in die Riege der lokalen Anwaltsprominenz aufsteigen koennte, sondern auch und in erster Linie, weil er von meiner Unschuld ueberzeugt ist (oder, bis gestern jedenfalls, war) und davon, dass ich in Gefahr schwebe, das Opfer eines Justizirrtums zu werden. Der Vernehmungsraum geht nach vorne hinaus und ist streng weiss getuencht. Er hat keine Fenster, und zwar erstens, damit sich keiner ablenken laesst, und zweitens, damit ein Vernommener, dem allzu sehr zugesetzt wird, nicht auf die Idee kommt, hinaus zu springen. Im Vernehmungsraum kann, obzwar sie mir gelegentlich, wenn sie meinen, eine wichtige oder zumindest verwertbare Information erhalten zu haben, eine Zigarette genehmigen, von Wohlfuehlen keine Rede sein. Im Vernehmungsraum herrscht unbeirrbar der angemessene Ernst; herrscht eine bedrueckende, schon fast an Noetigung grenzende Athmosphaere. Vor den Vernehmungen habe ich Angst. Die Kommissare sitzen mir gegenueber und schiessen ihre Fragen auf mich ab. Wie die Geier stuerzen sie sich auf die kleinste Unregelmaessigkeit, das kleinste Zoegern, das sie in meinen Antworten zu bemerken meinen. Sie benehmen sich wie Vorgesetzte, die einen Mitarbeiter nicht leiden koennen und aus Prinzip an allen seinen Arbeiten herum maekeln - mit dem Ziel, ihn aus der Firma zu mobben. Und nur der Gedanke an die unerschuetterliche und gelassene Heiterkeit meines Verteidigers, der mir zwischendurch immer wieder Mut zuspricht, erhaelt mich aufrecht. Leider hat dieser, wie ich am Rande unserer heutigen Besprechung bemerkt habe, nunmehr das Vertrauen in mich verloren. Er hat es mir zwar nicht ins Gesicht gesagt. So ist er nicht, dass er einem so etwas direkt auf die Nase binden wuerde. Ein gewisser schraeg geschnibbelter Tonfall, ein gewisses veraechtliches Flackern in den Augen, da wusste ich, er hat mit dem Staatsanwalt eine Unterredung gehabt, und diesmal hat ihn irgend etwas, was der Bloedmann gesagt hat, ein neues Indiz vielleicht oder ein Gesichtspunkt, der ihm in neuem Licht erschienen ist, von meiner Schuld ueberzeugt. Hat Vorbehalte meiner Persoenlichkeit gegenueber, die vorher nur in ihm geschlummert haben - wenn sie ueberhaupt vorhanden waren - ploetzlich zum Ausbruch gebracht. Meine Persoenlichkeit ist, wie ich bereitwillig eingestehe, keine einfache; meine Handlungen lassen sich mit dem gesunden Menschenverstand nicht immer nachvollziehen; und auch mit der Logik nicht. Ebenfalls gehoere ich nicht zu denen, die Kalender ueber ihre Aktivitaeten fuehren und noch nach Jahren wissen, was sie an dem und dem Tag gemacht haben. Ich habe nicht gewagt, ihn auf die Veraenderung direkt anzusprechen. So bin ich nicht, dass ich unsere Moral durch Zweifel an ihm zersetzen wuerde. Er wuerde seine Befangenheit sowieso abstreiten, da bin ich mir sicher. Was hat denn der Staatsanwalt in der Hand, nicht wahr, dass es Grund fuer Befangenheit geben koennte? Der Staatsanwalt kann meines Erachtens, und das habe ich auch den beiden Kommissaren mitgeteilt, nur zweierlei gegen mich ins Feld fuehren: seine betraechtliche rhetorische Begabung und seinen akademischen Grad, der, zu meinem Nachteil, mit dem des Verteidigers auf du und du steht. Alles andere, was sie an ... Devotionalien, sage ich mal, gesammelt haben, buergt zwar fuer das Vorliegen eines Verbrechens, beweist aber meine Taeterschaft genauso wenig wie die Intrigen des Staatsanwaltes, dessen Vorgehen man keinesfalls billigen sollte. Oder irre ich mich? Besteht seine Hauptaufgabe darin, einen inkriminierten, jedoch das Schuldbekenntnis hartnaeckig verweigernden Delinquenten, von dessen Taeterschaft man intuitiv hundertprozentig ueberzeugt ist, mit allen Mitteln der psychologischen Kriegfuehrung klein zu kriegen? Freunde und Vertraute des Beschuldigten bei Gelegenheit solange voll zu quatschen, bis sie den Glauben an ihn verlieren, und ihm dies, wenn nicht bewusst und offen, so doch durch ein reserviertes und ihn sittlich verunsicherndes Verhalten zu verstehen geben? Die Tatsache, dass sich, nach den wenigen anderen, auf die ich zaehlen zu koennen glaubte, nun sogar mein Verteidiger von mir abwendet, ich meine gefuehlsmaessig, nicht nach dem Wortlaut der Akten, in denen er nach wie vor die Unschuldsvermutung vertritt, hat mir doch sehr zu denken gegeben; hat mir einen Stoss versetzt, von dem ich mich so leicht nicht erholen werde. Ich fuehle mich schwach und wehrlos. Meine Willenskraft ist perdu; jegliche Verteidigungsbereitschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammen gesackt. Der Staatsanwalt hat sein Ziel erreicht. Ich bin dann in meine Zelle zurueck gebracht worden, habe mir, nach kurzer eingehender Ueberlegung, aus meinem weichen Bettzeug einen Strick gebunden und mich am linken der beiden in ziemlicher Hoehe befindlichen Fenster aufgehaengt, und kann nun, von da oben, mein bisheriges Leben in seiner ganzen Bescheidenheit gut ueberblicken. Im uebrigen warte ich darauf, dass man mich abnimmt und zu den anderen ungeklaerten Faellen legt. ################Dateiende###########################